Vanessa E. Thompson: «Gewalt ist der normale Modus der Polizei»

Nr. 25 –

Seit es sie gibt, ist die Polizei Garantin bestehender Macht- und Besitzverhältnisse. Lässt sich die Institution überhaupt reformieren? Sozialwissenschaftlerin Vanessa E. Thompson über die Ursprünge des «Polizierens» und überfällige Alternativen.

Portraitfoto von Vanessa E. Thompson
«Es geht darum, Gewaltspiralen anzugehen, anstatt sie einfach weiterzuführen»: Vanessa E. Thompson.

WOZ: Frau Thompson, prügelnde Polizist:innen in Basel, ein Schwarzer Mann, der in Lausanne bei einer Polizeikontrolle stirbt, Repression gegen Kundgebungen in Schweizer Städten: Wie hängt all das zusammen?

Vanessa E. Thompson: In unserem gesellschaftlichen System, das wesentlich auf Privateigentum, Ausbeutung und verschiedenen Formen von Unterdrückung basiert, kommt der Polizei eine besondere Funktion zu. Sie vertritt das staatliche Gewaltmonopol und setzt es durch. Es ist deshalb seit Beginn eine zentrale Funktion der Institution Polizei, die kapitalistische Ordnung aufrechtzuerhalten.

Seit wann gibt es die Polizei?

Historische Quellen lassen darauf schliessen, dass sie als Institution Mitte des 15. Jahrhunderts in Kontinentaleuropa aufkam. Sie prägte sich im Zuge des Übergangsprozesses vom Feudalismus zum Kapitalismus aus, als die Massen von ihrem Ackerland und den Produktionsmitteln getrennt wurden. Um die Menschen zur Lohnarbeit zwingen und sie kapitalistisch ausbeuten zu können, wurden manche Lebensstrategien der Enteigneten – etwa Betteln, «Landstreicherei» oder Sexarbeit – kriminalisiert. Und genau da tritt der Begriff der «Policey» erstmals auf: als Name für eine Form des Regierens, die die verarmten Menschen verfolgte und die aufkommende kapitalistische Ordnung in der Praxis durchsetzte.

Die Polizeiforscherin

Die Sozialwissenschaftlerin Vanessa E. Thompson ist Assistenzprofessorin für Black Studies an der Queen’s University im kanadischen Kingston. Dort forscht sie unter anderem zu staatlicher Gewalt, rassialisiertem Kapitalismus und abolitionistischen feministischen Bewegungen.

Thompson ist Koherausgeberin des Buches «Abolitionismus» (Suhrkamp, 2022). Dieses Wochenende organisiert sie die online besuchbare Konferenz «Racial Capitalism, Krisen, Abolition» (abolitionismus.org) in Hamburg mit. Thompson lebt in Kanada, der Schweiz und Deutschland.

 

Im 16. Jahrhundert kam auch der transatlantische Sklav:innenhandel auf. Welche Rolle spielte die Polizei dabei?

Auch die Überwachung der versklavten «Arbeitskräfte» auf den Schiffen und auf den Plantagen in Nord- und Lateinamerika und der Karibik stellte eine Form des Polizierens dar. Ich verwende den Begriff «Polizieren», weil es mir nicht nur um die Polizei als Institution geht, also um Menschen in Beamtenuniformen. Stattdessen geht es mir um das Zusammenspiel von Regulierungen, Gesetzen, Normen und Praktiken der Kriminalisierung – heute gehören da auch die Medien dazu. Und viele polizeiliche Techniken, etwa Würgegriffe, wurden einst auf den Plantagen in Übersee weiterentwickelt und dann nach Europa zurückimportiert.

Was bedeutet das für die aktuellen Debatten über Polizeigewalt?

Es bedeutet vor allem, dass das Wort «Polizeigewalt» in sich keinen Widerspruch darstellt. Und dass Polizeigewalt nicht in Einzelfällen passiert, sondern dass sie dem normalen Modus der Polizei entspricht. Allerdings sind und waren von dieser Gewalt verschiedene Gruppen ganz unterschiedlich betroffen. Auch gegenwärtig trifft die Polizeigewalt prekarisierte, migrantische und rassifizierte Menschen besonders hart. Andere Personengruppen erleben die repressivsten Seiten der Polizei hingegen kaum direkt am eigenen Leib.

Warum ist das so?

