Strafvollzug: «Struktureller Rassismus ist kein Geist im Getriebe»

Nr. 20 –

Eine Uno-Expert:innengruppe wertet den Fall Brian als rassistisch, der Bundesrat muss bis Ende Mai auf eine entsprechende Intervention reagieren. Die Wahrheit liege nicht weit unter der Oberfläche, sagt die Vorsitzende Dominique Day.

«Wenn man sagt, man sehe die Hautfarbe nicht, entscheidet man sich für Ignoranz», sagt die amerikanische Anwältin Dominique Day. Obwohl sie im Gericht jeweils einen Anzug trage, komme es immer wieder vor, dass ein Richter sie für die Angeklagte halte.

WOZ: Dominique Day, Sie haben Anfang des Jahres mit der Uno-Sondergruppe für Menschen mit afrikanischem Hintergrund die Schweiz besucht, um die Situation von Schwarzen Menschen zu untersuchen. Den «Fall Brian» bezeichneten Sie damals als «drastisches Beispiel für strukturellen Rassismus». In der Schweiz wurde der Fall bis dahin kaum in diesem Kontext verhandelt. Überrascht Sie das?
Dominique Day: Ich finde das erstaunlich. In Brians Fall wurden extreme Urteile gefällt, er war länger eingesperrt als viele, die einen Mord begangen haben. Aber bei unserem Besuch hiess es immer wieder, man habe einfach nie durch diese Linse auf den Fall geschaut. Man hat schlicht nicht darüber nachgedacht, wie Rassifizierung das Urteil über ihn beeinflusst hat. Das gilt nicht nur für die Richter oder Staatsanwälte, sondern auch für seine eigenen Anwälte.

Wie erklären Sie sich das?
Wenn ich nach Europa komme, sagen die Leute oft: Ach, Rassismus, das ist doch ein amerikanisches Problem. Bei Rassismus gegen Schwarze glauben viele das erst recht. Natürlich war dem nie so. Das Konstrukt von «race» und den minderwertigen Schwarzen ist transnational. Die Idee, dass Schwarze nicht die gleiche Menschenwürde haben wie die Weissen, ist nicht nur fundamental für unsere Wirtschaft, sondern auch für unsere Kultur. Und die europäischen Länder waren genauso involviert wie die USA, der Handel mit Waren und Schwarzafrikaner:innen war nur mit Kapital aus Europa möglich. Auch die Schweiz tut so, als ob sie nicht in den Kolonialismus verwickelt gewesen wäre. Doch als Kapitalgeberin war sie nicht nur am Rande beteiligt, sondern tief verstrickt. Aber sich damit zu konfrontieren, fällt vielen sehr schwer. Vor allem, wenn es um die eigene Komplizenschaft bei der Erhaltung weisser Vorherrschaft geht und – damit verbunden – um strukturellen Rassismus.

Wie definieren Sie strukturellen Rassismus?
Struktureller Rassismus ist nicht irgendein unsichtbarer Geist im Getriebe. Er konstituiert sich aus den individuellen Entscheidungen von Menschen mit Macht. Eine Lehrerin, die das Schwarze Kind als weniger intelligent einstuft. Der Richter, dem jemandes Aussehen nicht passt. Menschen nutzen ihren Ermessensspielraum auf subjektive und willkürliche Art, um rassistische Überzeugungen durchzusetzen – und diesen gar Legitimität zu verleihen. Vermeintlich beweist man so ja, dass Schwarze dümmer sind oder krimineller. Ich denke, das ist, was im Fall Brian passiert ist.

Was am Fall Brian interessant ist: Seine Rechte werden medial erst seit kurzem stärker verhandelt. Lange war er einfach «das Monster».
Ich habe im Gefängnis eineinhalb Stunden mit Brian gesprochen, und er ist ganz offensichtlich kein Monster. Nach den Medienberichten war ich zum Beispiel auch erstaunt, wie klein er ist. In der Psychologie nennt man dieses Phänomen projektive Identifikation: Die Leute haben ihre eigenen rassistischen Ängste auf Brian projiziert. Man hat ihn zum Monster gemacht, weil man sonst selber das Monster gewesen wäre.

