Ein Traum der Welt: Vorfreude in Frankfurt

Nr. 42 –

Annette Hug schläft gerade sehr wenig

Diesen Artikel hören (4:00)
-15
+15
-15
/
+15

Wenn diese Kolumne am Donnerstag erscheint, werde ich mehr wissen. Jetzt ist Dienstag, und die Eröffnung der Frankfurter Buchmesse steht kurz bevor. Da werden drei Dichterinnen auf Englisch, Tagalog und Bisaya lesen. Ihre Werke sind in Deutschland bisher nicht erhältlich. Ich lege mir Sätze zurecht, wie das im Hessischen Rundfunk zu kommentieren wäre. Die wollen einen Livekommentar.

Einige Freund:innen in Manila schreiben auf Social Media gegen den Messeauftritt an. Sie kritisieren ihn als «Ausverkauf der Literatur an den internationalen Kommerz». Mit einigem Abstand werde ich ihre Kritik ernsthaft bedenken, jetzt bade ich in der Vorfreude der circa 120-köpfigen Delegation. Wir sind an einem Autobahnkreuz untergebracht. Dass ich mit den anderen Gästen Tagalog spreche, bringt mir Punkte beim Hotelpersonal. Da sind einige Filipinas darunter. Auch sie platzen fast vor Stolz, weil es jetzt dann losgeht. Drei bis vier Veranstaltungen pro Tag und Person stehen an.

Zwei Auftritte von Freund:innen rauben mir allerdings den Schlaf. Sie könnten grossartig werden oder einen deutschen Empörungssturm auslösen oder beides gleichzeitig: Den Krieg in Gaza bringen sie mit Kolonialismus in Zusammenhang. Ein Teil der linken Autor:innen ist aus Protest gegen deutsche Waffenlieferungen an Israel gar nicht gekommen. Sehr viele kritische Autor:innen aber schon.

Patricia Evangelista präsentiert ihr Buch «Some People Need Killing», auf Deutsch übersetzt von Zoë Beck. Darin berichtet sie von der Arbeit als «Traumareporterin» in einem Land, in dem vor allem Lokaljournalist:innen gefährlich leben. «Traumareporterin» hiess während des sogenannten «Krieges gegen Drogen» des Präsidenten Rodrigo Duterte (2016–2022), dass Evangelista Nacht für Nacht an den Tatorten war, wo Polizisten oder Todesschwadronen Menschen erschossen hatten. Sie erzählt die Geschichten der Opfer, ihrer Angehörigen, tut aber auch, was sie als Reporterin immer abgelehnt hat: Sie nimmt sich selbst in den Fokus und fragt, wie es kam, dass sie sich irgendwann vor den eigenen Worten zu fürchten begann, wie sie auf einem Schreibaufenthalt ausser Landes zur Ruhe kommen musste, um nicht mehr hinter jedem Wort ein Täuschungsmanöver oder einen tödlichen Fehler zu vermuten.

In der Lobby des Hotels, in dem wir untergebracht sind, trifft man Grössen der engagierten Literatur, die schon während der Marcos-Diktatur publiziert haben (José Dalisay zum Beispiel, der vom 24. bis 26. Oktober an den Literaturtagen Zofingen auftreten wird). Gestandene Männer und Frauen führen sich die Hand von Albert Alejo zur Stirn. Unter dem Namen «Paring Bert» publiziert er formal strenge Lyrik, die alte tagalische Versformen aufnimmt. Dass man ihn mit der Ehrfurchtsgeste begrüsst, die Kinder ihren Grosseltern schulden, hat nicht so sehr mit seinem Status als Priester zu tun. Viele Delegierte sind nicht besonders gläubig. Während des «Krieges gegen Drogen» schützte Alejo aber gefährdete Menschen, bis er selbst verhaftet wurde. Um ihn aus dem Kreuzfeuer der Mörder zu nehmen, wurde er versetzt. Heute unterrichtet er Sozialwissenschaften in Rom. Mit mir könne er über Rilke sprechen, wurde ihm zugetragen. Er sei da an einem Übersetzungsprojekt. Es kann losgehen.

Annette Hug ist Übersetzerin aus dem Filipino (Tagalog) und Autorin. «Some People Need Killing. Eine Geschichte der Morde in meinem Land» von Patricia Evangelista ist soeben im Verlag Culturebooks erschienen.