Berlinale: Das Urteil der Kinder

Nr. 9 –

Der genauere, weil weniger befangene Blick: Bei der ersten Berlinale unter der neuen Direktorin Tricia Tuttle erzählen auffallend viele Filme aus der Perspektive der jungen Generation. Zeichen einer Verschiebung?

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Filmstill aus «Living the Land»: der zehnjährige Chuang sitzt mit einer alten Frau auf einer Bank
Die traditionelle Lebensweise an der chinesischen Peripherie muss langsam, aber sicher weichen: Der zehnjährige Chuang in «Living the Land». Still: Floating Light (Foshan) Film and Culture

Das Konzept der «Shifting Baselines» stammt aus der Umweltforschung. Es besagt, dass drastische Veränderungen, wenn sie nur langsam genug passieren, kaum wahrgenommen werden – weil jede neue Generation ihre Wahrnehmung anhand neuer Orientierungspunkte (Baselines) kalibriert. Damit kann man etwa erklären, weshalb das grösste Artensterben seit der Dinosaurierzeit kaum jemandem auffällt, aber das Konzept lässt sich auch auf andere Phänomene übertragen. In Kateryna Hornostais «Timestamp», dem einzigen Dokumentarfilm im Hauptwettbewerb der diesjährigen Berlinale, beantwortet eine Vertreterin der ukrainischen Armee die Frage einer Schülerin nach den Auswirkungen des Krieges auf die Psyche der Soldat:innen mit einem Vergleich: Mit den inneren Verschiebungen sei es wie bei einem Film, in dem unmerklich, aber stetig die Spannung steige, bis man sie kaum noch aushalte – trotzdem schaue man dann in der Regel weiter.

In ukrainischen Schulen, insbesondere an Orten nahe der Front, bedeuten Shifting Baselines, dass Schulkinder bald nichts mehr anderes gewohnt sind, als dass im Sportunterricht eben der zielgenaue Handgranatenwurf und in der Biologie das korrekte Anbringen eines Tourniquets zur Blutstillung geübt wird. Oder auch, dass jede Lektion statt von der Pausenklingel auch von einem Luftangriffsalarm beendet werden kann.

Scharlatanerie oder Wahrheit?

Wenn man sieht, wie viele der Filme an der diesjährigen Berlinale aus der Perspektive von Kindern erzählt werden, drängt sich der Gedanke auf, dass auch hier eine Art Verschiebung stattgefunden hat. Filmemacher:innen mit Jahrgang zwischen 1980 und 1990, die jetzt ihren zweiten oder dritten Film gedreht haben und vielleicht inzwischen Eltern geworden sind, mag aufgefallen sein, dass die Welt, in der ihre Kinder aufwachsen, sich von der eigenen deutlich unterscheidet – und dass der Blick dieser Kinder der genauere, weil weniger befangene sein könnte.

Die Siegerfilme

Der Goldene Bär für den besten Film ging an den norwegischen Regisseur Dag Johan Haugerud für «Drømmer» (ab 22. Mai im Kino). Für den besten Erstling in der Sektion «Perspectives» wurde der Mexikaner Ernesto Martínez Bucio für «El diablo fuma» ausgezeichnet. Der Preis für den besten Dokumentarfilm ging an den US-Regisseur Brandon Kramer für «Holding Liat».

Im erdig-schön-komplexen «Living the Land» von Huo Meng (Silberner Bär für die beste Regie) erleben wir zusammen mit dem zehnjährigen Chuang, wie die traditionelle, hier gänzlich unsentimental dargestellte Lebensweise an der chinesischen Peripherie samt ihrer Rituale langsam, aber sicher der radikalen Modernisierung des Landes weichen muss. Keine Generation kann sich ihr entziehen – es sei denn durch den Tod. Und im semidokumentarischen «El mensaje» (Preis der Jury) zieht die neunjährige Annika zusammen mit ihren Ersatzeltern als Medium durch die argentinische Landschaft, um zahlenden Menschen die Kommunikation mit ihren Haustieren zu ermöglichen. Das sieht dann so aus, dass sich beispielsweise eine Katze mit Annikas Stimme über die zahlreichen Besuche ihrer Besitzerin beim Tierarzt beklagt, bei denen sie nur als Alibi dient, um die Affäre der beiden zu verschleiern. Ob Annikas Gabe echt oder Scharlatanerie ist, tritt dabei angesichts der aufrichtigen Fürsorge der Figuren untereinander in den Hintergrund.

Beim deutschen Regisseur Frédéric Hambalek wiederum ist eine Zwölfjährige dank telepathischer Verbindung plötzlich und ohne Ausschaltmöglichkeit über alle Tätigkeiten ihrer Eltern im Bilde. «Was Marielle weiss» führt dabei sehr humorvoll vor, wie sich das Verhalten Erwachsener mutmasslich zum Besseren hin verändern würde, wenn deren Kinder alle Lügen, Beschönigungen und Ausreden als das erkennen würden, was sie in Wahrheit auch sind: Ausdruck einer Überforderung mit der Welt, die in keiner Weise mehr den Vorstellungen entspricht, die man sich einst von ihr gemacht hatte. Irgendwie hat man sich dann doch damit abgefunden, was man auch den Kindern so vermittelt, während man Träumerinnen, Kritiker und andere Eindringlinge – wenn nötig mit Gewalt – von sich fernhält.

Zwischen den Welten

Inwiefern die Häufung dieser Perspektiven im Wettbewerb eine Setzung der neuen Direktorin Tricia Tuttle ist, lässt sich noch nicht abschliessend sagen. Im Siegerfilm «Drømmer» ist es eine siebzehnjährige Schülerin, die vom Begehren für ihre Lehrerin zu Texten irgendwo zwischen Realität und Fiktion inspiriert wird. Was das Alter seiner Hauptfigur betrifft, hätte der Film fast besser in die neue Erstlingssektion «Perspectives» gepasst. Hier war es die Jugend, die dominierte, als Bindeglied zwischen den Welten, mit Perspektiven, die sich überschneiden und miteinander in Konflikt geraten. Mit den formalistischen «Encounters» des vorherigen künstlerischen Leiters Carlo Chatrian haben diese «Perspectives» so gut wie nichts gemeinsam. Die neue Sektion ist einfach ein Gefäss für Spielfilmdebüts, bei denen die Schwächen und Stärken oft noch miteinander identisch sind.