Wie war Ihre Begegnung mit Brian?
Es war eine beeindruckende Begegnung. Besonders, wenn man bedenkt, wie lange Brian davor isoliert gewesen ist. Unsere Delegation hat ihn kurz vor seiner Verlegung in den normalen Strafvollzug besucht. Zu dem Zeitpunkt sass er seit über drei Jahren in Einzelhaft. Oft schalten Personen, die so lange isoliert sind, ab, sie werden verrückt. Brian aber war sozial, er hat es irgendwie geschafft, nicht nur seinen Verstand, sondern auch seine Menschlichkeit zu behalten. Er hat unsere Hände geschüttelt, Augenkontakt gehalten. Und Brian ist sehr reflektiert. Er hat sich selbst Lesen beigebracht, obwohl er kaum in der Schule war. Im Gespräch erwähnte er etwa, dass er Nelson Mandelas Buch «Der lange Weg zur Freiheit» gelesen habe. Darin habe Mandela geschrieben, dass die Gefängniswärter einen grossen Fehler gemacht hätten: ihn nicht dauerhaft in Einzelhaft zu sperren. Brian meinte, er respektiere und bewundere Mandela. Doch ihm sei auch bewusst, dass dieser nicht wie er eine jahrelange Isolation am Stück habe überstehen müssen.

Sie waren nur einige Tage in der Schweiz. Wie können Sie da feststellen, ob sich die hiesige Öffentlichkeit im Fall Brian tatsächlich schuldig gemacht hat?
Wenn wir in der Schweiz darauf bestanden, dass der Fall Brian ein Beispiel für strukturellen Rassismus sei, hörten wir immer wieder: «Das ist einfach Ihre Vermutung, nicht wahr?» Ich finde das schon bemerkenswert. Ich beschäftige mich seit zwanzig Jahren mit strukturellem Rassismus. Und meine Aufgabe bei der Uno ist es, das System in verschiedenen Ländern zu erläutern und zu entlarven. In diesem Fall scheint mit sehr offensichtlich, dass nicht nur Fehler gemacht wurden, sondern Entscheidungsträger auf der Grundlage von rassistischen Überzeugungen handelten.

Weshalb?
Diese Wahrheit liegt nicht sehr weit unter der Oberfläche verborgen. Brian wurden die grundlegendsten Menschenrechte verwehrt, ihm wurde seine gesamte Kindheit gestohlen. Als er zehn Jahre alt war, wurde er fälschlicherweise der Brandstiftung beschuldigt und zum ersten Mal in ein Erwachsenengefängnis gesteckt. In der Psychiatrie hat man ihn nach einem Suizidversuch dreizehn Tage lang am Bett fixiert. Für mich ist sehr deutlich, dass es eine ganze Reihe von Entscheiden und Urteilen gab, die nicht mit kühlem, rationalem Blick auf die Fakten getroffen wurden. Sie spiegeln stattdessen die Vorurteile über dieses Kind wider. Brian ist Schweizer, aber er hat eine Schwarze Mutter. Er ist in Europa geboren und aufgewachsen, und doch betrachtet man ihn als anders und gefährlich. Er berichtete auch, dass er in allen Lebensphasen rassistische Beleidigungen und Schikanen erlebt habe.

Mit fünfzehn hat Brian tatsächlich einem jungen Mann ein Messer in den Rücken gerammt.
Die neusten Erkenntnisse der Kriminalitätsforschung sind eindeutig: Das beste Vorgehen bei auffälligen Jugendlichen ist möglichst wenig Intervention. Keine Polizei, keine Verhaftungen, kein Jugendgefängnis. Denn Kinder wachsen aus dieser Phase heraus. Brian war ein normales Kind. Kein ideales freilich, er hat eine ADHS-Diagnose, war unruhig und unangepasst. Was er gebraucht hätte, wären positive Beziehungen und ein Fokus auf Ressourcen gewesen. Die frühe Konfrontation mit der Polizei hingegen führt oft erst in die Kriminalität.

