Nach der Flucht aus Bergkarabach: Obdach im alten Spital

Nr. 51 –

Für die mehr als 100 000 Vertriebenen aus Bergkarabach ist der Neuanfang schwer, denn in Armenien sind Wohnraum und psychologische Hilfe knapp.

Armine Sargsyan und ihr dreijähriger Sohn
«Bis heute hat er Angst, wenn es regnet»: Armine Sargsyan und ihr dreijähriger Sohn.

Von ihrem alten Zuhause ist Larissa Davtyan nicht viel mehr geblieben als ein Glas voll Erde. Mit der Hand kratzte sie die 21-Jährige hastig zusammen. Sie erinnert Davtyan an den Gemüsegarten ihrer Familie, der ihnen beim Überleben geholfen hatte. Im vergangenen Dezember hatte Aserbaidschan eine neun Monate dauernde Blockade verhängt, um die Bevölkerung Bergkarabachs auszuhungern. In dieser Zeit teilte Larissa Davtyans Familie alles Essbare mit den Nachbar:innen in Stepanakert. Als es kein Gas mehr für den Herd gab, kochten sie gemeinsam im Garten über offenem Feuer. Dann, am 19. September, griff Aserbaidschan Bergkarabach an. Wie Zehntausende andere auch, entschied sich die Familie zur Flucht.

«Als wir den letzten aserbaidschanischen Checkpoint passiert hatten, fing ich an zu weinen, und gleichzeitig war ich erleichtert», sagt Larissa Davtyan, die ihren echten Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte. Zwei Monate nach der Flucht aus ihrer Heimat sitzt sie im Wartezimmer von Frontline Therapists, einer NGO in Armeniens Hauptstadt Eriwan, die Geflüchteten kostenlos psychologische Hilfe anbietet. An der Wand hängt ein bunter Kreis mit Dutzenden Wörtern: «verwirrt», «enttäuscht», «nervös» ist darin etwa zu lesen. Der Kreis soll Patient:innen helfen, ihre Gefühle auszudrücken. Wenn man Davtyan danach fragt, wie es ihr geht, muss sie lange überlegen. «Ein Teil von mir ist in Arzach geblieben», antwortet sie schliesslich.

Bilder des Schreckens

Arzach – das ist Armenisch für Bergkarabach und zugleich Name des kleinen De-facto-Staates, der in den rund dreissig Jahren seines Bestehens von der Welt nie anerkannt wurde. Nach dem Exodus der etwa 100 000 Armenier:innen im Herbst wird Arzach zum 1. Januar 2024 offiziell aufgelöst werden. Damit endet vorerst die jahrhundertealte armenische Geschichte in dem umkämpften Gebiet, in dem zwei Grundprinzipien des Völkerrechts bis zuletzt aufeinanderprallten: das Selbstbestimmungsrecht der armenischen Mehrheit und das Recht auf territoriale Unversehrtheit Aserbaidschans, dem Bergkarabach unter der Sowjetherrschaft als autonome Region zugesprochen worden war.

Wenngleich die armenische Unterstützung der Vertriebenen aus Bergkarabach gross ist, stellt deren Integration den kleinen Kaukasusstaat mit seinen 2,8 Millio­nen Einwohner:innen vor eine gewaltige Aufgabe. Vor allem in Eriwan ist der Wohnraum knapp. Der Zuzug Tausender Geflohener aus Russland und aus der überfallenen Ukraine hatte bereits die Mieten in die Höhe getrieben.

Die Armenier:innen aus Karabach müssen sich nun neu orientieren. Vielen fehlt die Kraft dazu, denn sie haben nicht nur ihre Heimat verloren, sondern bei der Vertreibung auch grosses Elend erlebt. «Auf der Flucht habe ich schreckliche Dinge gesehen», sagt Davtyan. So seien Menschen vor Erschöpfung und Hunger zusammengebrochen und gestorben. Bilder, die sie nicht vergessen kann. Deswegen habe sie sich für eine Therapie entschieden. Die meisten Menschen aus Arzach hätten die Phase des Schocks und des Nicht-wahrhaben-Wollens mittlerweile überwunden, sagt ihre Therapeutin Aida Taroyan. «Nun geht es darum, Trauer und Schmerz zuzulassen.» Doch das Angebot im Land ist begrenzt. Bei Frontline Armenia gibt es nur zwei Therapeut:innen; die Warteliste ist lang.

