Randregionen: Auf los gehts mit Vollgas durch den Lawinenhang
Randregionen aufgeben, weil sie nicht mehr rentieren – das fordern Neoliberale seit Jahren. Zum Beispiel der Thinktank Avenir Suisse, der Ende Januar eine entsprechende Studie präsentiert. In einer Region wie Wassen im Kanton Uri kommen solche Ideen schlecht an.
Auf einer Anhöhe im Urner Reusstal liegt das berühmte «Chileli» von Wassen. Zugreisende sehen es aus drei verschiedenen Perspektiven, weil sich hier der Zug in Kehren hinauf zum historischen Gotthardbahntunnel schraubt. Im Sommer brettern AusflüglerInnen mit Autos und Motorrädern durch Wassen, nun im Winter ist es ruhig. Einige Leute sind mit Einkaufstaschen unterwegs. Im Dorfzentrum stehen ein paar schöne Holzhäuser, das Schulhaus und das sogenannte Antoninihaus sind dagegen aus Urner Granit gebaut. Einkehren kann man in der «Krone», im Hotel Gerig oder im «Hirschen». Die «Alte Post» steht zum Verkauf, der «Alpenhof» schliesst Ende 2017.
«Blindes Ansubventionieren»
Beim Volg-Laden wartet Kristin T. Schnider. Vor rund zwanzig Jahren zog sie von Zürich in das Bergdorf, seit zwei Jahren ist sie Gemeindepräsidentin. Eine Dorfchefin wie sie gibt es kaum nochmals in der Schweiz. Schnider ist Schriftstellerin, in London geboren. Ihr Amtsantritt war ein Sprung ins kalte Wasser. Mittlerweile kennt sie sich aber auch in der Prosa der Wasserversorgung oder der Parkplatzbewirtschaftung aus.
Beim Gang durch Wassen spricht sie über die Herausforderungen. «Das Aussterben des Dorfes ist unser grosses Thema, das beschäftigt mich schon lange. Wir verlieren Menschen und Arbeitsplätze.» Die Schule ist ein Symbol dafür. In Wassen reicht es nur noch für eine dritte und vierte Klasse, die anderen Kinder müssen Klassen in den Nachbargemeinden Gurtnellen und Göschenen auffüllen. In der Not haben die Gemeinden eine gemeinsame Kreisschule gegründet. Aber später wandern die Jungen ab, weil sie hier keine Zukunft sehen. Die Gemeinde überaltert. Schnider zeigt auf die Weihnachtsdekoration entlang der Strasse: Kränze, Tannen und Kerzen, gebastelt von den SchülerInnen und von Frauen im Dorf, nachdem die Gemeindeversammlung das Fehlen von Weihnachtsschmuck kritisiert hatte. Für die EinwohnerInnen sei das eine metaphorische Geschichte, sagt Schnider. Sie bedeute: «Wir sind noch da, wir sind kein dunkles verlassenes Dorf, uns gibt es noch.» Das ist die Welt von 343 WassenerInnen.
Für andere ist das eine Welt ohne Bedeutung. Etwa für Hotelleriesuisse-Präsident Andreas Züllig aus Lenzerheide GR. Letzten Sommer konnte man in der «SonntagsZeitung» seine Meinung lesen: «Wir können nicht mehr jedes Tal mit dem öffentlichen Verkehr erschliessen, Brücken bauen für 200 Einwohner.» Daniel Müller-Jentsch vom Thinktank Avenir Suisse stimmte ihm zu: Man müsse das Geld in Tourismusdestinationen mit wirtschaftlichem Potenzial investieren. «Falsch ist, den Schrumpfungsprozess in peripheren Lagen durch blindes Ansubventionieren aufzuhalten.» Müller-Jentsch präzisiert gegenüber der WOZ: «In sich entleerende Seitentäler sollte man nur noch ausnahmsweise Investitionen mit langen Lebenszyklen tätigen.» Ende Januar veröffentlicht Avenir Suisse eine Studie zum Strukturwandel im Berggebiet.