Forschung gibt es auch dazu, dass Schwarze Kinder anders wahrgenommen werden als weisse. Man schätzt sie zum Beispiel oft zu alt ein.
Ja, es gibt Forschung, die zeigt, dass Schwarze Kinder als weniger kindlich und weniger unschuldig wahrgenommen werden. Man traut ihnen zudem weniger zu, Fehlverhalten reflektieren und verändern zu können – weshalb man sie in Schulen öfter diszipliniert als weisse Kinder. Auch die Polizei wird öfter eingeschaltet. Es gibt Studien, die beweisen, dass polizeiliches Eingreifen bei Schwarzen Kindern viel eher schon in jungem Alter als angemessen wahrgenommen wird. Schwarze Mädchen werden zudem stärker sexualisiert als weisse. Man schätzt sie schon in sehr jungen Jahren als sexuell aktiv und promiskuitiv ein. Und wenn wir nun auf den Fall Brian blicken und auf diese Kette an Überreaktionen, muss man sagen: Es gibt in der Schweiz zwar noch kaum Forschung zu strukturellem Rassismus, aber die Psychologie von «race» ist international und tritt hier deutlich zutage.

Viele Schweizer:innen würden sagen: Wir hatten mit Kolonialisierung und Sklavenhandel nichts zu tun, also liegt uns auch Rassismus gegen Schwarze fern.
Dieses Leugnen ist nicht nur ein Schweizer Phänomen, das begegnet mir überall. Ich glaube, dass nationale Mythen und kulturelle Identitäten oft von Superheldenerzählungen getragen werden. Und die Kolonialisierung ist erst ein paar Generationen her. Noch leben Menschen, die sich an ihre Grosseltern erinnern, die einst nach Afrika gegangen sind und als Helden der Familie gelten. Als diejenigen, die den nachfolgenden Generationen Wohlstand verschafft haben. Niemand will sagen: Mein Vater war ein Rassist, ein Plünderer, ein Vergewaltiger. Man will kein böses Blut verursachen in der eigenen Familie, das kann ich nachvollziehen, auch aus eigener Erfahrung.

Erzählen Sie.
Ich habe einen weissen Grossvater, der bei der New Yorker Polizei arbeitet. Das NYPD war schon immer berüchtigt für seinen Rassismus. Meine weissen Grosseltern haben eine Zeit lang nicht mit meiner Mutter gesprochen, als sie einen Schwarzen Mann heiratete. Und doch liebte meine Mutter ihren Vater sehr. Das Wissen um jemandes Vergangenheit lässt sich oft nicht mit der Liebe in Übereinstimmung bringen, die wir für diese Person haben. Das ist ein grosses Hindernis bei der Konfrontation mit Rassismus. Ich spreche oft über dieses weisse Unbehagen. Als Schwarze Person hat man gelernt, mit diesem Unbehagen umzugehen.

Lässt sich dieses persönliche Unbehagen innerhalb einer Familie auch auf ein Land wie die Schweiz übertragen?
Viele Menschen wollen sich mit diesem Unbehagen auch auf kultureller Ebene nicht konfrontieren, das stimmt. Du lebst in diesem reichen, wunderschönen Land mit der besten Schokolade der Welt, und dann sollst du dich damit konfrontieren, dass all dies auf der Ausbeutung von Menschen basiert. Damit wollen sich viele Leute nicht abfinden. Man ist nicht bereit, sich mit der Komplexität dieser Wahrheit auseinanderzusetzen, will nicht, dass das Selbstbild bröckelt. Das ist eine Entscheidung, denn die Fakten sind ja bekannt. Was bei unserem Besuch in der Schweiz schon auffiel, waren die vielen Abwehrreaktionen. Wie schon gesagt, mussten wir immer wieder über unsere Methode reden statt über Rassismus. Wenn wir in ein Land reisen, treffen wir immer so viele Menschen aus verschiedensten Sektoren wie möglich. Und wir hören immer die gleichen Diskriminierungsgeschichten. Doch wenn wir dann etwa einer Lehrerin von diesem Kind erzählen, das härter bestraft wurde als seine Klassenkamerad:innen, heisst es: Sie erfinden das doch.

