Pop: So frei, gerade jetzt
Warum eigentlich immer expandieren? Sarah Palins erstes Soloalbum als Palinstar ist ein Wurf.

Passiert so selten: Von der Bühne kommen Songs, die du kennst, aber alles aus dem Moment gespielt, so gar nicht vorformatiert. Zwei Menschen nur, elementare Rockbesetzung: Gitarre, Gesang, Schlagzeug. Nichts, was man noch mal ganz neu entdecken könnte, oder? Offenbar doch: Alles absolut gegenwärtig hier, bei Palinstar alias Sarah Palin und dem Schlagzeuger Hannes Prisi im «Helsinki» in Zürich. Sehr luftig spielen die beiden, manchmal laut, aber mehr filigran als brachial. Und so frei, als würden sie diese Songs gerade jetzt erst erfinden und sich laufend selber überraschen dabei. (Tun sie vielleicht tatsächlich.)
Drei Wochen später, eine Strasse weiter. Sarah Palin sitzt auf dem Sofa in ihrem Proberaum in der Zentralwäscherei. «Ich hatte nie das Bedürfnis, meine Songs eins zu eins nachzuspielen», sagt sie. «Das interessiert mich nicht, musikalisch.» Was sie interessiert am Livespielen, erklärt sie mit einem komischen Vergleich. Ein Konzert sei für sie wie eine Wurst: «Es hat einen Anfang und ein Ende. Und dazwischen viele verschiedene Geschmacksinseln.»
Bis die Gitarre entgleist
So gesehen ist auch «Backtrain Places», das überragende Solodebüt von Palinstar, wie eine Wurst. Der Anfang? Ziemlich unspektakulär, zwei Akkorde auf der Gitarre, dann stimmt dieser Gesang ein, aufreizend lässig und mit einer Art Trennungsangebot: «It’s Time». Wenn du gehen willst, wenn dir unwohl ist und du jetzt lieber woanders wärst: nur zu. Aber klar, selber schuld, wer das Angebot annimmt. Der Song ist keine Minute alt, da kommt etwas Latin-Perkussion dazu, später Harmoniegesang, Handclaps, sogar eine Harfe – bis diese ganze Easy-Listening-Seligkeit von einer entgleisenden Gitarre ausgebremst wird.
Machen wirs kurz: grosses Album. Stilistisch vielleicht nicht bahnbrechend, aber ungemein frei unterwegs auf dem weiten Feld zwischen Grunge und Americana. Die Gitarre gern am Schlingern, der Gesang ähnlich warm schattiert wie bei Sharon Van Etten in ihren besten Momenten. Ein Song hebt an mit einer Melodie zum Niederknien, aber nach zwei Strophen sabotiert er sich gleich selbst, und nach weniger als anderthalb Minuten ist auch schon fertig. Ein anderer Song, Herzstück des Albums oder besonders epische Wurst, schlängelt sich auf über acht Minuten durch mehrere Teile. So freihändig, wie sie mit Songstrukturen umgeht, macht sich Palinstar auch die Popweltsprache zu eigen, indem sie manches ungeniert wörtlich auf Englisch übersetzt: vom Schüttelfrost («Shaking Frost») bis zu den Rückzugsorten des Albumtitels («Backtrain Places»).
Es hat aber seine Zeit gebraucht, dieses Album. Sarah Palin, heute 38, ist schon lange nicht mehr wegzudenken aus der hiesigen Musikszene. Geboren als Sarah Vieth, den Namen Sarah Palin, nach der gleichnamigen US-Republikanerin, hat sie einst als Witz von Big Zis verpasst bekommen. Der Übername ist hängen geblieben, über viele Bands hinweg. Als Sarah Palin spielte sie Bass bei der New Yorker Band Boytoy und bei Kush K, spielte Schlagzeug bei Phil Hayes & The Trees und bei One Sentence Supervisor. Ihr erstes Instrument aber war ein anderes: Sie hat Geige gelernt, «wie man das so macht als Schweizer Mittelstandskind». Zur Gitarre fand sie als Teenager, als sie Ani DiFranco entdeckte: ihr erstes queeres Vorbild damals, im straighten Zürcher Oberland.
Wozu eine Band?
Und jetzt, nach Jahren in anderen Bands, also endlich ein Album mit eigenen Songs. Sie habe da erst hineinwachsen müssen, sagt sie: «Ich hatte mich lange nicht getraut. Also in meinem Unterbewusstsein schon, aber damit hatte ich nichts zu tun.» Von Sarah Palin zu Palinstar: keine Kunstfigur, aber doch eine eigene künstlerische Persona. Sie selbst, bekennender Star-Wars-Fan, nennt Palinstar ein Paralleluniversum. Das Album hat sie mit Mario Hänni und einer ganzen Reihe von Gästen aufgenommen. Und weil die Aussicht, diese Songs solo zu spielen, ihr doch auch Angst machte, versuchte sie zuerst, sich für ihre Auftritte als Palinstar mit einer Band zu verstärken. Bis sie irgendwann merkte: «Leute dazuzuholen, nur um die Angst zu verlieren? Das kanns doch nicht sein. Warum haben wir immer das Gefühl, wir müssten expandieren?»
Stattdessen also: Degrowth. Reduktion aufs Maximum, nur zu zweit, mit dem Bieler Hannes Prisi am Schlagzeug, mit dem sie seit zehn Jahren immer wieder gespielt hat, früher als Palin & Panzer. Im «Helsinki» merkt man: Da fehlt gar nichts. «Organisierte Ungewissheit» nennt Sarah Palin das, was sie mit Prisi auf der Bühne sucht: Die Songs bieten ihnen die Ordnung und Struktur, um in aller Freiheit aufeinander reagieren zu können. Das eine oder andere Konzert werden sie dann doch im Trio bestreiten. Und wer stösst dazu? Eine zweite Gitarre, eine Bassistin, ein Keyboarder? Nein, es ist der Österreicher Alex Kranabetter, der spielt Trompete. Sarah Palin ist es offensichtlich ernst, wenn sie sagt, es müsse menschlich stimmen, das sei alles: «Wenn es passt, ist mir scheissegal, was für ein Instrument gespielt wird.»
«I’m a name, I’m a melody», singt Palinstar in «Déjà-vu», einer phänomenal schleppenden Hymne zwischen Euphorie und Depression. Und dann, als ob sie sich gut zureden müsse: «I’m not very unnecessary.» Nicht sehr unnötig? Untertreibung des Jahres.

Konzerte: Lausanne, Festival de la Cité, Di, 1. Juli 2025; Feldkirch, Poolbar Festival, Mi, 2. Juli 2025; Bern, Café Kairo, Gartenfestival, Fr, 4. Juli 2025. Weitere Daten siehe palinstar.bandcamp.com.