Strafstaat: «Das Gefängnis war noch nie dazu da, Verbrechen zu verhindern»

Nr. 4 –

Bestraft wird die Armut, nicht der Verstoss gegen das Gesetz. Sagt der französische Soziologe Loïc Wacquant im Gespräch über Moral, Abstiegsängste und rudernde Staatsanwälte.

Illustration: ein Gebäude mit Säulen, bei welchem hinter Gitterstäben in Käfigen Häftlinge eingesperrt sind

WOZ: Loïc Wacquant, eine Ihrer Hauptthesen lautet, das Strafsystem sei dazu da, Armut zu bestrafen, nicht Kriminalität. Können Sie das erklären?

Loïc Wacquant: Die neoliberale Revolution hat Arbeit, Gesundheit und öffentliche Dienstleistungen zur Ware gemacht – und zwar ohne Rücksicht auf die soziale Verwahrlosung, die das mit sich brachte. Heute lebt das neue städtische, postindustrielle Proletariat mehr schlecht als recht von unsicherer Teilzeitarbeit und kurzfristiger Beschäftigung. Dies führt zu sozialer Unsicherheit, die Kriminalität begünstigt.

WOZ: Wie kam das?

Loïc Wacquant: Von 1945 bis 1970 gab es mit dem Konzernkapitalismus eine Art Abkommen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmer:innenschaft: Marginalität wurde in einer gewissen Weise noch vom Beschäftigungssystem aufgefangen. Ab den siebziger Jahren kam es zu einem grossen politischen und ideologischen Wandel. Politiker wie auch Bürgerinnen haben die Überzeugung entwickelt, dass die Aufgaben- und Tätigkeitsfelder des Staates geschrumpft werden sollen, um gleichzeitig die Disziplin des Marktes auf alle Lebensbereiche auszudehnen. Seit Ende des Nachkriegs-Keynesianismus befinden sich grosse Teile der Beschäftigten in ständiger Angst und Ungewissheit: Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, Angst vor der Streichung von Sozialhilfebeiträgen; Angst davor, kriminalisiert zu werden. Wer arm ist, dem droht das Gefängnis.

Neoliberale Armut

Loïc Wacquants Forschung ist stark von der zwanzigjährigen Zusammenarbeit mit Pierre Bourdieu geprägt. Ihr gemeinsames Buch «Reflexive Anthropologie» (1994) wurde in 22 Sprachen übersetzt. Heute lehrt der 64-Jährige als Professor für Soziologie an der University of California in Berkeley. Seine zentralen Forschungsgebiete sind urbane Ungleichheiten, «racial domination», der strafende Staat, Körper und Sozialtheorie. Bekannt wurde er mit seiner Untersuchung einer Schwarzen Boxergemeinschaft in einem Ghetto von Chicago. Daraus entstand das Buch «Leben für den Ring. Boxen im amerikanischen Ghetto».

2009 erschien Wacquants Schlüsselwerk «Bestrafen der Armen. Zur neoliberalen Regierung der sozialen Unsicherheit», 2023 dann «Die Erfindung der ‹Unterklasse›», eine weitere Kritik an Rassismus und Armutspolitik im Neoliberalismus. Unter dem Titel «Rethinking the Penal State» hielt Wacquant letzten November die renommierte «Adorno-Vorlesung» im Frankfurter Institut für Sozialforschung. 

 

Portraitfoto von Loïc Wacquant
Foto: Jürgen Bauer

WOZ: Ein Teufelskreis.

Loïc Wacquant: Aber einer, der gewollt ist. In den letzten Jahrzehnten konnten wir zwei Dinge zugleich beobachten: Die soziale Wohlfahrt wurde abgebaut, der Strafstaat rigoros ausgebaut. Sowohl in den USA als auch in vielen europäischen Ländern wurden immer mehr Menschen eingesperrt. Die Zahl der Inhaftierten schnellte in die Höhe, aber nicht, weil die Kriminalität stieg, sondern wegen einer umfassenden Neustrukturierung des Staates: Das Bestrafen von Armut ist eine Facette neoliberaler Staatsbildung.

WOZ: Sie sagen also, Sozialpolitik und Kriminalität seien eng miteinander verknüpft?

