Dževad Karahasan (1953–2023): Vertrauen in die Kraft des Erzählens

Nr. 21 –

Mit Dževad Karahasan verliert die europäische Literatur einen grossartigen Erzähler und originellen Essayisten, einen emphatischen Vermittler zwischen dem vermeintlichen «Orient» und dem «Okzident».

Der Vater war Kommunist, die Mutter gläubige Muslimin. Ausgebildet unter anderem von Franziskanerpatern, hat Karahasan zunächst als Dramaturg und Theaterwissenschaftler in Sarajevo gewirkt. Im Frühjahr 1992 überfiel die serbische Armee Bosnien und begann mit der Belagerung der Stadt, im Jahr darauf floh Karahasan nach Westen und liess sich später in Graz nieder. In seinem «Tagebuch der Aussiedlung» (1993) hat er die Besonderheiten der gesellschaftlich vielfältigen und multireligiösen Stadt, wo Muslime, Jüdinnen, Katholik:innen, Griechisch- und Serbisch-Orthodoxe friedlich miteinander lebten, prägnant erfasst.

1994 war Karahasan Gast bei den Solothurner Literaturtagen und kämpfte mit klugen Worten vehement für die Fortführung des «anspruchsvollen und wunderbaren» Gemeinschaftslebens in Sarajevo, wie es der Krieg und auch das Dayton-Abkommen dann weitgehend zerstört haben. Über seine grausamen Erfahrungen in Krieg und Belagerung hat Karahasan erst dreissig Jahre später schreiben können: Sein vor kurzem erschienener Roman «Einübung ins Schweben» ist nun zum Vermächtnis geworden (siehe WOZ Nr. 16/23).

Zuvor hat diese liebenswürdige Persönlichkeit in einer Vielzahl vielschichtiger und vielstimmiger Romane und Erzählungen die Fragen von Gewalt und Empathie, von Hoffnung und Verzweiflung in Vergangenheit und Gegenwart verhandelt – unter anderem in seinem Opus magnum, «Der Trost des Nachthimmels» (2015). Die poetische Schönheit und die gedankliche Tiefe seiner Bücher machten den vielfach ausgezeichneten Autor zur herausragendsten Stimme seiner Region.

Sein Schreiben hat er als «Poetik des skeptischen Erzählens» definiert. Unerschütterlich war Karahasans Vertrauen in die Kraft eines solchen Erzählens, das «humorvoll über Verzweiflung» spricht. So erklärte mir der Autor einmal im Gespräch: «Das Wesentliche können wir nur durch Narrative, durch Mythen, durch das Erzählen erkennen und begreifen. Nur das Erzählen bewahrt die wunderbare und ungeheure Komplexität des Lebens und der Welt.»

Am 19. Mai ist Karahasan nach längerem Krebsleiden siebzigjährig in Graz gestorben.