Das Schweizer Strafsystem bestraft Armut. Damit liefert es falsche Antworten auf soziale Probleme.

Wegen Fahren ohne gültiges Billett in einem öffentlichen Verkehrsmittel, einem Verkehrsdelikt oder kleineren Diebstählen über Wochen und Monate ins Gefängnis? «Das ist eher die Regel als die Ausnahme. Und viele der Inhaftierten haben nie eine:n Anwält:in gesehen», sagt Livia Schmid, Anwältin bei humanrights.ch.
In der Schweiz ist eine Mehrheit der Insass:innen wegen kleinerer Vergehen in Haft. Von den 8500 Personen, die 2022 aus einem Gefängnis entlassen wurden, hatten 4000 eine Strafe von weniger als dreissig Tagen abgesessen. Bei 5500 waren es weniger als drei Monate. Zugleich sind viele Gefängnisse überbelegt.
Einiges, was heute im Argen liegt, hat mit der Eidgenössischen Strafprozessordnung (StPO) zu tun. Sie wurde 2011 eingeführt und regelt, wie Strafverfahren abzuwickeln sind. Zuvor gab es in der Schweiz 29 verschiedene StPOs, jeder Kanton machte es etwas anders. Dieser Flickenteppich sollte vereinheitlicht werden. Ein vernünftiges Ansinnen. Doch zusätzlich gab es eine weitere Veränderung: Die Macht, Strafen zu verhängen, verschob sich unversehens von den Gerichten zu den Staatsanwält:innen – vor allem bei leichten Delikten, die von mittellosen Menschen begangen werden.
Die neue StPO hat dazu geführt, dass heute über neunzig Prozent aller Strafverfahren nicht vor ein Gericht kommen, sondern über Strafbefehle erledigt werden. Staatsanwält:innen können Beschuldigte also ohne Gerichtsverfahren bestrafen – mit bis zu sechs Monaten Freiheitsentzug. Eigentlich sollten damit die Gerichte von den leichten Fällen entlastet werden. Die Staatsanwaltschaft eröffnet das Verfahren, beurteilt die Situation und stellt einen Strafbefehl aus. Wenn die Beschuldigten diesen akzeptieren, wird er zum Urteil. Der Strafbefehl selbst ist also nur der Vorschlag eines Urteils. Man muss ihn nicht akzeptieren und kann immer verlangen, dass ein ordentliches Gericht darüber befindet. Den meisten Betroffenen fehlt jedoch das Geld, das Wissen oder beides, um sich gegen einen Strafbefehl zu wehren.
Das ist umso problematischer, als die Staatsanwaltschaft in solchen Verfahren gleichzeitig als Anklägerin und Richterin agiert. Nur in acht Prozent der Fälle hört sie die Beschuldigten vor dem Erlass eines Strafbefehls an, wie eine Studie der Universität Zürich zeigt.
Strafbefehle füllen heute die Gefängnisse. Betroffen sind meist Personen ohne Schweizer Pass, die sich keine:n Anwält:in leisten können. Oder sie verstehen den Strafbefehl nicht, der oftmals per Post kommt, und verpassen die kurze Einsprachefrist von lediglich zehn Tagen. Wer sich hingegen wehrt, erhält zuweilen recht: Jeder fünfte angefochtene Strafbefehl wird vom Gericht aufgehoben, wie der «Beobachter» recherchierte.
Unnötig überfüllte Haftanstalten
Ein grosser Teil der Strafgefangenen sitzt zudem sogenannte Ersatzfreiheitsstrafen ab. 2022 waren gemäss Statistik 53 Prozent aller Insass:innen nur deshalb im Gefängnis, weil sie eine Busse oder eine Geldstrafe nicht bezahlen konnten. Im Kanton Bern etwa drohen mehr als tausend solcher Ersatzfreiheitsstrafen zu verjähren, weil die Gefängnisse voll sind. Um das zu verhindern, will der Kanton beim Gefängnis Burgdorf für 5,5 Millionen Franken Container in Betrieb nehmen. Darin sollen die Kurzstrafen abgesessen werden.
Das Schweizer Strafrecht (StGB) wurde um die Jahrtausendwende totalrevidiert. Das neue StGB, das 2007 in Kraft trat, verfolgte eigentlich das Ziel, kurze Freiheitsstrafen bis zu einem halben Jahr abzuschaffen und durch Geldstrafen oder die Pflicht zu gemeinnütziger Arbeit zu ersetzen. Inzwischen ist offensichtlich, dass die eigentlich gute Idee sozial selektiv funktioniert. Der Schweizer Mittelstand kommt für kleinere Vergehen kaum mehr ins Gefängnis – im Gegensatz zu jenen, die kaum Geld haben oder aufgrund ihres Aufenthaltsstatus keine gemeinnützige Arbeit leisten dürfen.
«Die Gefängnisrepression richtet sich gezielt gegen Ausländer ohne legalen Status und in prekären Verhältnissen. Diese implizite Ausrichtung ist die Hauptursache für die Überfüllung der Gefängnisse», sagt die Sozialwissenschaftlerin Julie de Dardel. Bereits vor einer Verurteilung würden diese Personen im Gegensatz zu Schweizer:innen wegen angeblichen Fluchtrisikos systematisch in U-Haft genommen, auch bei harmlosen Vergehen. «Werden sie dann zu einer Geldstrafe oder Busse verurteilt, landen sie oft trotzdem im Gefängnis, weil sie nicht in der Lage sind, diese zu bezahlen», so de Dardel. Sie forscht an der Universität Genf zu «Prison Degrowth», also zur Frage, wie die Zahl der Gefangenen verringert werden könnte: «Heute werden viel zu viele Menschen eingesperrt. Und es betrifft zunehmend gesellschaftliche Randgruppen.»