Loïc Wacquant: Ja. Auf die einfache Beaufsichtigung der Armen durch den Staat im Keynesianismus folgte die doppelte Regulierung der Armut im Neoliberalismus. Aus «welfare» wurde «workfare» und das, was ich in Analogie dazu «prisonfare» nenne: Die Wohlfahrt, also Sozialleistungen, wurde mit einer Arbeitspflicht verknüpft, und der Sozialstaat wurde mehr und mehr zum disziplinierenden Strafstaat, der seine Macht mithilfe von Polizei, Gerichten, Gefängnissen, Bewährungsstrafen, schwarzen Listen, Überwachungsmassnahmen und so weiter durchsetzt. Das Gefängnis ist der Staubsauger für die Klasse der Working Poor und Drop-outs.

WOZ: Gemeinhin wird gerade mit Gefängnissen aber etwas anderes verbunden: das Wegsperren gefährlicher Menschen, die Verhinderung weiterer Verbrechen, vielleicht auch die Besserung von Straftäter:innen …

Loïc Wacquant: Sehen Sie, das Gefängnis hat seit dem Übergang von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaft zwei Aufgaben: das Proletariat zu disziplinieren und in die Fabriken zu zwingen und die Strassen zu säubern. Es war noch nie dazu da, Verbrechen zu verhindern, sondern hatte immer die Funktion, die urbane Marginalität zu organisieren und das Lumpenproletariat wegzusperren. Die Bestrafung wird als Lösung für Missstände dargestellt, aber in der Regel forciert sie nur die Marginalisierung und destabilisiert die Betroffenen weiter. Das Ergebnis ist eine wachsende Kriminalität, auf die der Staat mit weiterer Bestrafung reagiert. Armut wird bestraft, und die Verfestigung der Marginalität setzt wiederum die Logik der Bestrafung in Gang. Das Bestrafen hat zudem eine symbolische Funktion.

WOZ: Welche?

Loïc Wacquant: Die Grenze zwischen «uns« und «ihnen» wird reaktiviert. Wir, die moralischen, verdienstvollen Bürger, die Mittelschicht, und sie, die unmoralischen Armen, die noch dazu Ausländer sind.

WOZ: Darauf hat schon Michel Foucault in seinem Buch «Überwachen und Strafen» von 1975 hingewiesen. Wie hat sich das Gefängnis denn mit dem Neoliberalismus genau verändert?

Loïc Wacquant: Der Unterschied ist der, dass heute viel mehr Menschen hinter Gittern sitzen als früher.

WOZ: Foucault meinte damals sogar, das Gefängnis würde durch die alles durchdringende Disziplinierung der Gesellschaft bald abgeschafft werden.

Loïc Wacquant: Das Gefängnis wurde nicht nur nicht abgeschafft, es feierte ein atemberaubendes Comeback. Seit den siebziger Jahren hat es die Aufgabe, den ökonomischen Schock des Neoliberalismus aufzufangen. Das Mantra des ehemaligen britischen Tory-Innenministers Michael Howard, «prison works» (1993, Anm. d. Red.), ist mittlerweile faktisch unwidersprochen, es gibt einen neuen Common Sense zur Nützlichkeit des Strafens. Anstelle einer Kultur der Kontrolle, die Foucault prophezeite, haben wir heute einen neoliberalen Strafstaat, der proaktiv vorgeht und politisiert ist. Aber Foucault hat noch etwas vergessen.

WOZ: Was?

Loïc Wacquant: Wenn man den Staat nur repressiv auffasst, wie Foucault das tat, oder das Bestrafen nur als Instrument der Klassenkontrolle sieht, wie das materialistische Ansätze tun, vergisst man, dass der Staat, und mit ihm auch der strafende Staat, eine symbolische Wirkung hat: Er stellt Normen her, er ist zentral für die Herstellung einer sozialen Ordnung. Und diese ist verantwortlich dafür, dass dem Staat überhaupt geglaubt wird, dass er erkannt und anerkannt wird.

WOZ: Der Staat verursacht also mit neoliberaler Politik soziale Verheerungen und kaschiert sie anschliessend, indem er die Opfer dieser Politik bestraft?

Loïc Wacquant: Ja, wobei es mit dem Neoliberalismus etwas komplizierter ist. Seine Befürworter:innen reden zwar immer salbungsvoll davon, dass der Staat schrumpfen solle. Aber das ist bloss Ideologie. Die Realität ist, dass der Neoliberalismus ein Regime etabliert hat, das ich liberal und paternalistisch nenne: liberal für diejenigen, die von der Marktwirtschaft profitieren. Und paternalistisch und strafend im Umgang mit den Verlierer:innen. Den Staat gibt es so nicht. Er ändert sein Gesicht, je nachdem, wen er vor sich hat. Wer an der Spitze steht, profitiert von ihm. Diejenigen, die unten sind, werden von ihm diszipliniert und bestraft. Natürlich gibt es Ausnahmen, aber im Grundsatz ist der Staat janusköpfig: Es gibt einen Polizeistaat für die Marginalisierten – und einen Rechtsstaat für die Bourgeoisie. Es gibt Strassenkriminalität und es gibt bourgeoise Kriminalität.

