Die Welt dreht sich: Roland Barthes in Uri

Nr. 3 –

Rebecca Gisler über Wahres und Falsches

Anfang Januar verbrachten meine Tante und ich eine Nacht in Isenthal im Kanton Uri. Unser Plan war es, uns mit dem Ort auseinanderzusetzen, aus dem unsere Familie stammt und dem ich seit längerer Zeit ein Schreibprojekt widmen möchte. Um mich auf diesen sehr kurzen Aufenthalt vorzubereiten, hatte ich mir in der Woche davor drei Sagenbände aus der Zentralbibliothek in Zürich ausgeliehen: 1600 kurze Erzählungen, die zwischen 1903 und 1925 von Pfarrer Josef Müller im Kantonsspital Uri gesammelt wurden. Die umfassendste Sagensammlung des Alpenraums.

Als wir mit der Seilbahn auf der Alp ankommen, auf der wir die Nacht verbringen werden, müssen wir wegen des starken Windes auf den geplanten Schneespaziergang verzichten. Die Alp scheint verlassen zu sein. Die einzige sichtbare Bewegung kommt vom Schlepplift, dessen Seil im Wind schwankt. Die Wirtin des Gasthauses, deren einzige Gäste wir sind, lädt uns ein, in der «guten Stube» Platz zu nehmen, sie müsse noch staubsaugen und das Zimmer vorbereiten.

Statt unsere Recherchen draussen zu verfolgen, verbringen wir den Rest des Tages im Gasthaus. Dort studiere ich an diesem potenziellen Schreibprojekt rum, wobei ich an Roland Barthes’ «Vorbereitung des Romans» denken muss. In den Vorlesungen, die Barthes von 1978 bis 1980 am Collège de France gehalten hatte, geht er der Frage nach, wie man vom Schreibenwollen zum Schreibenkönnen gelangt. Im Kapitel über «die Wahrheit» verfolgt er den Gedanken, dass einen Roman zu schreiben im Grunde bedeutet, zu lügen, und dass man derart lügen muss, dass sich das Wahre und das Falsche vermischen, um Zugang zur fabulierenden Fantasie zu erhalten.

Früher wurden Sagen und Legenden vor allem im Winter an langen Abenden erzählt. Sie dienten sowohl der Unterhaltung als auch der Belehrung und wahrscheinlich auch dazu, das Leben im kalten Winter erträglicher zu machen. Meine Tante und ich beschliessen, das Gleiche zu tun, und lesen uns gegenseitig die Sagen vor. Eine der Geschichten erzählt von einer jungen Frau, die bei einem fürchterlichen Sturmwetter auf einen Berg wandert. Ein Student, der ebenfalls unterwegs ist, trifft die fein gekleidete Frau und fragt sie, was sie bei diesem schrecklichen Wetter draussen mache. Worauf sie ihm erklärt, dass sie aus Paris komme, wo sie soeben gestorben, aber ihre Leiche noch nicht erkaltet sei, deshalb müsse sie nun wandeln.

Ohne das Klischee bedienen zu wollen, dass es ein französisches Phänomen sei, einen Hang zur Lüge zu haben, möchte ich doch Roland Barthes’ Gedanken über die unverkrampfte Lüge, die zu einem fruchtbaren fiktionalen Material führen kann, zustimmen und entsprechend meinem ersten Gedanken folgen, dass die junge Frau den Studenten angelogen hatte, um in Ruhe weiterspazieren zu können. Der Schritt zur Vorstellung liegt nahe, dass der Student später im Dorf vom Vorfall berichtet hat und dass dadurch die Sage der «vornehmen Pariserin» entstanden ist.

Durch eine Lüge hat die junge Frau die Realität in den Bereich der Fiktion verschoben. Vielleicht würde mir, anders als erwartet, nicht die Realität des Ortes zur Fiktion verhelfen, sondern die Fiktion, dieses grosse Reservoir an wunderbaren Unwahrheiten, zu einer möglichen neuen Realität.

Rebecca Gisler ist Autorin.