Schnider hat von den Ideen des Thinktanks gelesen. «Bergregionen sterben lassen», sagt sie dazu, «heisst Menschen überflüssig machen. Aber wenn man den Menschen hier den Schnauf abdreht, sind sie vielleicht aus den Augen, aber verschwunden sind sie nicht.»
Das Avenir-Suisse-Szenario passt massgeschneidert auf das Meiental, das zur Gemeinde Wassen gehört. Im Dorf zweigt die gut ausgebaute Sustenstrasse in dieses Seitental ab. Nach ein paar Tunnels und Kurven öffnet sich das rund vier Kilometer lange Tal, das sanft Richtung Sustenpass ansteigt, flankiert von schroffen Bergen. Wildromantisch sei es hier, sagen die MeientalerInnen. Im Sommer blühen Stängelloser Enzian und Alpenrose, das Meiental ist ein Paradies für Wanderer und Mountainbikerinnen oder Ausflügler, die ins Berner Oberland hinüberfahren. Zwei SAC-Hütten empfangen Gäste, die Alp Hinterfeld lädt zum Molkebad ein. Aber im Winter ist die Passstrasse gesperrt, und so stolpert man nur über gefrorene Böden. Auf Verlangen fährt ein Rufbus ins Tal, und wer sich aufwärmen möchte, findet auf Voranmeldung ein Gästehaus oder vielleicht eine Bauernhofbeiz.
Notfallmappen bei Lawinengefahr
Neun Familien und ein paar Einzelpersonen leben hier in fünf Weilern, sechzig Menschen insgesamt, es werden von Jahr zu Jahr weniger. Die Schule im Meiental wurde schon 2002 geschlossen. Elf SchülerInnen fahren nun mit dem Schulbus hinunter zur Kreisschule ins Reusstal. Hinzu kommen sieben PendlerInnen, die im Unterland arbeiten. Im ehemaligen Schulhaus probt der Kirchenchor, hier kommen die MeientalerInnen zusammen für den Kilbi- und Fasnachtstanz, für Tal- und Genossenschaftsversammlungen, die Jungen treffen sich im Jugendraum mit Töggelikasten.
Landwirt Josef Baumann steht an der Sustenstrasse zwischen den Weilern Husen und Meiendörfli. Er trägt schwere Gummistiefel, robuste Arbeitshosen und einen dicken Faserpelz, gespickt mit Holzspänen. Er kommt vom Holzen am Ufer der Meienreuss. Baumann ist Präsident der Vereinigung Pro Meien, die seit 35 Jahren für den Erhalt des Meientals kämpft. In seinem Stall stehen acht Kühe und siebzig Schafe. Er zeigt auf eine etwa einen Kilometer breite Bergflanke. «Wenn wir viel Schnee haben, kommen hier an sieben verschiedenen Stellen Lawinen ins Tal. Sie bedrohen uns und verschütten immer wieder die Strasse.» Viel Schnee, das heisst im Meiental auf rund 1350 Metern mindestens einen Meter, oft ist es mehr. Wenn die Lawinen drohen, wird die Strasse gesperrt. Dann sind die MeientalerInnen von der Aussenwelt abgeschnitten, manchmal ein paar Tage, manchmal über Wochen.
Beim Mittagessen bei Baumanns sitzt auch die elfjährige Tochter Manuela am Küchentisch. Sie erzählt, was das für die Kinder bedeutet. «Wenn die Lawinengefahr kommt, verteilt uns die Lehrerin Notfallmappen, damit wir zu Hause selbstständig am Schulstoff arbeiten können.»
Josef Baumann bringt den Dauerbrenner im Tal aufs Tapet, die Notfallstrasse, auf die die MeientalerInnen seit dreissig Jahren warten. Es geht um eine Tunnelverbindung unter der Lawinenzone hindurch. 1987 wurde sie in einer kantonalen Abstimmung beschlossen, doch gebaut wurde sie nie. Vor rund zwei Jahren kam das definitive Aus. Der Urner Landrat, das Kantonsparlament, entschied, die Kosten von fünfzehn Millionen Franken seien unverhältnismässig hoch. «Der Kanton lässt uns im Stich», ärgert sich Josef Baumann. Es sei ein Teufelskreis. «Wenn wir nicht sicher erreichbar sind, können wir uns nicht entwickeln.» Wenn er von den Ideen von Avenir Suisse hört, lüpft es ihm den Hut. «Die hocken in ihren warmen Büros in Zürich und entziehen uns die Lebensgrundlagen, damit wir fortmüssen.» Aber so schnell gebe man nicht auf: «Wer etwas anderes glaubt, kennt uns Urner schlecht.»
