Literatur: Willkommen in der Hölle

Nr. 16 –

Was Extremsituationen mit Menschen machen: Der bosnische Autor Dževad Karahasan erzählt in «Einübung ins Schweben» von einem walisischen Intellektuellen, der eher zufällig in einen Krieg gerät. Ein erschütternd-schönes Buch über die Belagerung von Sarajevo.

Sarajevo, September 1992: Auf einer Hochzeitsfeier singt eine junge Sängerin, als dreissig Schritte von ihr entfernt eine Granate explodiert, ein Auto in Flammen aufgeht und eine wilde Schiesserei losbricht. Doch unbeirrt und mit letzter Kraft beendet sie das Lied – ein trotziges Zeichen der Selbstbehauptung. Neben der schwangeren, festlich gekleideten Braut steht ein Stuhl, auf dem das blutige Hemd des kurz zuvor gefallenen Bräutigams ausgebreitet liegt. Bei der Zeremonie sind ausser dem Standesbeamten und dem Imam nur Frauen anwesend – die Männer sind alle gefallen, ermordet oder in der Armee.

Eine von vielen schrecklichen Szenen, die sich beim Lesen des Romans «Einübung ins Schweben» tief einbrennen. In dem kürzlich auf Deutsch erschienenen Buch schreibt der bosnische Erzähler und Essayist Dževad Karahasan dreissig Jahre nach den Geschehnissen erstmals unverhüllt vom Grauen des Krieges und der Belagerung Sarajevos.

Zivilisiertheit und Empathie

Schon kurz nachdem der muslimische Autor, der mit einer Serbin verheiratet ist, Bosnien im Herbst 1993 verlassen hatte, porträtierte er in seinem Essay «Tagebuch der Aussiedlung» (2022 in erweiterter Form neu aufgelegt) so anschaulich wie berührend «seine» Stadt Sarajevo, in der bis 1992 Bosniaken, Kroatinnen, Serben, Musliminnen, Christen und Jüdinnen nebeneinander lebten. Wie im Krieg Zivilisiertheit und Empathie bewahrt werden können, das ist die zentrale Fragestellung des neuen Romans. Schon im «Tagebuch» formulierte der Autor: «Es gilt die Form zu bewahren. Solange wir eine Form haben, können wir existieren – auch als Menschen in einer zerfallenen Welt.»

Als Protagonisten seiner fiktiven Romanhandlung wählt Karahasan den angesehenen walisischen Altphilologen und Mythenforscher Peter Hurd. Im März 1992 für einen Vortrag in die bosnische Hauptstadt gekommen, wird der ältere Mann vom Ausbruch der serbischen Feindseligkeiten überrascht und entschliesst sich spontan, in Sarajevo zu bleiben. «Welcome to hell», quittiert das sein viel jüngerer Übersetzer und Schüler Rajko Šurup, bei dem er unterkommt. Was den beiden sowie den Menschen in Sarajevo zwischen April und Oktober 1992 widerfährt, bildet den Romantext, den der kluge und sensible Rajko als Ich-Erzähler zwei Jahre später niederschreibt.

Der Geisteswissenschaftler Hurd ist überzeugt: «Hier kann ich mein wirkliches Selbst kennenlernen, kann die Authentizität entdecken und begreifen, wer ich bin und wie ich tatsächlich bin.» Seine Aussagen führen auch zur Erklärung des Romantitels: «Wenn der Mensch seinen Grund wahrnimmt», so Hurd, «begreift er, dass er schwebt. […] Nur dann, wenn er seinen Grund wahrgenommen und entdeckt hat, dass es ihn nicht gibt, weiss der Mensch, dass er schwebt.» Und als die beiden Freunde riesige Vogelschwärme beobachten, die die Stadt verlassen, sagt er: «Hier schwebt alles. Rauch schwebt über zahllosen Brandstätten. Die Seelen der Ermordeten und Unbestatteten schweben über und um uns.»

Hurd stürzt sich in die vermeintlich schrankenlose Freiheit in der unter Dauerbeschuss und Belagerung sich auflösenden Gesellschaft – und verliert den Boden. Er lässt sich auf harte Drogen und Korruption ein und berauscht sich am Sterben ringsum. Schliesslich vergeht er sich an Rajkos lebensgieriger, blutjunger Cousine Sanja, mit der dieser zärtlich-geschwisterlich verbunden ist. Nach dem Übergriff des alten Briten flieht sie gebrochen aus der Stadt.