WOZ: Sie stützen Ihre theoretischen Befunde auf zahlreiche empirische Untersuchungen, hauptsächlich des US-amerikanischen Strafsystems. Gelten Ihre Erkenntnisse auch für andere Kontinente?

Loïc Wacquant: Mein Fokus liegt auf Europa und den USA. Und ich würde sagen, es gibt einen amerikanischen Weg zur Bestrafung der Armut und einen europäischen. Die Bestrafung der Armut durch reine Kriminalisierung ist in Europa wegen der historisch stärkeren Verankerung des Sozialstaats weniger stark ausgeprägt. In den meisten europäischen Ländern herrscht noch immer die Überzeugung vor, dass sozioökonomische Ungleichheit zumindest teilweise bekämpft werden muss. Wir können allerdings beobachten, dass sozialstaatliche Institutionen immer öfter aufgefordert werden, mit repressiven Apparaten zusammenzuarbeiten, beispielsweise bei der Sozialhilfe oder im Asylwesen. Der zweite grosse Unterschied besteht darin, dass der europäische Weg zur Bestrafung eher die Polizei als das Gefängnis nutzt. Die meisten europäischen Länder haben bislang die Gefängnispopulation nicht erhöht – und dafür die Polizei ausgebaut. Diese kümmert sich vornehmlich um die sichtbare Kriminalität, also Strassenkriminalität. Letztere gehört zu den «low hangig fruits» für die Strafverfolgungsbehörden: augenfällige Kriminalität, die einfach zu ahnden ist und auch öfter sanktioniert wird.

WOZ: Die Folge ist eine weitere Marginalisierung armer Menschen.

Loïc Wacquant: Genau. Anstatt die soziale Unsicherheit an der Wurzel zu packen, sorgt der Staat für Recht und Ordnung, wie es so schön heisst. Politiker:innen kündigen dann an, die Bahnhofsviertel sicherer zu machen, Obdachlose zu entfernen und so weiter.

WOZ: Die sogenannte Aufwertung von sogenannten Problemquartieren …

Loïc Wacquant: Die marginalisierte Bevölkerung hat von diesen Massnahmen meist gar nichts. Es ist gewissermassen so, als würde man Staub unter den Teppich kehren. Die Mittelschicht macht sich in den ehemaligen heruntergekommenen Quartieren breit, und die sichtbare städtische Marginalität wird aus diesen Vierteln entfernt. Nur ist sie nicht weg, sondern sie wird einfach ins benachbarte Viertel wandern. In den USA konnte man das gut beobachten: Mit Beginn der Reagan-Ära beschleunigte sich der Rückzug staatlicher Regulierung aus den Metropolen drastisch und ging Hand in Hand mit der Automatisierung der Lohnarbeit, dem Abbau der lokalen Sozialstrukturen und der Kriminalisierung der Schwarzen. Dann gibt es aber auch noch ein symbolisches oder moralisches Element städtischer Marginalisierung.

WOZ: Welches?

Loïc Wacquant: Leute wie Sie und ich, die Mittelschicht, wir möchten die Stadt als einen Ort des Konsums erleben, als einen Ort der Annehmlichkeiten. Wir möchten am Samstag rausgehen, spazieren, das Leben geniessen und Kaffee trinken. Aber wie kann man sich amüsieren, wenn ein Obdachloser vor der Tür des Restaurants bettelt? Die Leute wollen das nicht sehen, weil es moralische Bedenken hervorruft oder sie daran erinnert, dass es ihnen auch so gehen könnte, also ihre Abstiegsangst nährt.

WOZ: Wenn wir Sie richtig verstehen, lautet Ihre Antwort darauf: Man muss den Sozialstaat ausbauen. Eine klassisch sozialdemokratische Massnahme.

Loïc Wacquant: Wir müssen ihn nicht nur ausweiten, wir müssen ihn auch umbauen.

WOZ: Was verstehen Sie darunter?

Loïc Wacquant: Umbauen heisst, dass wir einerseits die Ungleichheit reduzieren und andererseits die Bürger:innen vor der Marktdisziplin schützen.