Seit dem Nein zur Notstrasse offeriert die Urner Regierung den MeientalerInnen Helikopterflüge nach Hause, wenn die Strasse gesperrt ist. Dieser Dienst steht auch dem Hausarzt, der Spitex und der Hebamme sowie in dringenden Fällen dem Tierarzt und dem Besamer zur Verfügung. Doch in den letzten beiden Jahren waren die Winter mild oder das Wetter zu schlecht zum Fliegen.
Andermatt gehätschelt, Wassen vergessen
Manchmal fahren die MeientalerInnen trotz Lawinengefahr über das gefährliche Strassenstück. Mit dem Handy am Ohr beobachtet einer die Bergflanke, die andern warten im Auto. Auf los gehts los mit Vollgas. Doch bei den Kindern gehen die MeientalerInnen kein Risiko ein. Sie werden rechtzeitig aus der Schule geholt, wenn Lawinen drohen. «Wenn ihnen etwas passieren würde, hätten wir im ganzen Meiental keine Kinder mehr», sagt Pia Baumann. Auch sie hat diesen Familiennamen, im Meiental heissen fast alle Baumann.
Sie und ihr Mann Alois sitzen in der Küche, eine Thermoskanne mit Kaffee steht auf dem Tisch. Pia Baumann ist Bergbäuerin und Lehrerin, Alois Baumann besorgt den Hof mit neun Kühen und 120 Schafen. Zwei Kinder sind schon ausgeflogen, der jüngste Sohn wird den Hof übernehmen. «Scheinbar rentieren wir nicht», sagt Alois Baumann, «doch man vergisst, dass unsere Direktzahlungen auch zum Schreiner oder zum Landmaschinenmechaniker im Tal unten fliessen.»
Aber eigentlich sei das, was Avenir Suisse für Randregionen vorsehe, hier im Meiental schon längst Realität, sagen die MeientalerInnen. Sie reden von der Raumpolitik im Kanton Uri, und da weitet sich der Blick aus dem kleinen Tal hinaus. Die Urner Regierung hat im Kanton zwei Entwicklungsschwerpunkte definiert: die Agglomeration Altdorf und Andermatt mit dem Swiss-Alps-Resort des Investors Samih Sawiris. Das wird intensiv gehätschelt. Für die Skiarena Andermatt-Sedrun, die dem Luxusresort auf die Beine helfen soll, fliessen 48 Millionen Franken aus dem Fördertopf der NRP, der Neuen Regionalpolitik (siehe WOZ Nr. 24/2015 ).
In Wassen reagiert die Gemeindepräsidentin mit Skepsis. «Wir erleben eine neue Kolonisation der Alpen», sagt Schnider. «Nur sind es jetzt nicht mehr die ersten Siedler wie einst, sondern die grossen Investoren, es herrscht das Primat der Konzerne.»
In ihrer Gemeinde sind noch nie NRP-Fördergelder angekommen. Regierungsrätin Heidi Z’graggen (CVP), für die Raumplanung in Uri verantwortlich, sagt: «Wir verfolgen in den ländlichen Gemeinden keine Entleerungsstrategie, aber wir müssen auch für diese Gemeinden Promotoren suchen, damit wir Fördergelder auslösen können.»
Jemand müsste also ein Entwicklungsprojekt ausarbeiten – doch keins ist in Sicht, und die BerglerInnen sind verunsichert, weil nicht klar ist, wie es langfristig mit der Eisenbahnbergstrecke weitergehen soll. Wassen und den andern Gemeinden im oberen Reusstal ist bloss eine «Komplementärfunktion» zugedacht: Gemäss einem Projekt der Urner Regierung und der Hochschule Luzern sollen leere Wohnungen saniert und preisgünstig an ArbeitnehmerInnen des Luxusresorts in Andermatt vermietet werden.