Das Problem ist doch: Eine individuelle Erfahrung ist nur schwer als Ausdruck eines strukturellen Problems nachweisbar.
Wie in vielen europäischen Ländern gibt es auch in der Schweiz keine nach Hautfarben geführte Statistik. Das ist eine nachvollziehbare Folge des Zweiten Weltkriegs: Hitlers Rassentheorie hat dazu geführt, dass man sich weit davon distanzieren wollte, diese Unterscheidung zu machen. Das hat allerdings dazu geführt, dass die auf der Hautfarbe basierenden strukturellen Ungleichheiten auch heute verborgen bleiben. Und das, obwohl sie offensichtlich werden, wenn du zum Beispiel durch eine Banlieue in Paris spazierst. In den USA haben wir diese Daten. Aber das hat die Bürgerrechtsbewegung erkämpfen müssen. Wir mussten etwa dafür kämpfen, dass an Universitäten die Prüfungsergebnisse nach Hautfarbe aufgeschlüsselt werden. Nur mit diesen Daten lässt sich untersuchen, inwieweit weisse und Schwarze Student:innen tatsächlich nach den gleichen Massstäben bewertet werden.

Keine Statistik nach Hautfarben zu führen, kann also auch eine Strategie sein?
Wenn man keine Daten auf der Grundlage der Hautfarbe speichert, trifft man die Entscheidung, sich dem Problem des strukturellen Rassismus nicht zu stellen. Das nennt sich strategische Farbenblindheit. Wenn man sagt, man sehe die Hautfarbe nicht, entscheidet man sich für Ignoranz. Dafür, sich nicht mit den eigenen rassistischen Stereotypisierungen auseinanderzusetzen. Tatsächlich sind wir alle nicht farbenblind. Ich arbeite seit langer Zeit als Anwältin. Im Gerichtssaal passiert es mir immer wieder, dass mich der Richter für die Angeklagte hält. Obwohl ich vor Gericht einen Anzug trage, einen Computer bei mir habe, mich angemeldet habe. Und dann gehe ich zur Richterbank, und der Richter sagt: «Oh nein, nur der Anwalt.» In New York gab es dazu sogar immer wieder Studien.

Hier ist die Situation von Schwarzen noch einmal eine andere als in den USA: Sie werden oft nicht als Schweizer gelesen.
In ganz Europa gibt es diesen falschen Glauben, dass es kein Schwarzes Europa gibt, dass also Schwarzsein immer mit Migration zu tun hat. In der Schweiz mit ihrem eher kleinen Schwarzen Bevölkerungsanteil gilt das wohl speziell. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft die Leute bei unserem Besuch von «Menschen afrikanischer Abstammung» versus «Schweizer» sprachen. Das Konstrukt, dass Schwarze anders sind, hält sich hartnäckig. Und vor diesem Hintergrund wurde auch Brian zu einem «Anderen» gemacht.

An der Pressekonferenz zum Abschluss Ihres Besuchs in der Schweiz forderten Sie die sofortige Freilassung von Brian – aber auch, dass er Unterstützung von Menschen afrikanischer Abstammung erhalten solle. Warum?
Ein interessanter Aspekt des Falls ist, dass Brian von jeder Art von Autorität hintergangen wurde. Nicht nur von Strafvollzugsbehörden und Polizei, sondern auch von Staatsanwaltschaft und Gesundheitsfachleuten. Die Psychologinnen und Ärzte, mit denen er zu tun hatte, haben alle einen Eid abgelegt, niemandem Schaden anzutun. Viele haben jedoch in einer zutiefst schädigenden Weise gehandelt. Und Brian ist gescheit, er versteht das.

