Frag die WOZ : War Jesus ein Linker?

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«War Jesus ein Linker?»

I. K., per Mail

Das ist eine sehr gute Frage! Aber vor allem eine schwierige. Die Meinungen dazu gehen weit auseinander. Das zeigt sich schon darin, dass sich rechte wie linke Apologet:innen zuweilen auf diese aussergewöhnliche Person und die ihr zugeschriebenen Handlungen und Worte beziehen.

Wobei sich gleich auch die Frage stellt, inwieweit sich Linkssein mit Religiosität überhaupt verträgt. Insbesondere wenn es sich dabei um eine Form von Gottes- und Jenseitsgläubigkeit handelt. Noch schwieriger wird es, wenn man bedenkt, dass es sich bei dieser singulären Person um jemanden handelt, der von sich selbst gesagt haben soll, direkter Sohn eines Gottes zu sein. In einem autoritätskritischen linken Kopf schrillt da womöglich der Alarm.

Rein weltlich gesehen hingegen, hat dieser Jesus ja doch recht progressive Ideen und Praktiken verbreitet und vorgelebt: Solidarität mit den Armen und Ausgestossenen, Kritik an Eliten und weltlichen Machthabern, Vergebung gegenüber Gesetzesbrechern – bis hin zur Feindesliebe. So gesehen war er in seiner weltlichen Praxis überaus sozial, machtkritisch und pazifistisch.

Wäre da nur nicht eben diese seine Behauptung, direkter – und einziger! – Nachfahre eines – einzigen! – Gottes zu sein! War das wirklich nötig? Andernfalls: Sollte er tatsächlich Gottes höchstpersönlicher Sohn gewesen sein – warum hat er sich nicht von diesem autoritären Übervater befreit? Oder brauchte er gar dieses fulminante Alleinstellungsmerkmal, um seinen Reden jene historische Langzeitwirkung zu verleihen, die sie seit seiner weltlichen Existenz über all die Jahrhunderte erfahren? Gründete womöglich nicht gerade darin, in dieser unerhörten Behauptung einer Gleichzeitigkeit von menschlicher und gottesverwandter Existenz, ein fatales Urmomentum – das wiederum den Nährboden für mancherlei autoritäre und paternalistische Ideologien bereitete?

Definitiv nicht mehr mit einer linken Weltanschauung vereinbar sind die Fantasien jener christlichen Fundamentalist:innen und Esoteriker:innen, die den jüdischen Mann aus Nazareth zu einem Messias hochimaginieren, der dereinst als Inkarnation seinerselbst wieder auf Erden erscheinen und sie am Ende der ganzen Geschichte als Auserwählte von allem Übel befreien werde. Und widerspricht nicht auch der christliche Glaube an ein Paradies im Jenseits dem Glauben daran, Gerechtigkeit im Diesseits zu erkämpfen – und den Kapitalismus überwinden zu können?

Wobei ja überaus umstritten ist, was von all diesen Lehren tatsächlich aus dem Mund Jesu gekommen ist – und was ihm nachträglich in den Mund gelegt worden sein könnte. Sie sehen es: Ihre Frage, ob Jesus ein Linker war, ist schwer zu beantworten. Zu viele verschiedene und gegensätzliche Übersetzungen, Bearbeitungen, Projektionen und Interpretationen versperren den Blick auf seine reale Präsenz. Zu viele weltliche Fragen mischen sich mit überweltlichen Behauptungen. Zu sehr wohl werden politische Kategorien von dieser historischen wie legendären Figur gesprengt.

Und so können wir auch darüber, was der Wanderrabiner zur heutigen Weltlage sagen würde, nur spekulieren.

Montags beantworten wir in der Rubrik «Frag die WOZ» jeweils eine wirklich (un)wichtige Leser:innenfrage. Die nächste Frage beantworten wir am Montag, 12. Januar 2026. Noch Fragen? fragdiewoz@woz.ch!