WOZ: Der Strafstaat ist damit aber noch nicht erledigt, wie man etwa in skandinavischen Ländern sehen kann. Was halten Sie von abolitionistischen Zugängen, also Bewegungen zur Abschaffung von Polizei, Gefängnis, Grenzen und Lagern, wie sie beispielsweise Ruth Wilson Gilmore vertritt?

Loïc Wacquant: Abolitionismus ist ein philosophisches Wortspiel, das Wissenschaftler:innen, die im Elfenbeinturm hocken, unter sich spielen – und keines, das die Realität von Verbrechen und Strafen fassen kann. Kriminalität zersetzt das soziale Gefüge gerade jener Viertel besonders stark, die ohnehin schon unter dem Zusammenspiel von «over-» und «underpolicing» leiden. Stadtteile, die zweifach segregiert sind: durch «Race» und Klasse. Das sind die US-Hyperghettos, in denen Schwarze Frauen am meisten leiden. Kurz: Wer nach Abolitionismus ruft, wird nichts ändern und den Strafstaat intakt lassen. Wir müssen seriös bleiben.

WOZ: Spätestens seit 2016 und der ersten Präsidentschaft von Donald Trump haben illiberale und autokratische Regimes Aufwind. Sehen wir nun eine Abkehr vom Neoliberalismus, und wenn ja, was bedeutet das für Ihre Theorie des strafenden Staates?

Loïc Wacquant: Bereits mit der Finanzkrise von 2008 dachten wir, wir würden nun den Tod des Neoliberalismus erleben. Aber das Paradoxe ist, dass die Politik der Marktwirtschaft durch die Finanzkrise sogar noch gestärkt wurde. Ich sehe in den letzten zwanzig Jahren leider den gleichen Trend einer Verfestigung der Marginalität. Es gibt allerdings eine grosse Veränderung.

WOZ: Welche?

Loïc Wacquant: Das Aufkommen der Migrationsfrage. Armut und Gewalt werden zunehmend mit der Figur des Migranten in Verbindung gebracht, insbesondere mit irregulären Migrant:innen, also aussereuropäischen, postkolonialen Einwander:innen, oder mit Menschen, die aus Kriegsgebieten wie Syrien und Afghanistan vertrieben wurden. Das hat die Politik der Bestrafung von Armen weiter erleichtert.

WOZ: Warum?

Loïc Wacquant: Weil sich ein Grossteil der Bevölkerung nicht mit dieser Bevölkerungsgruppe identifiziert. Wenn Migrant:innen zur Zielscheibe von Polizei und Justiz werden, gibt es keine oder nur äusserst schwache Proteste dagegen, weil man glaubt, dass sich diese Politik gegen «sie» richtet und nicht gegen «uns». Das verstärkt das Gefühl der Spaltung. Diejenigen, die für die Missstände in den Städten verantwortlich sind, sind «die anderen»: eine Gruppe, die nicht zu den Einheimischen gehört und der wir die Vorteile der Staatsbürgerschaft nicht zugestehen. Dadurch wird der Kreislauf von Benachteiligung und Marginalisierung weiter angeheizt. Die Politiker:innen benutzen die Figur des kriminellen Einwanderers, um sich selbst zu legitimieren.

WOZ: In der Migrationsdebatte überbieten sich rechte, bürgerliche und auch sozialdemokratische Politiker:innen ja auch mit kühnen repressiven Plänen: Melonis extraterritoriales Asylzentrum in Albanien, die Pläne der Tories zur Auslagerung von Asylverfahren nach Ruanda. Wie ordnen Sie diese Entwicklung ein?

Loïc Wacquant: Vor einem Vierteljahrhundert wäre so etwas wie der Ruandaplan unvorstellbar gewesen. Als ich zum ersten Mal davon las, hielt ich es für einen Scherz. Hier sehen wir paradigmatisch, dass diese Politik in Wirklichkeit nur Rhetorik ist. Weder löst sie das Problem der irregulären Migration noch das der Kriminalität. Sie führt lediglich ein kleines Theater auf, in dem Politiker:innen den Eindruck erwecken können, etwas gegen soziale Probleme zu unternehmen. Diese neoliberale Law-and-Order-Politik ist reine Pornografie: eine Politik, die dazu gemacht ist, beobachtet und bestaunt zu werden. Ein Spektakel für die Bürger:innen.

WOZ: Sie haben gerade dreissig Monate in zwei kalifornischen Strafgerichten verbracht, um die Arbeit von Staatsanwält:innen wissenschaftlich zu untersuchen. Sie sagen, Sie wollten damit eines der Machtzentren des strafenden Staates erforschen. Was haben Sie herausgefunden?