Das hat vor allem mit den strukturellen Positionen zu tun, die marginalisierte Gruppen in einer kapitalistischen Gesellschaft haben. Im Neoliberalismus hat sich das verschärft: Immer mehr Menschen werden im Sinne der kapitalistischen Verwertung überflüssig gemacht, Armut und Wohnungsnot nehmen in der Folge zu.

Die neoliberale staatliche Antwort darauf liegt seit den achtziger Jahren in einem massiven Ausbau der Law-and-Order-Politik. Gesellschaftliche Fragen und soziale Probleme werden immer stärker durch Kriminalisierung sowie Polizeistrategien und -techniken zu lösen versucht. Dazu werden Migrant:innen, Illegalisierte und auch Jugendliche, besonders aus der Arbeiter:innenschicht, als Ursprung gesellschaftlicher Problemlagen konstruiert, stigmatisiert – und dann repressiv verfolgt.

Ganz grundsätzlich setzt die Polizei Recht nicht nur um, sondern schafft in ihrer Praxis auch selber Recht. Das verschafft ihr viel Macht.

Wie meinen Sie das?

Die Polizei schafft gesellschaftliche Trennungen und Realitäten. Mit der bewussten Kriminalisierung von Personengruppen wird zudem gesellschaftliche Panik erzeugt. Letztere wird dann als Legitimation für eine weitere Intensivierung staatlicher Gewalt angeführt. Die Repression nimmt aktuell zu und wird dabei zunehmend autoritär. Vielerorts sehen wir eine massive Aufstockung der polizeilichen Mittel – die Schweiz etwa vervielfachte ihre Beiträge an die europäische Grenzschutzbehörde Frontex.

Viele Staaten sind längst in eine Art innerstaatliche Kriegsführung involviert, die sich vor allem gegen marginalisierte und migrantische Gruppen richtet. Aber auch die Kontrolle und die Zerschlagung widerständischer Gruppen oder linker Bewegungen sind zentraler Teil dieses Polizierens. Aktuell bekommt das die Klimaprotestbewegung stark zu spüren, aber auch viele migrantische und antirassistische Bewegungen.

Ist die Polizei als Institution überhaupt reformierbar?

Wenn wir die Rolle der Polizei in der Gesellschaft anschauen, ist das eine berechtigte Frage. Es ist zwischen zwei Arten von Reformen zu unterscheiden. Eine davon sind «reformistische Reformen», die für Betroffene keine Verbesserungen mit sich bringen: etwa der Einsatz von Körperkameras bei Polizist:innen. Oft heisst es, durch solche lasse sich die Polizei besser kontrollieren. Effektiv bedeuten solche Bodycams aber oft einfach eine weitere technische Aufrüstung der Polizei. Den Opfern von Polizeigewalt helfen sie, empirisch gesehen, kaum.

Und welches ist die andere Art von Reformen?

Solche, die bei der Polizei direkt Ressourcen kürzen und die Mittel stattdessen zu sozialen Infrastrukturen verschieben. Ich meine da nicht repressive psychiatrische Kliniken und auch nicht Sozialarbeit, die ja ebenfalls eine disziplinierende Funktion hat, sondern beispielsweise sozialen Wohnungsbau und eine gute Gesundheitsversorgung für alle.

Sie gehen aber noch einen Schritt weiter und fordern die Abolition. Was ist damit genau gemeint?

Der Begriff «Abolitionismus» bezieht sich auf historische Kämpfe wie jene für die Abschaffung der Sklaverei und des Kolonialismus. Dabei ging es stets genauso um die Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise, die auf diese Systeme angewiesen war.

Abolitionismus strebt also einen grundsätzlichen gesellschaftlichen und systemischen Wandel an. Und zwar einen, der von der sogenannten Peripherie der kapitalistischen Ordnung ausgeht. Die von Sklav:innen angeführte Haitianische Revolution 1791 ist ein historisches Beispiel. Wobei Abolitionismus nie nur ein Projekt von versklavten Menschen war: Bereits mit der Haitianischen Revolution waren auch weisse Arbeiter:innen solidarisch.

Wie würden Konflikte in einer Gesellschaft ohne Polizei gelöst?

Dem Abolitionismus geht es nicht einzig um die Abschaffung des Bestehenden, sondern vor allem um die Schaffung von etwas anderem. Für die aktuelle Situation gilt: Gefängnisse, Grenzen, Polizei müssen weg, aber auch die Produktionsform, die auf diese Systeme angewiesen ist.

