Sachbuch: Kultur hat kein Copyright

Nr. 25 –

Der Harvard-Professor Martin Puchner hat eine «neue Geschichte der Welt» geschrieben, wie sein Buch «Kultur» im Untertitel heisst. Toll erzählt und streitbar, aber ohne Polemik.

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Ovaler Lesesaal der Bibliothèque nationale in Paris
Lange Texte haben es heute sogar an Hochschulen schwer: Ovaler Lesesaal der Bibliothèque nationale in Paris. Foto: Vincent Desjardins, Wikimedia Commons, CC BY 2.0

Immer mehr Menschen lesen immer weniger und immer weniger unterschiedliche Bücher. Studien zeigen das, Buchläden wissen es, und vielleicht zeigt auch das eigene Verhalten in diese Richtung. Die Zeit ist endlich, der ganze Internetverkehr von Shoppen bis Streamen geht auf Kosten des Lesens und auch des Verständnisses von allem, was die Kurzstrecke übersteigt. Man kann die Augen schliessen und das Kulturpessimismus nennen. Oder Profis fragen. Dem Lesen fehlt die Kondition, lange Texte haben es selbst an den Hochschulen schwer, so melden viele Professor:innen. «Ich unterrichte praktisch Kurzgeschichten», sagt Martin Puchner im Gespräch, der an der Eliteuniversität Harvard in den USA vergleichende Literaturwissenschaft unterrichtet.

In einem Buch, das nun auf Deutsch erschienen ist, schildert Puchner vierzehn Fälle von Kulturbrüchen, wie wir aktuell in einem stecken: «Kultur. Eine neue Geschichte der Welt» erzählt von der Globalisierung auch der frühsten Kulturen, von ihren Austauschverhältnissen, davon, wie erst ein dauernder Prozess von Aneignungen das Neue hervorgebracht hat, wie Zerstörung und Vergessen immer Begleiterscheinungen waren und welche Speichermedien dabei eine Rolle spielten. Es ist eins dieser Bücher und will es auch sein, die in Zeiten knapper Aufmerksamkeit noch einmal mit dem grossen Besteck die Menschheitsgeschichte auseinanderfalten und die Komplexität von Jahrtausenden einfach erklären – etwas, was europäischen Akademiker:innen noch immer schwerer fällt als US-Wissenschaftler:innen oder solchen, die, wie Puchner, in den USA ausgebildet wurden.

Die schon länger schwelenden Konflikte rund um die sogenannte Identitätspolitik, mithin auch um Antisemitismus und um antimuslimischen Rassismus, wurden in Harvard viel härter ausgetragen als in Europa. Und nun kommen auch noch die Angriffe der Trump-Regierung obendrauf mit dem Ziel, die traditionell liberale bis linke Uni zu schwächen (vgl. «Wie Trump Harvard in einen Kulturkrieg zerrt»). Puchners «Kultur»-Buch, auf Englisch bereits 2023 erschienen, ist auch eine Reaktion auf das Klima in Harvard, bevor Trump die Uni ins Visier nahm. Im Prinzip hält Puchner vierzehn Plädoyers, den immer kulturbildenden Prozess der kulturellen Aneignung differenziert zu sehen.

Von Nofretete bis K-Pop

Die Extreme dieser Diskussion, die in Harvard so weit gingen, nichtindigenen Student:innen das Studium indigener Kulturen verbieten zu wollen, sind mittlerweile mehrheitlich versandet. Sie leben im Zitatenschatz der Rechten weiter, die damit einen noch viel schärferen Kulturkampf führen. In diesem stecken wir drin, jetzt, da die deutsche Ausgabe erschienen ist. Puchner zeigt, dass Kultur nicht besessen werden kann, dass sie immer schon von Ort zu Ort, von Zeit zu Zeit migriert war. Damit untergräbt er, so muss man das nur zwei Jahre nach Erscheinen der englischen Ausgabe bereits sehen, die nun dominanten rechten Fantasien, wie eine «reine» Kultur auszusehen habe.

Der unpolemische Ton Puchners und seine Lust, historische Spuren fast wie einen True-Crime-Podcast zusammenzuführen, lässt einen – kein geringer Verdienst – die hitzigen Debatten zwischendurch vergessen. Vorausgesetzt, man hat die Musse, in die Fälle einzutauchen. So flüssig er erzählt, Puchner geizt nicht mit Details und auch nicht mit den grossen Bögen, um die verschlungenen Wege der Kulturbildung nachzuzeichnen. Wie hängt die zufällig gefundene Büste der Nofretete mit dem Judentum zusammen, wie lässt sich daraus der Monotheismus erklären, der Glaube an einen Gott? Was kann eine kleine asiatische Statuette aus Pompeji über die «Pfropfung» erzählen, wie Puchner die Aneignung griechischer (und etruskischer!) Kultur der antiken Römer nennt? Und wie lassen sich ähnliche, aber immer spezifische Austauschverhältnisse bis zum nigerianischen Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka und zu K-Pop beschreiben?

Dabei erzählt Puchner in sozial sehr diversen Lagen. Mal sind es grosse Persönlichkeiten oder Herrscher:innen, die eine Kulturgrenze überschreiten, mal rekonstruiert er aus der Literatur viel Alltagsgeschichte. Trotz seiner Überzeugung, Geschichte als Austauschverhältnisse zu beschreiben und nie als monolithische Ereignisse, werden diese Prozesse stets über Personen erfahrbar, in ihren Wirkungen, nicht in ihren Konzepten. Das macht sein Buch auch für Nichtprofessorinnen und Nichtstudenten lesbar.

Mündlich hält besser

Nun ist es nicht so, dass Puchner deswegen Gewalt und Ausbeutung, Imperialismus und Kolonialismus verschwiege (das wäre in der Tat lächerlich). Aber die Lektüre vermittelt immer die nicht mehr selbstverständliche Gewissheit, dass Kulturen immer dann verkümmern oder sogar enden, wenn sie sich nur noch auf sich selbst besinnen.

Medien der Überlieferung spielen da nicht nur heute eine Rolle, wie Puchner zeigt. Mündliche Überlieferungstechniken haben sich oft als stabiler erwiesen als bildliche oder schriftliche. Heute, da sich in der rasenden Digitalisierung alle paar Jahre die Speichermedien ändern, verstehen wir das besser als unsere direkten Vorfahr:innen, die mit Jahrhunderten der Schrift auf Papier aufwuchsen.

Was laut Puchner den Blick auf Vergangenheit mindestens so sehr bedroht wie Zerstörung und Medienwandel, ist eine rigide moralische Ablehnung von allem, was nicht auf den Punkt heutigen Werten entspricht. Die Tendenz gerade an seiner eigenen Universität, Geschichte pauschal abzukanzeln, sieht Puchner als Kulturverlust. Sein Buch ist ein Versuch, wieder etwas mehr Leute an die Geschichte heranzuführen – auch solche, die nicht mehr so viel lesen.

Buchcover von «Kultur. Eine neue Geschichte der Welt»
Martin Puchner: «Kultur. Eine neue Geschichte der Welt». Aus dem Amerikanischen von Enrico Heinemann. Klett-Cotta-Verlag. Stuttgart 2025. 432 Seiten.