Country: Die letzte Bastion der Konservativen
Von der Erfindung als weisses Musikgenre bis zu den Kulturkämpfen der Gegenwart: Zu Besuch in Nashville, wo das enge Korsett des Country gesprengt wird.
Selbst wenn die Stadt in ihren Montagstrott verfällt, wenn mittags die Warteschlange vor Taylor Swifts geliebter «Pancake Pantry» steht und die Partybusse der Junggesellinnenabschiede verstummen, selbst dann pocht in der schimmernden Dunkelheit einer Honkytonk-Spelunke noch der Bass von Johnny Cashs «Ring of Fire». In der Spelunke steht auf einem Podest eine Sängerin mit goldblonden Locken, das Publikum prostet ihr zu. Jemand reicht den Blecheimer fürs Trinkgeld rum, noch eine Runde. Und noch mal eine.
Draussen auf der Strasse hängt der schwere Geruch von Urin und Schnaps in der Luft. Auf dem Broadway, der Partymeile, auch Nash Vegas genannt, patrouillieren Polizisten auf ihrer Stammstrecke. Tourist:innen stapfen in Cowboyhüten und -stiefeln durch die Pfützen im Asphalt: feuerrot, glitzernd, ockerfarben. «Redneck Riviera. Home of the Heroes» heisst eine Bar hier, übersät mit US-Flaggen und patriotischen Polizeiabzeichen. In Nash Vegas wird gegrölt, gesoffen, geknutscht. Einheimische meiden die Gegend.
Montag in Madison
Wer Country spielt und gross rauskommen will, zieht nach Nashville, Tennessee, in die Traumfabrik der Musikindustrie im Südosten der USA. Als die Ikone Dolly Parton 1964 am Tag nach ihrem Schulabschluss in die Stadt kam, sang sie auf dem Broadway in den Honkytonks, diesen für die Südstaaten typischen Beizen mit Livemusik. Taylor Swift, die schon als Kind von einer Karriere als Countrysängerin träumte, wurde mit vierzehn Jahren im «Bluebird Cafe» in Nashville entdeckt. In der Stadt wirkten Bob Dylan und Elvis Presley, Johnny Cash liegt hier begraben.
Die Hauptstadt von Tennessee ist stolz auf ihren Ruf als politisch gemischte Oase in einem konservativen Bundesstaat mitten im Bible Belt; auch wenn sich die Schlinge schleichend enger zieht: Letztes Jahr hat Tennessee Dragshows vor Kindern verboten. Aber auf der Music Row, so heisst der Stadtbezirk, der die Plattenfirmen, Aufnahmestudios und Radiosender beheimatet und dessen Name manchmal gleichbedeutend für die hiesige Musikindustrie gebraucht wird, gibt es eine einfache Regel: Wer im Country Erfolg haben will, sollte sich mit Politik zurückhalten.
Wer die Regel bricht, den könnte zum Beispiel dasselbe Schicksal ereilen wie die Dixie Chicks (heute The Chicks) nach ihrer Welttournee 2003. Bis zu diesem Zeitpunkt war das texanische Trio die erfolgreichste Countryband des Landes gewesen. Leadsängerin Natalie Maines hatte kurz nach Beginn des Irakkriegs bei einem Konzert in London verkündet, sie würde sich schämen, aus demselben Bundesstaat wie George W. Bush zu stammen. Darauf erhielt die Band Todesdrohungen, Fans verbrannten öffentlich ihre Alben, Radiosender strichen ihre Musik aus dem Programm.
Die Gunst der kommerziellen Countryradiostationen zu verlieren, ist fatal. Denn nach ihnen richtet sich jede Entscheidung auf der Music Row: «Wenn das Countryradio dich nicht spielt, existierst du nicht», sagte ein ehemaliger CEO eines Plattenlabels 2015 in einem Interview. Zwar bestimmt das Radio heute wie vor hundert Jahren über den Erfolg einzelner Künstler:innen. Doch der komplexen Realität, in der Musiker:innen und Fans sich heute bewegen, wird die darin konstruierte Welt nicht gerecht.