Hurd selber kehrt als menschliches Wrack in sein Haus auf Sizilien zurück. Er sagt von sich: «Ich bin die Wahrheit» – und gleich danach: «Oder nichts.» Der Zerfall des hochmütigen Gelehrten kulminiert im Zusammenbruch bei seinem Auftritt als Gastredner auf der Kasseler Documenta. Der konsternierte Rajko pflegt den Gescheiterten in Sizilien fragend und zweifelnd. Er sieht sich als Narr, der nicht weiss, was zu tun ist «in einer Welt, in der sich Geistesgrössen in etwas zwischen einem kranken Tier, einem Gegenstand und einem unschuldigen Kind verwandeln».

Glanzvolle Verbindung

Früh hatte Rajko gesehen, wie sich im Krieg als «einer Zeit des entblössten Menschen […] die Mitte unserer Gesellschaft schnell und vollkommen aufgelöst hatte», also «jene stille Mehrheit, die durch Scham ihre Begierden und durch Anstand ihre Raffsucht kontrollierte». Die einen würden ihre Höflichkeit, Hilfsbereitschaft, Vornehmheit und Zurückhaltung vervollkommnen, während «die anderen alles ausser ihren persönlichen Bedürfnissen, Wünschen und Genüssen vergessen zu haben schienen».

Dževad Karahasan gelingt es mit Bravour, Aporien und Ambivalenzen des einst weisen Gelehrten und seines rücksichtsvoll-hilflosen Bewunderers einzufangen, und stellt diesen die unhinterfragte Menschlichkeit und Rücksicht einfacher Bürger:innen gegenüber, etwa in der Figur von Rajkos Mutter Ljuba, die lieber keinen echten Kaffee trinkt, den Hurd vom Schwarzmarkt mitbringt, wenn ihre Nachbar:innen keinen haben.

Wie in früheren Büchern – etwa seinem Opus magnum «Der Trost des Nachthimmels» (2016) oder «Sara und Serafina» (2000) – versteht es dieser Autor, literarische Erzählung mit philosophischen Diskursen glanzvoll zu verbinden. Dabei schöpft Karahasan aus seiner tiefen Kenntnis der westlichen wie der östlichen Geistesgeschichte. Den Kern des Buches bilden die nüchtern-präzisen Schilderungen der von den serbischen Aggressoren verantworteten Kriegsgräuel.

Diese kaum erträglichen Szenen webt der Autor fast beiläufig ein in die Darstellung des schwierigen Alltags in einer belagerten Stadt, in der Mangel, Ohnmacht, Trauer und Wut herrschen. Aber auch wilde, verzweifelte Gelage mit Gesang und Tanz kann man in dieser Stadt beobachten. Dann ist da wieder ein alter Grossvater, der mit ein paar Kindern vor der Kleiderausgabe einer humanitären Organisation wartet, als eine Granate alle Kinder tötet. Der überlebende alte Mann beisst sich die Pulsadern durch und verblutet. Oder: Auf einem Friedhof eröffnen Scharfschützen und Artilleristen gleichzeitig das Feuer auf eine kleine Gruppe um ein frisches Grab: «Sie schossen regelmässig auf Menschen, die jemanden beerdigten, auf alle Friedhöfe und zu jeder Tageszeit.»

Virtuoses Plädoyer

Dževad Karahasan ist vor kurzem siebzig Jahre alt geworden, er lebt heute in Graz und Sarajevo. In seiner grossartigen und autofiktionalen Prosa gedenkt er der Leiden seiner Mitbürger:innen und reflektiert zugleich anthropologische Grundfragen: Wie verhält sich der Mensch in Extremsituationen von Gewalt und Verlust?

Dieses Buch, ein vehementes und virtuoses Plädoyer für Empathie mit den Nächsten, hätte er vor dreissig Jahren nicht schreiben können, betont der Autor in einem Interview. Es hätte bedeutet, all das Schreckliche zum zweiten Mal zu erleben: «Erst jetzt kann ich darüber schreiben, ohne verrückt zu werden.»

Buchcover von «Einübung ins Schweben»

Dževad Karahasan: «Einübung ins Schweben». Roman. Aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Griesshaber. Suhrkamp Verlag. Berlin 2023. 304 Seiten. 36 Franken.