Von Psycholog:innen will Brian nichts mehr wissen. 
Er weiss, was es bedeutet, rassifiziert zu werden. Sein ganzes Leben war geprägt von aufgezwungenen Interventionen. Aus dieser Dynamik muss er komplett ausbrechen. Vielleicht könnte er mit einer Psychologin oder einem Coach afrikanischer Abstammung eine Beziehung aufbauen, in einem Raum, wo sein «race» nicht als Defizit betrachtet wird. Es gäbe sicher auch viele weisse Fachleute, die ihm dabei helfen könnten, aber leider wurde diese Tür verschlossen von den vielen, die dies nicht getan haben.

Sie fordern auch, dass Brian Reparationen erhalten sollte. Welche Rolle spielt das bei der Bekämpfung von strukturellem Rassismus?
Natürlich kann man seine verlorene Kindheit nicht wiedergutmachen, auch nicht, was er sonst erleiden musste. Doch Brian sollte zumindest etwas Raum dafür bekommen, sein Leben neu zu ordnen. Er sollte sich keine Sorgen darum machen müssen, wie er seine Miete bezahlt, sondern auf seine Gesundheit fokussieren können. Darauf, ein Stück Kindheit und Freude wiederzuentdecken und herauszufinden, wer er als erwachsener Mensch ist. Aber es gibt noch einen anderen Aspekt.

Der wäre?
In der Schweiz hat Geld eine grosse Bedeutung. Es bedeutet viel, wenn etwas finanziell anerkannt wird. Ich denke, ohne finanzielle Wiedergutmachung kann man nicht wirklich von Versöhnung sprechen. Und der Schaden, der angerichtet wurde, verdient definitiv eine Reparatur.

Was sind Ihre sonstigen Empfehlungen an die Schweiz bezüglich strukturellem Rassismus?
Wir haben nach unserem Besuch ein paar vorläufige Empfehlungen abgegeben, in einer ganzen Reihe von Bereichen wie Bildung, Gesundheit und so weiter. Unser definitiver Bericht erscheint dann im September. Staatsanwält:innen sollten zum Beispiel ein Training absolvieren, um mehr über rassistische Strukturen zu lernen und die Entscheidungen der eigenen Behörde kritisch zu hinterfragen. Doch Aufklärung und Training alleine genügen nicht. Was sich in den USA als sehr nützlich herausgestellt hat, sind sogenannte Conviction Integrity Units.

Was kann man sich darunter vorstellen?
Sie untersuchen Urteile auf ihre Fairness und Integrität hin und gehen auch konkret der Frage nach, ob die verurteilte Person nicht vielleicht unschuldig ist. Sie befassen sich mit Fällen von Leuten, die seit langer Zeit im Gefängnis sind, klären, ob eine Person aufgrund rassistischer Vorurteile oder falschen Beweismaterials inhaftiert wurde. Es geht dabei aber auch um die Wahrung von Grundrechten in Prozessen. Eine ähnliche Institution könnte sehr nützlich sein für die Schweiz.

Die Menschenrechtsanwältin

Die US-amerikanische Menschenrechtsanwältin Dominique Day ist Vorsitzende der Uno-Expert:innengruppe für Menschen afrikanischer Herkunft. In ihrer beruflichen Tätigkeit, aber auch in Forschung und Lehre befasst sie sich seit gut zwanzig Jahren mit Rassismus gegen Schwarze und Nichtdiskriminierung. Day hat in Harvard studiert und trägt einen Doktortitel in Rechtswissenschaften der Stanford Law School. Sie leitet zudem die NGO Daylight, die sich weltweit für den Zugang marginalisierter Gemeinschaften zum Recht einsetzt.

