Film: Queere Utopien sind für alle da
Goodbye, Heteronormativität! In seiner Trilogie «Oslo Stories» feiert Dag Johan Haugerud bedingungslose Fürsorge, verantwortungsvolle Liebe und spontanen, einvernehmlichen Sex.

Das Rathaus von Oslo ist ein Protzbau im Stil der 1930er Jahre, seine sexistischen Skulpturen an den Aussenwänden, so die landläufige Meinung, passen gar nicht zum progressiven Image der Stadt. Heidi (Marte Engebrigtsen) von der Stadtverwaltung sieht das anders: Die Figuren mögen in Stein gemeisselt sein, doch die Werte, für die sie stehen, bestimmen wir.
Heidi führt eine Gruppe von Kolleg:innen ums Gebäude, um ihre Idee zum Hundert-Jahr-Jubiläum der Stadt zu pitchen, die vor 1925 noch Christiania hiess. Das Relief mit nackten Frauen, die sich um nackte Kinder kümmern? Eine Würdigung weiblicher Solidarität, gleichgeschlechtlicher Elternschaft und lesbischer Liebe. Die Prostituierte, ihr Zuhälter und ihr Freier? Vielleicht nur ein Paar mit Lust auf einen Dreier, gesegnet von dem von Möwen umsegelten Fischer als Hüter der vielfältigen sexuellen Belange der Stadt. Heidi strahlt, die Gruppe blickt skeptisch. Eine Trompete dudelt versöhnlich, und auf dem Treppenabsatz schlägt jemand ein Rad.
So beginnt «Love», die erste der drei «Oslo Stories» des norwegischen Regisseurs und Autors Dag Johan Haugerud. Es ist der selbstironische Auftakt zu seiner ambitionierten Trilogie, die ähnlich funktioniert wie Heidis Rathausführung: als überdrehter Rorschachtest für sexuelle Aufgeschlossenheit und Gleichberechtigung.
Um diese steht es selbst bei Heidi nicht zum Besten. Sie versucht, ihre Singlefreundin Marianne (Andrea Bræin Hovig) mit dem reizenden Geologen aus dem Jubiläumsprojekt zu verkuppeln. Doch die Urologin interessiert sich mindestens so sehr für spontanen Sex mit Mobile-Dating-Zufallsbekanntschaften, seit ihr der noch reizendere schwule Pfleger Tor (Tayo Cittadella Jacobsen) auf einer Fähre das Cruising beigebracht hat. Dann sind da die alkoholkranke Exfrau des Geologen und deren gemeinsame Kinder, um die sich Marianne, ein Scheidungskind, sorgt. Tor wiederum kümmert sich liebevoll um einen alleinstehenden schwulen Prostatakrebspatienten.
Abseits der Zweierkiste
Das Leben ist schwer, wenn wir es uns nicht einfacher machen. Das ist die bestechend simple Botschaft von «Love», einer Liebeserklärung an die Liebeskomödie mit erweitertem Sehnsuchtsrepertoire: Alle suchen ihr Glück ausschliesslich jenseits der Standardzweierkiste und mit Blick für das (Un-)Glück der anderen.
Eine grosse Portion (Un-)Glück gibt es auch im zweiten Teil, «Dreams». Johanne (Ella Øverbye) ist siebzehn und zum ersten Mal verliebt, und zwar in ihre strahlende Aushilfsfranzösischlehrerin Johanna (Selome Emnetu). Diese ist eigentlich Modedesignerin, weshalb Johanne sie unter dem Vorwand, stricken zu lernen, regelmässig zu Hause besucht. Ihre intensiven Gefühle und Fantasien schreibt sie auf, um die alles verändernde Erfahrung für immer zu bewahren – oder überhaupt erst wahr werden zu lassen. Für die Lehrerin nämlich war an den Besuchen angeblich nichts Erotisches dran. Ihre Blicke und Berührungen? Nichts als zärtliche Gesten unter Freundinnen.
«Dreams», in Berlin mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, handelt ganz allgemein vom Verliebtsein ins Verliebtsein und der Vermarktbarkeit der Sehnsucht danach – Johannes Aufzeichnungen landen als ermutigendes Beispiel «queeren Erwachens» auf dem Buchmarkt. Nebenbei geht es aber auch um Grenzüberschreitungen in gleichgeschlechtlichen Beziehungen: Sind sie nur schwerer zu erkennen oder tatsächlich anders zu beurteilen?
Wer hat Angst vor David Bowie?
Der radikalste und wohl auch lustigste Teil der Trilogie ist «Sex». Darin tauschen sich gleich zu Beginn zwei glücklich verheiratete Heterokaminfeger über verstörende Männerbegegnungen aus: Der eine ist auf das Sexangebot eines Kunden eingegangen, weil dieser ihn dabei so schamlos lustvoll angesehen hatte; der andere träumt jede Nacht von David Bowie und dessen fürsorglichem Blick beim Händewaschen nach dem Gang zur Toilette. Die Folgen: Beziehungskrise beim einen, Stimmprobleme beim anderen, was angesichts seines bevorstehenden Soloauftritts im Christenchor besonders ungelegen kommt. Merke: Nicht immer gehen Sexualität und sexuelle Identität brav Hand in Hand.
«Love», «Dreams» und «Sex» lassen sich wie im echten Leben unabhängig voneinander und in beliebiger Reihenfolge geniessen. Einen Plot im engeren Sinn darf man nicht erwarten. Alles wird zerredet. Selbst die Kaminfeger quatschen in einem fort. Dafür gibt es luftige Stadtaufnahmen (Kamera: Cecilie Semec) und erhabenen Retro-Orchestersound (Musik: Peder Kjellsby). Auch der Cast ist eine Entdeckung – allen voran Thorbjørn Harr als traumgebeutelter Bowie-Phobiker.
Was die Trilogie verbindet, ist ihr queeres Glücksversprechen. Er habe zeigen wollen, «dass neue Denk- und Verhaltensweisen möglich sind» und «bestimmte Erfahrungen und Praktiken innerhalb der homosexuellen Gemeinschaft wertvolle Erkenntnisse für die Gesellschaft im Allgemeinen bieten könnten», erklärt Dag Johan Haugerud im Werbematerial zur Trilogie. Auch wenn die eine oder andere Szene dadurch in ein «Gaysplaining» kippt: Es ist ihm gelungen.
«Oslo Stories: Love/Dreams/Sex». Drehbuch und Regie: Dag Johan Haugerud. Norwegen 2024. «Love» läuft noch in einzelnen Kinos. «Dreams» startet am 8. Mai 2025, «Sex» am 22. Mai 2025.