Montagabend, eine abgelegene Einfahrt in Madison, einem Vorort der Stadt. Eine Holztreppe führt zum Eingang der «Dee’s Country Cocktail Lounge», auf der winzigen Grünfläche daneben grasen Flamingos aus Plastik. Zehn US-Dollar Eintritt, dafür kein Uringeruch, keine Cowboyhüte. «Dee’s» sei in Nashville bekannt als der Laden, wo Country noch für etwas stehe und nicht zu Pop verwässert worden sei wie drüben auf dem Broadway, erklärt die Kellnerin mit ernstem Blick.
Dann serviert sie Frozen Margaritas und Bier. Die Atmosphäre ist familiär und freundlich. Ein Musikjournalist, ein Produzent und ein Besucher aus der Nachbarschaft stecken die Köpfe an der Bar zusammen und geben ihre Meinung zum letzten Konzert zum Besten. Auf der Bühne unter der Discokugel haben fünf Musiker:innen Banjo, Geige, Bass, Gitarre und Mandoline ausgepackt.
Als das Konzert kurz darauf anfängt, gibt Sängerin Bronwyn Keith-Hynes mit ihrem rechten Fuss den Takt vor. Sie trägt Jeans und schwarze Ballerinas, mit flinken Fingern zupft sie die Saiten ihrer Geige. Ein Paar tanzt vor der Bühne klackernd über den Boden. In der Pause wandert Keith-Hynes mit einem Blecheimer durch den Raum, um die Kollekte einzuziehen, und plaudert mit dem Publikum.


Frauen sind wie Tomaten
Bronwyn Keith-Hynes wuchs in einer Familie mit irischen Wurzeln auf, wie die 32-Jährige nach dem Konzert im Hinterhof der Bar erzählt. Als Kind spielte sie keltische Musik, während ihres Musikstudiums in Boston verfiel sie dem Bluegrass. Diese Musik mit Ursprüngen im Appalachengebirge wird zum Country gezählt und bietet Raum für ausschweifende Improvisationen. Als Teil der Band Molly Tuttle & Golden Highway gewann Keith-Hynes dieses Jahr den Grammy für das beste Bluegrassalbum.
Doch um das Geschlechterverhältnis im Country ist es nicht gut bestellt. Seit 2000 ist der Anteil der Musik von Frauen, die im kommerziellen US-Countryradio gespielt werden, von 31 auf 11 Prozent gesunken, trotz grosser Erfolge weiblicher Stars. Der Anteil an Songs von Schwarzen Frauen liegt gar bei nur 0,03 Prozent. Im Trend liegt dafür «Bro-Country», ein neueres Genre von weissen Männern, die am liebsten Alkohol, Frauenkörper und Pick-up-Trucks besingen.
Für viele bleibt Country Männermusik, wie eine Geschichte illustriert, die sich 2015 zugetragen hat. Damals löste Keith Hill, ein Berater für Radiostationen, einen Skandal aus, der als «Tomato-Gate» in die Geschichte eingehen sollte. In einem Interview riet er, ein Radio sollte niemals mehr als fünfzehn Prozent Musik von Frauen spielen und niemals zwei Lieder von Frauen hintereinander. Denn Frauen seien wie «Tomaten in einem Salat einzusetzen – spärlich».
Die Dunkelheit ist über Nashville hereingebrochen, Bronwyn Keith-Hynes steht im Hinterhof, spricht freundlich, wirkt nahbar. Trotz ihres Erfolgs bleibt sie dem bodenständigen «Dee’s» treu. Gibt es zu wenige Frauen im Country? «Yeah, totally!», sagt sie, den Nashville-Sound, die kommerzielle Version von klassischem Country, würden tatsächlich viel mehr Männer spielen. Aber im Bluegrass wachse der Anteil von Frauen.
Sie spiele nicht Bluegrass, um den Frauenanteil in der Szene zu erhöhen, sagt Keith-Hynes. Sie versteht sich als Liberale; das zu betonen, ist ihr wichtig. Doch über ihre politische Haltung spricht sie nicht öffentlich. Klimadesaster und Abtreibungsrechte beschäftigen sie, «aber ich will für Gigs gebucht werden. Ich will im Radio gespielt werden. Wenn ich mich politisch äussere, mache ich mich dadurch zu einer weniger erwünschten Person.»