Doch bis jetzt funktioniert das 2015 gestartete «Modellvorhaben» nicht. «Es tröpfelt bloss», sagt Gemeindepräsidentin Schnider. Sie kritisiert das Vorgehen. «Die ExpertInnen sollten zuerst mit der lokalen Bevölkerung reden, bevor sie uns ihre wohlmeinenden Konzepte über den Kopf stülpen.» Das sieht CVP-Ständerat Isidor Baumann ähnlich. «Die Idee ist gut gemeint, aber sie sollte nicht überschätzt werden.»
Die Vorfahren von Isidor Baumann stammen aus dem Meiental. Nun lebt der Politiker in einem Dorfhaus in Wassen. Auch er kennt die Ideen von Avenir Suisse – und hält gar nichts davon. «Ich kann nicht verstehen, dass man Bergtäler mit ihrer Bevölkerung als Last empfindet.»
Es sei ein grundsätzlicher Fehler, die wirtschaftliche Entwicklung nur in die urbanen Zentren zu lenken, wo sich in der Folge die Probleme verdichteten, die mit viel Geld wieder gelöst werden müssten. «Man muss auch in die dezentralen Siedlungsräume investieren, alle in der Schweiz haben das Anrecht auf eine Grundversorgung.» Im Meiental und in Wassen seien die Leute eigentlich zufrieden, meint Baumann, über ihre Zukunft müssten sie aber selber entscheiden können.
Ein Haus als Hoffnung
Bei aller Kritik an den Belehrungen von aussen – im Urner Oberland gibt es auch Selbstkritik. Laut äussert sich niemand, dafür sind die Dorfgemeinschaften viel zu klein. Man starre auf die Brosamen, die vielleicht einmal vom Tisch der Reichen in Andermatt fallen, ist zu hören, oder man warte auf den Bau der zweiten Strassenröhre am Gotthard, weil dann ausländische Arbeiter kämen, denen man die Quellensteuer abzwacken könne. Es gebe viel zu wenig Zusammenarbeit innerhalb und zwischen den Gemeinden und zu wenig Ideen für eine eigenständige Entwicklung, so eine weitere Kritik.
Für den Anfang müsste man gar nicht weit suchen, sagen verschiedene GesprächspartnerInnen: Es hätte Platz für neue KMUs, etwa für Handwerksbetriebe. Nicht alle geben auf. Einer von ihnen ist Nicolas Etter im Meiental. Er ist Bankangestellter, war im Wassener Gemeinderat und ist heute noch in der Rechnungsprüfungskommission tätig. Er wohnt im Meientaler Weiler Kapelle, wo sich überwiegend alte Häuser um ein kleines Gotteshaus ducken. Fast alle stehen leer. Etter bittet in sein Haus. Beim Eintreten muss man sich bücken und steht sogleich im Wohnzimmer. Früher war das eine Gaststube, geführt von seiner Mutter. Etter ist im Meiental aufgewachsen und lebt immer noch hier, an Wochenenden auch gemeinsam mit seiner Familie, die gegenwärtig noch auswärts wohnt. Auf dem Stubentisch faltet er einen grossen Bauplan auseinander. Nicolas Etter hat gleich nebenan zwei alte Häuser gekauft. Diese will er abreissen und durch ein Doppelhaus für zwei Familien ersetzen. Es sollen moderne Wohnungen mit Komfort entstehen, die für NeuzuzügerInnen attraktiv sind. Nicolas Etter ist ganz aus dem Häuschen. «Ein Geschäft wird das nie, eine Rendite werde ich kaum erwirtschaften», sagt er, «aber ich tue es trotzdem.» Er habe Glück gehabt im Leben. «Mir geht es gut, und darum kann ich mir so ein idealistisches Projekt leisten.» Er wolle zur Erhaltung des Meientals beitragen, mithelfen, das Tal am Leben zu erhalten. «Warum soll ein so wunderschönes Tal keine Chance haben? Der Kanton hilft uns nicht, also müssen wir das selber anpacken.» Man brauche einen offenen Geist und neue Ideen, sagt er, springt auf und legt die Hand aufs Herz. «Ich hoffe, dass es gelingt.»