Strassburg gegen Zürcher Polizei: Sieg über den Kessel

Nr. 51 –

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kritisiert eine Einkesselung am 1. Mai 2011 in Zürich. Warum das Urteil für künftige Demonstrationen relevant ist.

Polizeieinsatz am Zürcher 1. Mai 2011
Gut zwölf Jahre später von höchster Stelle gerügt: Der Polizeieinsatz am Zürcher 1. Mai 2011. Foto: Ennio Leanza, Keystone

Jahrelang zogen Lukas Arnold und Felix Marthaler von Gerichtsinstanz zu Gerichtsinstanz. Doch egal ob Verwaltungs-, Bezirks- oder Bundesgericht, das Urteil blieb stets das gleiche: Das Verhalten der Zürcher Polizei sei rechtens gewesen. Das sieht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) anders – und hat diese Woche ein Urteil gegen die Polizei gesprochen.

Diese hatte am 1. Mai 2011 zwischen dem Helvetiaplatz und dem Kanzleiareal 542 Personen eingekesselt und dort teilweise während mehrerer Stunden festgehalten. Arnold und Marthaler wurden danach, wie viele andere auch, mit dem Kastenwagen zu einer sogenannten Haftstrasse auf den Polizeiposten gebracht und dort wiederum für mehrere Stunden festgehalten, obwohl ihre Identität bereits im Kessel überprüft worden war. Am Ende bekamen sie auf dem Posten eine Wegweisung für mehrere Zürcher Stadtkreise für die nächsten 24 Stunden.

Für den Anwalt Viktor Györffy, der Arnold und Marthaler vertritt, ist klar, dass die Zürcher Polizei die Aktion genau so geplant hatte. Dafür spreche nur schon, dass der Einsatz von der Stadt- und der Kantonspolizei gemeinsam durchgeführt wurde. Zudem hatte der damalige Polizeisprecher Marco Cortesi bereits einige Tage vor dem 1. Mai im «Tages-Anzeiger» gesagt, dass man auch «Gaffer» mit auf die Wache nehmen und dort Wegweisungen aussprechen wolle. Auch die lange Wartezeit schien zum Plan zu gehören, oder wie Cortesi sagte: «Wenn wir mehrere Hundert Krawalltouristen verhaften, dauert es natürlich eine Weile, bis alle wieder auf freiem Fuss sind.»

Die Polizei machte Cortesis Drohung schliesslich wahr und schloss am Nachmittag den Kessel, ohne Vorwarnung und ohne dass es zuvor zu einem nennenswerten Ereignis gekommen wäre. Bis heute ist unklar, was genau dazu geführt hat: Sämtliche Schweizer Gerichte lehnten den Beweisantrag nach den Polizeiprotokollen von diesem Tag ab. Bereits einen Tag nachdem er eingekesselt worden war, meldete sich Arnold bei der Kantonspolizei und bat sie um die Feststellung, dass ihr Verhalten rechtswidrig gewesen ist. Marthaler stellte einige Monate später denselben Antrag. Damit begann ihre juristische Tour.

Marsch durch die Gerichtshöfe

Gleich zweimal führte sie diese vor das Bundesgericht: Nach einem Entscheid der Zürcher Sicherheitsdirektion beschäftigte sich das Verwaltungsgericht und später das Bundesgericht zum ersten Mal mit dem Fall. Dieses erklärte das Zürcher Zwangsmassnahmengericht für zuständig. Über das Ober- ging es wieder zurück ans Bundesgericht. Dort habe man sich dann zum ersten Mal überhaupt eingehend mit der Frage beschäftigt, ob der stundenlange Kessel und die darauffolgende Haftstrasse ein Freiheitsentzug gewesen seien, sagt Anwalt Györffy.

Diese Frage ist entscheidend, weil die Gründe für einen Freiheitsentzug in der Menschenrechtskonvention abschliessend aufgelistet sind. Am Ende sprach sich eine Mehrheit der Bundesrichter:innen dafür aus, dass zwar ein Freiheitsentzug stattgefunden habe, sie entschieden aber einstimmig, dass dieser rechtmässig gewesen sei.

Arnold und Marthaler zogen den Fall ein letztes Mal weiter – an die oberste Instanz für Menschenrechtsfragen in Europa: nach Strassburg an den EGMR. Am Dienstag gab dieser nun bekannt, dass er die Beschwerde annehme. Im Urteil stellt das Gericht fest, die Polizei habe mit der Inhaftierung nicht wie vorgeschrieben die «am wenigsten einschneidende Massnahme» gewählt. Zudem könne das Gericht nicht ausschliessen, dass die Inhaftierungen in erster Linie einem «schikanösen Zweck» gedient hätten. Arnold und Marthaler haben gegen die Schweiz also recht bekommen. Über dreizehn Jahre sind seit ihrer Beschwerde bei der Polizei vergangen, alleine vom Entscheid des Bundesgerichts bis zu jenem des EGMR hat es sieben Jahre gedauert.

Lehren für künftige Einsätze

Trotz der langen Verfahrensdauer sei das Urteil auch für die Gegenwart relevant und sollte der Polizei und ihren politisch Verantwortlichen zu denken geben, meint Anwalt Györffy. Der EGMR habe zwar nicht entschieden, dass jeder Polizeikessel ein illegaler Freiheitsentzug sei, aber in den beiden Einzelfällen einen sehr deutlichen Entscheid gefällt. «Es ist demnach die Pflicht von Stadtrat und Polizei, die Einsätze bereits so zu planen, dass sie grundrechtskonform sind. Es ist schliesslich nicht möglich, im Nachhinein Verletzungen aufzuheben», sagt Györffy. Für ihn sei klar, dass Situationen wie dieses Jahr in Basel, wo ein Teil des 1.-Mai-Umzugs als Ganzes eingekesselt wurde, in Zukunft nicht mehr passieren dürften. Das Urteil des EGMR mache zudem klar, dass auch Ausschreitungen an einer früheren Demonstration keine präventive Einkesselung erlauben würden.

Obwohl sie vor dem EGMR gewonnen haben, hat der Glaube an den Rechtsstaat bei Arnold und Marthaler gelitten. «Bei einem Verfahren gegen die Polizei sind die Hürden hoch. Den Rechtsweg gegen die Polizei gibt es nur auf dem Papier», sagt Arnold. Auch sie hätten sich den Gang nach Strassburg nur mithilfe von Soli-Projekten leisten können, bei denen sich über hundert Menschen an den Kosten beteiligt hätten. Für Marthaler ist deshalb auch klar, was er mit der Entschädigung von tausend Franken, die ihm der EGMR zugesprochen hat, nun machen wird: «Ich werde meine Genugtuung an ein Projekt spenden, das andere ermutigt, diesen Weg auch zu gehen.»