Aber für einen neuen Umgang mit Konflikten und Gewalt braucht es den erwähnten Aufbau sozialer, idealerweise basisdemokratischer Infrastruktur. Wenn gesellschaftliche und soziale Grundbedürfnisse und Notwendigkeiten erfüllt sind, werden sich Konflikte ganz anders äussern als heute. Im südspanischen Ort Marinaleda haben alle Menschen ein Recht auf Wohnen – gleichzeitig verfügt er über keine Polizei.

Trotz allem würde es auch in einer abolitionistischen Welt noch ein gewisses Mass an Gewalt geben.

Wie würde mit dieser Gewalt umgegangen?

Grundsätzlich zeigt sich, dass nichtpolizeiliche Methoden viel besser sind, um Menschen aus Gewaltmilieus herauszuholen. In einer abolitionistischen Gesellschaft wird Gewalt auch mit Bezug auf den Ursprung angegangen: Wenn es zum Beispiel zu häuslicher Gewalt kommt, steht erst einmal die Person im Mittelpunkt, die die Gewalt erfahren hat. Braucht diese einen Ort, an den sie sich zurückziehen kann? Welche Unterstützung wird benötigt? Auch die Person, von der die Gewalt ausgegangen ist, wird anschliessend eng begleitet, es werden Fragen der Verantwortungsübernahme verhandelt.

Es geht darum, Gewaltspiralen anzugehen, anstatt sie einfach weiterzuführen. Das sind langwierige Prozesse, die auch mit Scheitern verbunden sein können. Solche Praktiken werden aber weltweit schon vielerorts gelebt – zum Beispiel mit indigenen Ansätzen, auf die sich Abolitionist:innen beziehen. Diese können die Art und Weise, wie wir gesellschaftlich zusammenleben, radikal transformieren.

Prozess in Lausanne : Fall Mike Ben Peter ungelöst

Das Bezirksgericht Lausanne verhandelte diese Woche den Tod von Mike Ben Peter. Der Fall wird in den Westschweizer Medien intensiv diskutiert und erlangte unter anderem aufgrund einer Recherche der «Republik» auch in der Deutschschweiz Aufmerksamkeit.

Im Februar 2018 geriet der zu diesem Zeitpunkt 39-jährige Peter in eine Polizeikontrolle in der Nähe des Lausanner Hauptbahnhofs. Die Situation zwischen Peter und einem Polizeibeamten eskalierte, worauf Letzterer Verstärkung anforderte. Peter wehrte sich gegen den Einsatz, die sechs Polizisten ihrerseits setzten massive Gewalt ein, besprühten ihn mit Reizgas und traktierten ihn an Rippen und Genitalien.

Offenbar drückten die Polizisten den gefesselten Schwarzen Mann minutenlang in Bauchlage auf den Boden und knieten auf seinem Rücken. Peter verlor das Bewusstsein, Reanimationsversuche scheiterten. Kurze Zeit später wurde Peter im Universitätsspital Lausanne für tot erklärt. Offizielle Todesursache: Herzstillstand. Gemäss Autopsie wies der Verstorbene schwere Hämatome an den Genitalien und multiple Rippenbrüche auf.

Die sechs Polizeibeamten stehen nun wegen dieses Einsatzes vor Gericht. Ihre Verurteilung wäre eine Überraschung. Staatsanwalt Laurent Maye sah zunächst eine nachweisbare Mitschuld der Beamten am Tod Peters und forderte eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung. Während des Prozesses schwenkte er dann plötzlich um: In seinem Schlussplädoyer sagte Maye, er sehe nun doch keinen kausalen Zusammenhang zwischen Peters Herzstillstand und der Gewalteinwirkung.

Bereits vor Prozessbeginn wurde Maye für seine halbherzige Anklageschrift kritisiert. Prozessbeobachter:innen beschreiben ihn als passiv und werfen ihm gar Unsorgfältigkeit vor. So soll er beispielsweise einen Zeugen, der zu einer Aussage bereit gewesen wäre, ein Jahr lang nicht angehört haben.

Sein letztes Manöver hingegen hinterlässt vor allem Fragezeichen: Warum hat er die Anklage in letzter Sekunde fallen gelassen, und wie wirkt sich sein überraschendes Schlussplädoyer auf die Entscheidung des Gerichts aus? Das Urteil des Lausanner Bezirksgerichts wird am Erscheinungstag dieser WOZ-Ausgabe erwartet.