Kurd:innen in der Türkei und Syrien: Nationalistisch kontrollierte Annäherung

Nr. 29 –

Während die türkische Regierung die freiwillige Entwaffnung der PKK feiert, droht in Nordsyrien das Ende des autonomen Rojava. Ein gerechter Frieden ist noch nicht in Sicht.

Diesen Artikel hören (6:21)
-15
+15
-15
/
+15

Gewiss, es ist ein bemerkenswerter symbolischer Schritt: Am vergangenen Freitag legten Dutzende Kämpfer:innen der kurdischen Arbeiter:innenpartei (PKK) im nordirakischen Sulaimaniyya ihre Waffen nieder. Vor den Augen der Weltpresse übergaben sie ihre Gewehre dem Feuer. Schön inszenierte Bilder, die mit viel Skepsis betrachtet werden sollten – noch gibt es viele offene Fragen, und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan instrumentalisiert die zögerliche Annäherung von Kurd:innen und der Türkei zu seinen Gunsten.

Um vorgezogene Neuwahlen zu provozieren – ohne die er für eine dritte Amtszeit gar nicht erst antreten könnte –, braucht Erdoğan die Stimmen der Kurd:innen. Und so heisst es auf seinem Facebook-Account: «Die Türkische Republik ist das gemeinsame Zuhause und das gemeinsame Dach für uns alle.» Am Samstag sprach er bei einer Tagung seiner regierenden AKP mehrfach von einem neuen «Jerusalem-Bündnis» aus «Türken, Kurden und Arabern» und verdeutlichte damit seine regionalen Grossmachtträume. «Damaskus ist unsere gemeinsame Stadt. Diyarbakır ist unsere gemeinsame Stadt. Mardin, Mossul, Kirkuk, Sulaimaniyya, Erbil, Aleppo, Hatay, Istanbul und Ankara sind unsere gemeinsamen Städte.» Trotz aller Unterschiede seien Türk:innen und Kurd:innen gemeinsam die Türkei. Vom seit über hundert Jahren verwehrten Selbstbestimmungsrecht der Kurd:innen kein Wort – stattdessen Nationalismus pur.

Was bekommen die Kurd:innen?

Wie eine dauerhafte Gleichberechtigung von türkischer Mehrheitsgesellschaft und kurdischer Minderheit – immerhin rund ein Fünftel der Gesamtbevölkerung – gelingen könnte, bleibt offen. Weder die PKK noch die Regierung haben offiziell einen Fahrplan vorgelegt, wie es weitergehen soll. Die PKK will eine Generalamnestie für all ihre Mitglieder. Die Kämpfer:innen aus den nordirakischen Kandil-Bergen sollen in die Türkei zurückkehren können, die politischen Gefangenen freigelassen werden. Doch Erdoğan hat keine Versprechen dazu gemacht, welche Gegenleistung die kurdischen Kämpfer:innen für ihre Selbstentwaffnung erwarten können. Vor diesem Hintergrund ist unklar, ob sich die PKK wirklich gänzlich entwaffnen wird; ob zum Beispiel ihre Anhänger:innen im Irak und in Syrien ihre Waffen ohne konkrete Zugeständnisse von der türkischen Regierung abgeben werden.

Erdoğans Ziel aber ist es vielmehr, gemeinsam in einer «Volksallianz» seiner AKP mit der ultranationalistischen MHP und der prokurdischen DEM Gesetzesänderungen voranzutreiben. Sprich: Wenn die Kurd:innen mit uns kooperieren und uns ihre Stimmen geben, gibt es Veränderungen zu ihren Gunsten. Wie aber soll eine Koalition zwischen so konträren Parteien wie der rechtsextremen MHP und der linken DEM gelingen? Die DEM forderte schon vor der Auflösung der PKK, dass die seit 2015 zu Dutzenden eingesetzten Zwangsverwalter:innen in den kurdischen Kommunen abgesetzt werden – dürfen nun die demokratisch gewählten Politiker:innen endlich wieder zurück auf ihre Posten?

Auch viele andere Fragen bleiben vorerst offen. Der ganze Prozess erfolge «weder unter internationaler Aufsicht, noch gibt es ein Reintegrationsprogramm oder rechtliche Garantien», warnt Yaşar Aydın vom Berliner Centrum für angewandte Türkeistudien in einem Beitrag auf der Website des Deutschen Instituts für Internationale Politik und Sicherheit.

Hinzu kommt die gesellschaftliche Zerrissenheit. Auf beiden Seiten gibt es Tausende Familien, die gefallene Angehörige betrauern. Für die Versöhnung braucht es mehr als eine symbolische Niederlegung der Waffen. Ohne dass die Türkei zu Rechtsstaatlichkeit zurückkehre und ohne Gleichberechtigung sei ein dauerhafter Frieden nicht zu erreichen, kommentierte denn auch der Oppositionsführer Özgür Özel den aktuellen Vorgang. Der Chef der sozialdemokratischen CHP steht quasi mit einem Bein im Gefängnis. Rund 15 CHP-Bürgermeister und 200 Parteimitglieder wurden dieses Jahr innert weniger Monate festgenommen. Was jahrelang kurdische Politiker:innen erlitten, widerfährt nun den Sozialdemokrat:innen: Gefängnis, Amtsenthebung, Spaltung.

Und was geschieht mit Rojava?

Während in der Türkei eine Annäherung zwischen Regierung und Kurd:innen möglich erscheint, droht deren autonomer Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien das Ende: Tom Barrack, US-Botschafter in Ankara sowie Gesandter für Syrien, fordert eine Einbindung von Rojava an Syrien unter der neuen Regierung in Damaskus. Die US-Regierung, so Barrack, würde ein «freies Kurdistan» in Syrien nicht unterstützen. Gleichzeitig lobt er die türkische Verteidigungsindustrie und fordert, dass die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), ein der PKK nahestehendes kurdisches Militärbündnis, sich in das syrische Militär integrieren sollen – was diese ablehnen.

Zum einen fühlen sich die Kurd:innen in Rojava von den USA verraten. Jahrelang kämpften sie mit US-Unterstützung gegen den Islamischen Staat. Nach SDF-Angaben starben dabei rund 20 000 Kämpfer:innen. Die SDF fordern daher Sicherheitsgarantien von den USA, zumal sie die Regierung in Damaskus als islamistisch betrachten. Zum anderen wäre damit das seit 2012 aufgebaute selbstverwaltete Projekt Rojava, das sie mit ihren eigenen Streitkräften beschützten, beendet. Womit ein wichtiges Ziel Erdoğans erreicht wäre: kein autonomes Kurdistan, nirgends.