Umgekehrte Verhältnisse

Rund vierzig Autominuten nördlich von Eriwan ist Heilung für die Geflohenen noch in weiter Ferne. Hier liegt inmitten von Bergen Tscharenzawan, eine triste Industriestadt mit hohen Wohnklötzen, in deren Innenhöfen Wäsche an voll beladenen Leinen weht. Seit dem Zerfall der Sowjetunion und der damit einhergehenden Eskalation im Bergkarabachkonflikt ist die Kleinstadt ein Zufluchtsort: 1990 waren es Armenier:innen aus Aserbaidschans Hauptstadt Baku, die angesichts beidseitiger Pogrome und Vertreibungen im Zuge des ersten Karabachkriegs in Tscharenzawan ein neues Zuhause fanden. Damals riefen die Karabacharmenier:innen ihre Unabhängigkeit aus. Im zweiten Krieg 2020 kehrten sich die Machtverhältnisse um. Aserbaidschan eroberte einen Grossteil der De-facto-Republik Arzach zurück und bekam nach dem von Russland vermittelten Waffenstillstand sieben umliegende Gebiete zugesprochen, die unter armenischer Kontrolle gestanden hatten. Wieder kamen viele Familien in Tscharenzawan unter. Seit September sind es nun 2900 Menschen, die in der Kleinstadt und den umliegenden Dörfern Zuflucht gefunden haben, häufig bei Verwandten.

die Kleinstadt Tscharenzawan
Inmitten von Bergen liegt Tscharenzawan. Seit dem Zerfall der Sowjetunion ist die Kleinstadt ein Zufluchtsort für Geflüchtete aus Karabach.

Vier Familien, die bislang kein Obdach haben, leben in einem alten Spital. In der zweiten Etage bittet Armine Sargsyan in ihr Zimmer. Im kleineren der beiden Betten schläft ihre anderthalbjährige Tochter, ihr dreijähriger Sohn spielt auf einem Teppich. Als Aserbaidschan im September Sargsyans Heimatstadt Stepanakert bombardierte, habe sie ihrem Sohn erzählt, dass es nur der Regen sei, der gegen die Fensterscheibe prassle. «Bis heute hat er Angst, wenn es regnet», sagt sie. Wie die meisten der Vertriebenen träumt die 33-Jährige davon, irgendwann nach Bergkarabach zurückzukehren. Aber unter der Kontrolle Aserbaidschans sei das nicht möglich; das Misstrauen ist nach jahrzehntelanger Feindschaft zu gross.

In Bergkarabach arbeitete Sargsyan als Apothekerin, ihr Mann als Automechaniker. Er habe bereits einen neuen Job in Eriwan gefunden. Doch der Lohn reiche nicht für eine eigene Wohnung, selbst nicht mit finanzieller Hilfe. Mit einmalig rund 240 Franken pro Person hat die armenische Regierung die Geflüchteten unterstützt und zahlt seitdem für die ersten sechs Monate gut 100 Franken für Wohn- und Nebenkosten. Im alten Spital können die Menschen so lange bleiben, bis sie eine dauerhafte Bleibe gefunden haben. Familie Sargsyan will möglichst rasch wieder auf eigenen Beinen stehen, Armine Sargsyan möchte wieder arbeiten und raus aus der Kleinstadt.

Nicht alle konnten fliehen

Am anderen Ende des Ganges überschattet vor allem Trauer mögliche Zukunftspläne. Bei den Nalbandyans leben drei Generationen in drei Zimmern: sechs Kinder, fünf Erwachsene. Doch einer fehlt. Im hintersten Raum mit dem schmalen Tisch und dem Doppelstockbett lehnt ein gemaltes Porträt an der Wand. Darauf zu sehen ist Aren, der Mann von Nazik Nalbandyan. Sie schafft es kaum, das Bild anzusehen, ringt um jedes einzelne Wort. «Wenn die Leute kommen, um mir ihr Beileid auszusprechen, möchte ich das gar nicht hören», sagt die 34-Jährige.

Am Tag des Angriffs im vergangenen September habe sie das letzte Mal mit Aren gesprochen, sagt Nalbandyan. Er war Soldat. Das Porträt zeigt den vierfachen Vater in Uniform. Die Witwe kann immer noch nicht über den Verlust sprechen. Tränen schiessen in ihre stechend blauen Augen. Wenigstens hätten sie Arens Leiche nicht Aserbaidschan überlassen müssen. Das Internationale Rote Kreuz überführte seinen Körper nach Armenien. Nun liegt er auf dem Soldatenfriedhof von Eriwan begraben, zusammen mit all den anderen Toten der Karabachkriege. Auch Nalbandyan will das Spital in Tscharenzawan bald verlassen. Eine Wohnung in der Nähe des Friedhofs wünsche sie sich. «Damit ich meinen Mann so oft wie möglich besuchen kann», sagt sie.