Loïc Wacquant: Alles, was man im Gerichtssaal sieht, und ich würde vermuten, dass dies auch in der Schweiz der Fall ist, ist ein Zeremoniell, ein bürokratisches Ritual. Ich nenne es ein Kabuki-Theater. Die eigentliche juristische Arbeit findet auf den Fluren, in den Kanzleien, in den Büros der Staatsanwälte und der Richterinnen statt, und zwar vor der Verhandlung. Was man im öffentlichen Gerichtssaal sieht, ist nur noch die öffentliche Aufführung dieser bürokratischen Generalproben. Also habe ich mich bemüht, hinter die Kulissen zu gelangen.

WOZ: Was war die Idee hinter dieser Studie?

Loïc Wacquant: Ich wollte zeigen, dass der Strafvollzug nicht nur eine Abstraktion ist, sondern dass es darin eine Reihe von Akteurinnen und Akteuren gibt, die Strategien verfolgen, und dass wir die Funktionsweise des Strafstaats nur an der Basis verstehen können. Ich wollte begreifen, wie die Maschinerie auf der Mikroebene, also im Alltag, funktioniert. Interessanterweise gibt es eine ganze Menge soziologischer Studien über den Input – die Polizei –, und es gibt eine Menge Studien über den Output – das Gefängnis. Aber das Dazwischen – das Gericht – wurde in den letzten fünfzig Jahren von der Wissenschaft sträflich vernachlässigt. Es gibt nur ein paar wenige Studien über Staatsanwält:innen. Ich erinnere mich an eine, die den Titel trägt: «Kann man ein guter Mensch sein und ein guter Staatsanwalt?»

WOZ: Sie sagten, früher hätten Sie die Marginalisierten untersucht, als Sie beispielsweise eine teilnehmende Beobachtung in einer Schwarzen Boxercommunity in einem Ghetto von Chicago unternommen haben. Und nun die Mächtigen. Sind sich die Staatsanwält:innen bewusst, dass sie im Zentrum der Macht stehen?

Loïc Wacquant: Sie sind sich dessen sehr bewusst. Sie wissen, dass sie der leibhaftige Strafstaat sind, dass sie die Strafjustiz verkörpern. Ein Satz eines Staatsanwalts ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Er sagte mir, er rudere täglich in einem gläsernen Boot auf dem Unterbauch der Gesellschaft. Aber was die Staatsanwält:innen nicht wissen, ist, dass auch der Pflichtverteidiger der Strafstaat ist, weil er vom Staat bezahlt wird, um sich gegen den Staat zu wenden und dessen Handlungen zu begrenzen. In gewisser Weise ist auch die Beschuldigte eine Verkörperung des Strafstaats. Staatsanwaltschaft, Verteidigung, Beschuldigte: Überall sieht man den Strafstaat in Aktion.

WOZ: Warum die Beschuldigte?

Loïc Wacquant: US-Staatsanwält:innen fordern oft eine maximale Strafe. Die Beschuldigte sieht sich in der Position, entweder das Risiko einzugehen und ihren Standpunkt vor Gericht zu vertreten oder zu sagen: Ich laufe Gefahr, eine lange Haftstrafe absitzen zu müssen, also lege ich vielleicht besser trotz Unschuld ein Geständnis ab und akzeptiere eine geringere Strafe. Es kommt dauernd zu solchen Deals. Auch in Westeuropa und Lateinamerika ist diese Art der Justiz auf dem Vormarsch. In Deutschland gibt es zum Beispiel ein Verfahren, das sich «Verständigung» nennt.

WOZ: Das wäre in der Schweiz das sogenannte abgekürzte Verfahren, bei dem sich Beschuldigte und Staatsanwaltschaft auf einen Urteilsvorschlag einigen.

Loïc Wacquant: Die Entwicklung führt überall in die gleiche Richtung: weg von der Standardjustiz, hin zur Verständigungsjustiz.

WOZ: Und was ist die Rolle der Staatsanwält:innen im Kabuki-Theater?

Loïc Wacquant: Sie stehen auf der Seite der Moral, auf der Seite der öffentlichen Ordnung. Das Bestrafen geht immer weiter über den Kriminellen hinaus, es definiert, wer ein wertvoller Bürger ist. Indem wir die Kriminellen definieren, definieren wir ja uns selbst. Damit wird ein Diskurs um Kriminalität konstruiert, der einen Spiegeleffekt der Selbstidentifikation erzeugt. Man kann den Kriminellen folgen – und findet die Bürger:innen.