Noch vor vierzig Jahren seien in der Schweiz überwiegend Schweizer:innen inhaftiert gewesen: «Heute sind es zu über siebzig Prozent Ausländer:innen.» Das sei im Vergleich eine sehr hohe Zahl; noch höher ist sie gemäss offiziellen Statistiken nur in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Katar, Monaco, Liechtenstein und Luxemburg.
Das schafft ein Zerrbild in der Bevölkerung. Gefangene werden grundsätzlich als Bedrohung für die Gesellschaft angesehen. Dieses Bild steht im Wechselspiel mit einer Straflogik, die auf diese Gefährlichkeit fixiert ist und verspricht, diese durch Strafen zu neutralisieren. In der Wissenschaft wird ein Trend zu einer «Sicherheitsgesellschaft» diagnostiziert, wobei das Strafrecht immer stärker genutzt werde, um soziale Räume und bestimmte Gesellschaftsgruppen zu kontrollieren.
Tausende sitzen also für Bagatelldelikte im Gefängnis. Doch kaum jemand wehrt sich dagegen, weil Gefangene so gut wie keine Lobby haben. Neben humanrights.ch in der Deutschschweiz gibt es in der Romandie noch die Plattform «Infoprisons» oder das Genfer Kollektiv «Parlons prisons», die sich öffentlich für die Rechte von Gefangenen einsetzen.
Deutsche Gefangenengewerkschaft als Vorbild?
Was möglich wäre, zeigt ein Blick nach Deutschland. Vor zehn Jahren haben ehemalige Gefangene gemeinsam mit Inhaftierten die «Gefangenen-Gewerkschaft / Bundesweite Organisation» (GG/BO) gegründet. Ihr Ziel: die Arbeitsbedingungen von Inhaftierten zu verbessern und öffentlich auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. «Am Anfang dachten die meisten, wir seien eine Eintagsfliege», erzählt Manuel Matzke, Sprecher der Gewerkschaft. Doch bald zeigte sich, wie gross das Bedürfnis war: Aus dem ganzen Land trafen Briefe und Anfragen von Gefangenen ein. Öffentlichkeitswirksam kämpft die Gewerkschaft für einen Mindestlohn im Gefängnis sowie für ein Gewerkschafts- und Protestrecht – beides fehlt auch in der Schweiz.
Die GG/BO fordert auch die Abschaffung der Ersatzfreiheitsstrafe. «Das ist reine Armutsbestrafung. Das bringt einfach gar nichts», sagt Matzke. Auch in Deutschland sässen nur etwa fünfzehn Prozent der Gefangenen wegen Vergehen ein, die man gemeinhin als Verbrechen bezeichne. «Der Grossteil sitzt wegen Beschaffungskriminalität, Diebstahl und ähnlichen Delikten. Das ist die falsche Antwort auf ein soziales Problem», so Matzke. «Grundlegend an der Institution Gefängnis in ihrer heutigen Form festzuhalten, ist Unsinn, abgesehen von schweren Verbrechen.» Sei eine Person einmal im Gefängnis, gerate sie oft in einen Teufelskreis. Gefangene müssten zwar arbeiten, seien durch den minimalen Verdienst aber nicht in der Lage, für sich selbst zu sorgen: «Das vermittelt ein Gefühl von kompletter Abhängigkeit, weit über die eigentliche Strafe hinaus», so Matzke. Der Aspekt der Resozialisierung existiere nur auf dem Papier.
Alternativen zur Idee des Bestrafens
Livia Schmid von humanrights.ch sieht ähnliche Mängel auch im hiesigen Strafsystem: «Viele Inhaftierte haben Kinder, sind unterhaltspflichtig. Für die Resozialisierung wäre es essenziell, dass sie ihre Familie unterstützen können und mit einem kleinen finanziellen Polster entlassen werden.» Die meisten verliessen das Gefängnis stattdessen mit Schulden, was die Rückfallgefahr erhöhe. Die Rechtsanwältin resümiert: «Heute tragen Gefängnisse wenig zu einer gerechten und friedlichen Gesellschaft bei. Sie sind zu stark von der Idee des Bestrafens geprägt.» Ersatzfreiheitsstrafen würden im Übrigen gewaltige Kosten verursachen, was wohl den wenigsten bewusst sei.
Wer eingesperrt wurde, weil er öfter ohne Ticket Zug gefahren sei, könne sich das Billett wohl auch nach dem Gefängnisaufenthalt kaum leisten, sagt auch Julie de Dardel: «Soziale Probleme brauchen soziale Lösungen.» Sie fordert ein Moratorium für die Schaffung zusätzlicher Gefängnisplätze. «Würden die Erkenntnisse aus der Wissenschaft stärker in das Strafsystem einfliessen, hätte der Ausbau der Gefängnisse rasch ein Ende», ist sie überzeugt. «Wir sollten uns fragen, wie wirksam strafrechtliche Sanktionen sind, um Gewalt in der Gesellschaft zu verringern und den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.» Schliesslich, so de Dardel, seien dies ja zwei der wesentlichen Ziele des Strafens. Ziele, die die Gefängnisse heute kaum erfüllten.
Dieser Text basiert unter anderem auf einem Hintergrundgespräch mit Stephan Bernard, Rechtsanwalt mit Fokus auf Straf- und Strafvollzugsrecht. Kürzlich erschien sein Buch «Insistieren auf der Sprengkraft des Rechts. Neunzehn Interventionen in die Strafjustiz»: advokaturaussersihl.ch (PDF-Datei).