Selbst die ebenfalls liberal eingestellte Dolly Parton, die wegen ihrer philanthropischen Projekte und ihrer ländlichen Herkunft aus einem armen Elternhaus den Konservativen als unantastbar gilt, schweigt zur Politik. Als ein Magazin sie zu Beyoncé interviewte, überschüttete Parton deren stark von Country beeinflusstes Hitalbum «Cowboy Carter» zwar mit Komplimenten, in ihren politischen Aussagen blieb sie aber vage. Bei den Country Music Association Awards, der wichtigsten Preisverleihung des Genres in Nashville, wird Beyoncé nächsten Monat leer ausgehen; sie ist kein einziges Mal nominiert. Seit Wochen spekulieren Medien und Musikbranche über die Gründe.


Musik für unbescholtene Bürger
Die Beziehung zwischen Schwarzen und Country war schon immer kompliziert. Eine unerwiderte Liebe auch. Von den 155 Musiker:innen, die die Country Music Hall of Fame in Nashville auszeichnete, sind nur gerade drei Schwarz. Das ist kein Zufall.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts vermischten sich die Musikstile der Schwarzen und der Weissen im Süden der USA. In den 1920er Jahren, parallel zum Aufstieg des Radios, machten sich Produzenten an die Vermarktung von Country. Um maximalen Profit daraus zu schlagen, schufen sie zwei Stile: Den einen nannten sie «race records», woraus der Rhythm and Blues entstand – moderne Tanzmusik für ein Schwarzes Publikum. Den anderen nannten sie «hillbilly music», Seelenklang des armen, weissen Südens, der Sound von Bergarbeitern und Landwirten. Schwarzen Performer:innen, die an Hillbilly-Produktionen mitarbeiteten, verwehrte man von da an die namentliche Erwähnung. Man schnitt sie einfach aus dem Bild, das in die Geschichte eingehen und das Image des Country prägen sollte.
An den Weissen Jimmie Rodgers, Sohn eines einfachen Eisenbahnarbeiters, erinnert sich die Welt als «Father of Country». 1929 nahm er mit dem Schwarzen Jazztrompeter Louis Armstrong und dessen Frau seinen «Blue Yodel No. 9» auf. Doch die Details dieser Zusammenarbeit sind unbekannt, von der Geschichtsschreibung vernachlässigt. Auch seinen gefeierten Jodelstil entwickelte Rodgers aus den Einflüssen Schwarzer Gleisarbeiter.
«Der Hillbilly ist ein freier, unbescholtener, weisser Bürger Alabamas, der in den Hügeln lebt, sich kleidet, wie er kann, redet, wie ihm beliebt, Whisky säuft, wenn er ihn in die Hände kriegt, und seinen Revolver so oft abfeuert, wie er Lust hat», schrieb das «New York Journal» im Jahr 1900 erstmals über die «hillbillies», die Menschen aus den ländlich geprägten Gegenden der Südstaaten. Doch nicht nur sie liebten diese Musik. Die Botschaften der frühen Countrysongs waren losgelöst von Hautfarbe und geografischen Grenzen, in vielen geht es um den Alltag, um Liebe und Tod, um Arbeit oder Gott.
Auch heute wollen nicht alle jene enge Vorstellung von Country akzeptieren. Holly G, wie sie sich bloss nennt, ist 35 und kämpft aktiv dagegen an. Sie liebe diese Musik, seit sie fünf Jahre alt gewesen sei, sagt Holly G. Schon als Kind habe sie im Auto immer auf einen Radiosender geschaltet, der Country spielte. Nun sitzt sie in einem ledernen Schaukelstuhl und fährt ihrem Chihuahua-Mops-Mischling mit den Fingern über die Ohren. Das Nacktkätzchen namens Cash flitzt durch den Raum. An der Wand hängen E-Gitarren, im Regal stehen ein Plattenspieler, viele Schallplatten und CDs, ganz oben «From Where I Stand. The Black Experience in Country Music», eine Zusammenstellung von Schwarzem Country.
Holly G ist eloquent, hat über 8000 Follower:innen auf X und eine Liebe für Leopardenmuster. Sie sagt: «Country ist die letzte Bastion der Konservativen im Kampf gegen Wokeness. Sie glauben, sie müssten sie beschützen, klammern sich an ihr fest.»