Fall Brian : Urteil nicht rechtens

Im Juni 2021 hatte das Zürcher Obergericht Brian wegen Gewalt und Drohungen gegen Gefängnisbeamte zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. Im Dezember hat das Bundesgericht dieses Urteil kassiert. Und im Januar 2022 ordnete es Brians Verlegung aus strengster Isolationshaft in den normalen Vollzug an. Nun muss das Zürcher Obergericht den Fall neu aufrollen.

Die Urteile des Bundesgerichts sind eine Zäsur: Erstmals stellen Richter damit zur Diskussion, ob die Zürcher Justiz im Fall Brian willkürlich und unverhältnismässig gehandelt hat. Auf diesen Standpunkt stellen sich Brians Anwälte: Im Prozess vor dem Zürcher Obergericht machten sie geltend, dass Brian, dessen einzige schwere Tat aus dem Jahr 2009 datiert, aus Notwehr gehandelt habe. Brian wehre sich mit seinen Aggressionen gegen die unmenschliche und erniedrigende Behandlung durch die Strafbehörden, die er bereits seit früher Kindheit erfahren habe. So erlebte Brian etwa schon mit zwölf Jahren monatelange Isolationshaft und wurde als Sechzehnjähriger in einer Klinik dreizehn Tage lang am Bett fixiert. Die nun aufgehobene Isolationshaft in der Haftanstalt Pöschwies dauerte über drei Jahre.

Brian selbst macht geltend, er sei von den Gefängniswärtern regelmässig rassistisch beleidigt worden. Auch die Uno-Sondergruppe für Menschen afrikanischer Abstimmung, die Brian im Winter getroffen und den Fall studiert hat, wertet das Vorgehen der Behörden als «rassistisch motiviert». Eingeschaltet wurde die Expert:innengruppe von Nils Melzer, dem scheidenden Uno-Sonderberichterstatter für Folter.

Melzer, der im Juli zum Internationalen Roten Kreuz wechselt, hat dem Departement des Äusseren als Abschlusshandlung eine Intervention geschickt, die auch Dominique Day, die Präsidentin der Uno-Sondergruppe für Menschen afrikanischer Abstimmung, und Miriam Estrada-Castillo, die Vizepräsidentin der Uno-Arbeitsgruppe zu willkürlicher Haft, unterschrieben. Darin fordert er die Schweiz auf, sieben exemplarische Vorfälle juristisch aufzuarbeiten, darunter Brians erste Verhaftung im Jahr 2006. Die Behörden sind angehalten, bis Ende Mai zu antworten. Dann wird die Intervention zusammen mit der allfälligen Antwort veröffentlicht. Das Obergericht wird den Fall am 14. Juli neu verhandeln.

Sarah Schmalz

Nachtrag vom 24. Mai 2022 : Bundesgericht bestätigt Sicherheitshaft

Nach Redaktionsschluss der WOZ publizierte das Bundesgericht ein weiteres Urteil im Fall Brian. Es wies eine Beschwerde ab, mit der Brian seine sofortige Entlassung aus der Sicherheitshaft erwirken wollte. Laut Brians Anwälten könnte ihr Mandant bald länger in Haft sitzen, als die über ihn verhängte Freiheitsstrafe angesetzt ist. Es bestehe daher die Gefahr einer Überhaft. Zudem verhalte sich Brian seit seiner Verlegung in einen lockeren Vollzug tadellos. Das Bundesgericht anerkennt zwar die Anzeichen einer Verbesserung, geht jedoch weiterhin von einer gewissen Wiederholungsgefahr aus. Auch die Gefahr einer Überhaft bestehe zurzeit noch nicht, sie werde jedoch grösser, je länger die Sicherheitshaft andauere, so das Bundesgericht. Brian bleibt somit vorerst weiterhin im Gefängnis Zürich inhaftiert.