Dzevad Karahasan: «Bosnien ist ein Land ohne Bürger! Und damit keine Gesellschaft»

Nr. 50 –

Für den bosnischen Schriftsteller Dzevad Karahasan ist klar: Das Dayton-Abkommen, das vor zwanzig Jahren unterzeichnet wurde, hat seinem Land einen Waffenstillstand gebracht, aber keinen Frieden.

Dzevad Karahasan: «Sarajevo ist wahrscheinlich immer noch die einzige Stadt Europas, wo sich niemand wundert, wenn ein Franziskaner und ein Muslim eng befreundet sind.»

WOZ: Dzevad Karahasan, vor zwanzig Jahren wurde das Friedensabkommen von Dayton unterzeichnet. Welche Erinnerung haben Sie an die Nachricht vom Abkommen?
Dzevad Karahasan: Meine Reaktion war äusserst zwiespältig. Das Dayton-Abkommen bedeutete einerseits eine grosse Freude: Endlich hört das Morden auf. Andererseits war es eine grosse Enttäuschung, denn das Abkommen hat zum grossen Teil Ergebnisse des Kriegs anerkannt. Es gab zwar den schwachen Versuch, etwas rückgängig zu machen: Ein Zusatz zum Abkommen hat das Recht zur Rückkehr von Vertriebenen statuiert. Man hat es aber versäumt, Instrumente zu entwickeln, die Rückkehrer vor Willkür, Übergriffen und Misshandlungen durch lokale Behörden schützen könnten.

Wie lebt es sich heute, zwanzig Jahre nach dem Abkommen, in Sarajevo und in Bosnien?
Die Antwort fällt wiederum höchst zwiespältig aus. Treffe ich Leute, die ich aus den Kriegszeiten kenne, bekomme ich immer öfter zu hören: Ach, erinnerst du dich, wie prächtig wir es im Krieg damals gehabt haben?

Das klingt fast zynisch.
Das klingt fast zynisch, ist aber aufrichtig und ernst gemeint. Denn damals im Krieg hofften wir auf Gerechtigkeit, wir wussten, wir sind auf der richtigen Seite. Was wir verteidigen wollten, war uns viel wert. Jetzt, in diesem Waffenstillstand – denn was durch das Dayton-Abkommen zustande kam, ist kein Frieden! –, in diesem Waffenstillstand bleibt kein Glaube an Gerechtigkeit mehr. Es stimmt: Man stirbt heute ziemlich ruhig, man hat etwas zu essen, die Strassenbahn durch die Stadt Sarajevo fährt wieder – gelegentlich –, man muss nicht mehr fürchten, die Studenten kämen nicht zum Unterricht, weil sie auf dem Weg dorthin ermordet worden sind. Es ist also besser – gut ist es aber keinesfalls.

Wo liegen denn die grössten Probleme?
Es gibt tiefgreifende Versäumnisse im Abkommen und der darauf gründenden Verfassung. Es handelt sich um eine uns aufoktroyierte Verfassung: Sie wurde weder durch einen Parlamentsbeschluss noch durch eine Volksabstimmung legitimiert. Was ich absolut unakzeptabel und schrecklich finde, ist die Tatsache, dass es in Bosnien-Herzegowina keine Bürger gibt. Abkommen und Verfassung operieren nur mit den Begriffen «Nation» und «ethnische Zugehörigkeit».

Die scheinbare Lösung mit dem Dayton-Abkommen ist also zum eigentlichen Problem geworden, weil es die militärisch herbeigeführte ethnische Segregation festhält?
Genau. Die ethnische Separierung ist anerkannt und in den grundlegenden Staatsdokumenten festgeschrieben. Bosnien ist ein Land ohne Bürger! Und damit keine Gesellschaft. Und wo es keine Gesellschaft gibt, nur sich gegenseitig blockierende Nationen, ist keine Veränderung möglich. Seit Jahren rät man uns, etwas zu ändern. Genau dies lassen aber Dayton und die aktuelle Verfassung nicht zu. Wir leben in einer neofeudalen, undemokratischen Gesellschaft, wir sind Untertanen in ethnisch definierten Pseudostaaten.

Was wäre nötig, um dies zu ändern?
Man müsste ein «Dayton 2» organisieren und ein Gleichgewicht zwischen den Rechten des Kollektivs und jenen des Individuums schaffen, das heisst mit Bürgern statt ethnischen Zugehörigkeiten funktionieren.

Wer sollte dieses «Dayton 2» anstossen?
Der Logik nach natürlich die EU, denn Bosnien ist ein europäisches Land, seine Kultur ist europäisch. Ich fürchte freilich, dass die EU dazu nicht imstande ist. Wir sehen an der hoch dramatisierten sogenannten Flüchtlingskrise, dass die EU sich immer noch nicht dazu entschliessen kann, sich von einem Wirtschaftsprojekt zu einer politischen und kulturellen Union zu entwickeln. Wie sollten 500 Millionen EU-Bürger nicht drei Millionen Flüchtlinge aufnehmen können?! Im Moment scheint die EU nicht fähig, zu handeln, also müssten auch die USA aktiv werden.

Vor knapp zwei Jahren gab es in Bosnien eine grosse Protestwelle gegen die anhaltende Blockade und Stagnation, man sprach vom «bosnischen Frühling». Was ist daraus geworden?
Das war eine echte soziale Bewegung, in der durch Hunger vereinte Serben, Kroaten und Bosniaken gemeinsam marschierten und merkten, dass sie durch ihre nationalistischen Führer hungrig gemacht und ausgeraubt werden. Doch dann haben sich gut organisierte gewaltbereite Provokateure unter die Demonstrierenden gemischt und eine ganze Reihe öffentlicher Gebäude in Brand gesteckt, unter anderem das Staatsarchiv und das Staatspräsidium. In der Folge haben sich viele von der Bewegung abgewandt.