Die Videoclips, die Holly G ihr Leben lang im Fernsehen sah, zeigten keine Schwarzen. Auf Konzerten war sie oft der einzige Schwarze Fan. Bis auf wenige Ausnahmen gab es kaum Schwarze Sänger:innen, nicht einmal im Hintergrund. «Alles schrie: Du gehörst nicht hierher. Es hat noch nie Sinn ergeben, dass ich diese Musik so verehre. Ich habe das einfach verdrängt.» Holly G ist nicht unbedingt ein Mensch, der anklagen will. Wenn sie spricht, liegt in ihrer Stimme keine Wut, keine Empörung. Nur manchmal flucht sie. Holly G sieht sich nicht als Aktivistin. Aber sie scheut sich nicht, Missstände anzusprechen – etwa die Lücken in der offiziellen Geschichtsschreibung des Country.
Im Museum der Country Hall of Fame hängt ein Gemälde mit dem Titel «The Old Plantation» aus dem späten 18. Jahrhundert: Darauf zu sehen sind in Afrika versklavte Männer bei einer spirituellen Zeremonie, einer von ihnen spielt Banjo. Das Bild ist das erste Zeugnis davon, dass es Sklaven und ihre Nachfahren in der Karibik und in Nordamerika waren, die als Erste ein Banjo bauten. Zusammen mit der aus Irland nach Amerika eingewanderten Geige und der mexikanischen Gitarre gehört das Banjo zu den frühen Instrumenten des Country. Doch die Schwarzen Wurzeln wurden aus dessen Geschichte verdrängt.
Militaristischer Patriotismus
Als Holly G während des Lockdowns 2020 ihr damaliges Haus im Bundesstaat Virginia kaum mehr verlässt, weil sie ein Familienmitglied vor Corona schützen will, holt sie der Song «Talkin’ Tennessee» des Countrysuperstars Morgan Wallen aus ihrer Depression. Kurz darauf wird Wallen dabei gefilmt, wie er das N-Wort benutzt. Der Musiker entschuldigt sich, der Skandal dauert nur kurz. Bald steht sein Album «Dangerous» für zehn Wochen an der Spitze der Charts, und Wallen gewinnt den CMA Award als Künstler des Jahres. Auch in diesem Jahr ist er sieben Mal nominiert. Der rassistische Vorfall fühlt sich für Holly G an wie ein persönlicher Verrat. Er wird für sie zu einem Wendepunkt.
Holly G beginnt, zur Geschichte des Country zu lesen. Sie bereitet sich monatelang vor, bevor sie eine Website ins Leben ruft, auf der sie dreissig Schwarze Künstler:innen ehrt. Die Reaktionen sind überwältigend, aus dem ganzen Land schreiben ihr Schwarze Fans, von denen es viel mehr gibt, als sie geahnt hat. Sie lacht bitter, als sie das erzählt: «Ich wusste zuerst nicht einmal, ob es dreissig Schwarze Countrysänger:innen gibt.»
2021 gründet sie «Black Opry», ein «Zuhause für Schwarze Künstler:innen, Fans und alle anderen aus der Industrie von Country, Americana, Blues, Folk und Soul» – ein Schwarzes und auch queeres Kollektiv, das im Country schleichend eine kleine Revolution lostreten sollte. Holly G vernetzt sich in der Szene, treibt Geld auf, organisiert gemeinsame Auftritte. Sie zieht nach Nashville und beginnt, Künstler:innen des Kollektivs gemeinsam auf Tournee zu schicken und zu promoten. In einer Sonderausstellung in der Country Hall of Fame hängt ein Foto von ihr, der «Rolling Stone» und der «New Yorker» berichten über sie. 2023 kündigt sie ihren Job als Flight Attendant, diesen Sommer verkündet sie die Gründung ihres eigenen Plattenlabels. Holly G ist stolz auf ihre Errungenschaften. Sie liebt ihr Leben.
Das Aufblühen in der Nische, das ist die eine Seite. Die andere: Die grossen Countryradiosender interessieren sich weiterhin nur für den Profit. Das sagen in Nashville alle, die man zu den Befindlichkeiten der Musikindustrie befragt. Und Profit wird vor allem im konservativen Lager gemacht, wo Begriffe wie «divers» oder «inklusiv» als Kampfparolen gebraucht werden. Es sind Momente wie derjenige nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, die das rechte Image des Country festigen: Damals wurde Toby Keiths Song «Courtesy of the Red, White and Blue» mit seinem militärischen Patriotismus, über den Dixie-Chicks-Sängerin Natalie Maines sagte, er sei «dumm und lasse Country dumm klingen», zu einer Hymne des konservativen Amerika.