Was ist heute noch übrig vom multikulturellen, multiethnischen und multireligiösen Bosnien?
In Sarajevo, Tuzla und Zenica gibt es immer noch einiges davon. Sarajevo ist wahrscheinlich immer noch die einzige Stadt Europas, wo sich niemand wundert, wenn ein Franziskaner und ein Muslim eng befreundet sind. Die kleineren Orte und Dörfer dagegen sind ethnisch völlig «gesäubert». In meinem Geburtsdorf Duvno – an der Grenze zu Dalmatien – gibt es vielleicht noch zwei Prozent verängstigte Bosniaken neben lauter Kroaten. Da gibt es nur noch die Erinnerung an das einstige gemeinsame Leben und die Hoffnung auf die Zukunft.

Gibt es Ansätze zur Aufarbeitung der Verbrechen und Wunden, die der Krieg geschlagen hat?
Die öffentliche Aufarbeitung ist weiterhin stark ethnisch geprägt. In der Republika Srpska zum Beispiel wird die Vertreibung und Ermordung Tausender Bosniaken – etwa in Prijedor – immer noch als Verteidigung der Stadt gefeiert. In der Kunst dagegen – im Film, in der Literatur und im Theater – gibt es Ansätze, über die ethnischen Grenzen hinaus selbstkritisch die neuste Geschichte zu überdenken.

Sie sagen, das Dayton-Abkommen habe keinen wirklichen Frieden gebracht. Wie stabil ist denn dieser Waffenstillstand? Sind erneute kriegerische Auseinandersetzungen denkbar?
Der Waffenstillstand ist sehr stabil, massive Gewaltausbrüche sind nicht zu erwarten. Ich fürchte nur, dieser Waffenstillstand dauere noch Jahrzehnte oder Jahrhunderte. Und in solchem Immobilismus zu leben, ist unerträglich. Dazu kommt das ökonomische Elend. Die meisten hier leben von dem, was die bosnische Diaspora aus aller Welt ihnen schickt, dazu von Gelegenheitsjobs und teils vom wachsenden Tourismus.

Werfen Sie noch einen utopischen Blick voraus: Wo steht Bosnien in zwanzig Jahren?
Es wäre ganz einfach: Man organisiert «Dayton 2», entwickelt ein Gleichgewicht zwischen individuellen und kollektiven Rechten der einzelnen Gemeinden in der bosnischen Gesellschaft, baut einen einigermassen funktionierenden Staat auf – und dann wäre es unsere Aufgabe, das wunderbare Mosaik der Kulturen, des Zusammenlebens wiederherzustellen, zu erneuern. Bosnien ist eine Schöpfung der Kultur! Bosnien hat dreieinhalb Jahre massiver Aggression erlebt und zwanzig weitere Jahre der Versuche, die gemeinsame Kultur zu zerstören. Und doch gibt es noch immer ein wenig Bosnien, weil Kultur äusserst zäh und widerstandsfähig ist, weil Kultur sich in das alltägliche Leben einschreibt!

Romancier und Dramatiker

Dzevad Karahasan (62) ist der bedeutendste lebende Schriftsteller Bosniens. Der Sohn eines überzeugten Kommunisten und einer gläubigen Muslima hat bei den Franziskanern Latein und Griechisch gelernt und ist mit einer serbischen Frau verheiratet. Seine Dramen, Romane, Erzählbände und Essays handeln von den zentralen Fragen des friedlichen Zusammenlebens unterschiedlichster Kulturen.

Im Februar 2016 erscheint beim Suhrkamp-Verlag Karahasans grosse Romantrilogie «Der Trost des Nachthimmels». Sie handelt vom berühmten persischen Dichter, Mathematiker und Astronomen Omar Chayyam (1048–1131) und spiegelt in der Erzählung vom mörderischen Terror der fundamentalistischen Assassinen vor fast tausend Jahren in gespenstischer Vorwegnahme aktuellste Probleme. Weitere Hauptwerke Karahasans: «Tagebuch der Aussiedlung» (1993), «Sara und Serafina» (2000), «Der nächtliche Rat» (2006).

Karahasan lebt wechselweise in Graz und Sarajevo, bis Februar 2016 ist er Writer in Residence der Stiftung Landis & Gyr in Zug.

Abkommen von Dayton

Das Dayton-Abkommen für die ehemalige jugoslawische Teilrepublik Bosnien-Herzegowina wurde am 14. Dezember 1995 in Dayton, Ohio, von den Präsidenten Serbiens, Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas unterzeichnet. Nach dem Massenmord an 8000 bosnischen MuslimInnen durch bosnisch-serbische Truppen in Srebrenica hatte die US-Regierung unter Präsident Bill Clinton den Kriegsparteien diesen Friedensvertrag abgerungen.

Das Abkommen war jedoch von Anfang an umstritten. So liess Dayton zwar die historischen Grenzen unverändert, schuf aber eine komplizierte Staatsstruktur mit zwei weitgehend autonomen, ethnisch definierten Teilstaaten: der serbischen Republika Srpska und der Bosniakisch-Kroatischen Föderation, wobei ein von der Staatengemeinschaft eingesetzter Hoher Repräsentant die Einhaltung des Vertragswerks bis heute überwacht. Die Beendigung des Kriegs, der über 100 000 Opfer gefordert hatte, wurde also mit einem Abkommen erkauft, das die von den serbischen Militärs herbeigeführte ethnische Aufteilung des einst flächendeckend multiethnischen und multireligiösen Landes politisch festschreibt.