Immer wieder gibt es Skandale um Bro-Country-Stars, etwa um Donald Trumps Unterstützer und Golfpartner Jason Aldean, dessen Name auch eine beliebte Bar auf dem Broadway in Nashville schmückt. Vergangenes Jahr entbrannte eine Kontroverse um das Video zu Aldeans Song «Try That in a Small Town», das vor dem Gebäude des Maury County Courthouse in Columbia in der Nähe von Nashville gedreht wurde. Vor hundert Jahren fand dort ein Lynchmord an einem Schwarzen statt. Man warf Aldean vor, wissentlich diesen Schauplatz gewählt zu haben. Dass er die Geschichte des Gebäudes nicht kannte, ist unwahrscheinlich. Zwar wurde das Video daraufhin vom TV-Sender Country Music Television zurückgezogen, aber Aldeans Popularität schadete das kaum.

Der bessere Country?
Unter dem Namen Americana, der traditionell die verschiedenen Genres der US-amerikanischen Rootsmusik wie Gospel, Bluegrass, Folk, Blues oder Country zusammenfasst, hat sich in Nashville in der jüngeren Vergangenheit eine neue Szene entwickelt: Sie versteht sich als Gegengewicht zum konservativ dominierten Country, als progressiver eingestellt, weniger kommerziell, offen gegenüber Queers. Ist dieser Americana heute der bessere Country?
Holly G kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. «Die Szene will das selbst glauben – aber das ist alles Performance.» Gerade weil Americana als progressiv gelte, halte sich die Szene für unangreifbar. «Doch warum gewinnen dann kaum Schwarze Künstler:innen Americana-Awards?»
Vor Holly Gs Haus ist das Rattern eines Motors zu hören, es klopft an der Tür. Jett Holden tritt ein, begrüsst das Kätzchen mit «Hey, Cash» und lässt sich aufs Sofa fallen, als wäre es sein Zuhause. Holden, warme, tiefe Stimme, strahlendes Lächeln, ist der erste Künstler, den Holly G bei ihrem Plattenlabel unter Vertrag genommen hat. Gerade ist «The Phoenix», das erste Album des 35-Jährigen, erschienen.
2020 entdeckt und kontaktiert Holly G den Musiker über Instagram, seine Karriere hat Holden da eigentlich schon aufgegeben. Heute sagt er: «‹Black Opry› ist das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist.» Wenn Holden seine Jugend in einer Familie von Zeugen Jehovas schildert, sein Coming-out, seine Trauer, die auf die ablehnende Reaktion der Familie folgte, sein Doppelleben, lacht er laut und durchdringend. Dann blinzelt er, senkt verunsichert den Blick. «Wenn sich etwas komisch anfühlt, lache ich lieber, als zu weinen.»
Mit Anfang zwanzig zieht Jett Holden aus Virginia nach Kalifornien, um Musik zu machen. Ein Label bietet ihm einen Plattenvertrag an. Kurz vor der Unterzeichnung erfahren die Verantwortlichen, dass er schwul ist. «Ihre Reaktion war direkt und unverschleiert: Schwarz und schwul, das geht nicht, das können wir nicht an das Radiopublikum in Georgia, Texas und Tennessee vermarkten.» Weitere Versuche bleiben erfolglos. Schwarze Stars wie Lil Nas X, der im Jahr 2019 mit «Old Town Road» einen Hit landete und sich gleitzeitig als schwul outete, waren schon immer eine Ausnahmeerscheinung, als gutes Beispiel wenig tauglich.
Holden greift zur Gitarre. Minutenlang bleibt sein Gesichtsausdruck hochkonzentriert, nur der Klang seiner Stimme füllt den Raum. Eine trans Frau mit lockigen Haaren und silbernen Ohrringen in Form eines Mondes stimmt mit ein. Die beiden singen «Angel of Montgomery», einen Countryklassiker von John Prine aus dem Jahr 1971.
Der damals junge John Prine sang das Lied aus der Perspektive einer alten Frau, die alle Träume schon hinter sich gelassen hat. «Das universelle Gefühl einer menschlichen Erfahrung, das ist Country», sagt Holly G. Und auch die Perspektive derjenigen, die sich als Aussenseiter:innen fühlten, ein Gefühl, das über die Grenzen von Hautfarbe und Sexualität hinweg so viele Menschen auf der Welt verbinde, auch sie, die zu «Black Opry» gehörten: die Sehnsucht, dazuzugehören.