Kommentar zum Nahostkonflikt: Nur eine richtige Seite

Nr. 20 –

Frieden wird es im Nahostkonflikt erst geben, wenn jedes Unrecht als Unrecht verurteilt wird. Egal von welcher Seite es begangen wird.

Auch wenn im Nahostkonflikt wieder einmal die Gewalt eskaliert, sollte man der Versuchung widerstehen, sich auf eine Seite des Konflikts zu schlagen. Es gibt in diesem Konflikt nur eine richtige Seite: jene von Demokratie, Freiheit und Völkerrecht.

Israels Bombardierung des Gaza-streifens, die über 200 Menschen getötet hat, darunter über 60 Kinder, gehört klar verurteilt. Wer dies tut, muss jedoch ebenso den Raketenbeschuss von Israels Zivilbevölkerung durch die Hamas verurteilen, der mindestens zehn Menschen getötet hat; genauso wie die antisemitische Hetze an den jüngsten propalästinensischen Demonstrationen in europäischen Städten. Und wer Letzteres verurteilt, sollte wiederum nicht über die jahrzehntelange völkerrechtswidrige israelische Besetzung der palästinensischen Gebiete schweigen.

Kein Unrecht rechtfertigt ein anderes: weder die Besetzung die Hamas-Raketen und den Antisemitismus – noch umgekehrt. Auch deshalb, weil viele Israelis und PalästinenserInnen nichts für die Gewaltpolitik ihrer religiös-nationalistischen Führungen können.

Gleichzeitig vermag die Besetzung einen grossen Teil der aktuellen Gewalt zu erklären. Dies anzuerkennen, ist wichtig: nicht um einen Schuldigen auszumachen, sondern um einen Ausweg zu finden. Wer nie in den palästinensischen Gebieten unterwegs war, kann es sich nur schwer vorstellen: Israel hat seit der Eroberung des Westjordanlands 1967 eine hochkomplexe Militärzone mit Grenzzäunen, Strassenblockaden, Checkpoints und Wachtürmen errichtet, in der PalästinenserInnen täglich physische Gewalt erleben. Dazwischen werden ständig neue israelische Siedlungen gebaut, die über Schnellstrassen mit dem israelischen Staatsgebiet verbunden sind, während die PalästinenserInnen auf ein paar Landflecken zurückgedrängt werden. Ex-US-Präsident Donald Trump stand in den letzten Jahren uneingeschränkt hinter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der so rücksichtslos neue Fakten schafft wie keiner vor ihm.

Der Gazastreifen unterliegt seit Jahren einer völkerrechtswidrigen israelischen Blockade. Die Wirtschaft liegt am Boden, es fehlt an Trinkwasser, Strom und Medikamenten. In Ostjerusalem werden PalästinenserInnen weiterhin systematisch von SiedlerInnen mit der Hilfe der israelischen Polizei aus ihren Häusern vertrieben. Und selbst die christlichen und muslimischen sogenannt arabischen Israelis (mit palästinensischem Hintergrund) wurden spätestens mit dem Nationalstaatsgesetz von 2018, das Israel als Staat der JüdInnen definiert, quasi zu BürgerInnen zweiter Klasse.

Die aktuelle Gewalt hat sich unter anderem an den neusten angedrohten Räumungen palästinensischer Häuser im Ostjerusalemer Quartier Scheich Dscharrah entzündet. Es folgten Kämpfe von Jugendlichen mit der israelischen Polizei, die Erstürmung der Al-Aksa-Moschee, Proteste im Westjordanland, die Raketen der Hamas und Israels Bomben auf den Gazastreifen. Neu kam es auch zu Ausschreitungen arabischer Israelis wie auch jüdischer Nationalisten in Israel selbst (vgl. «Kein Konflikt von ein paar Tagen» ).

Die Besetzung als zentrale Ursache für die aktuelle Gewalt anzuerkennen, wäre auch für die USA und Europa, inklusive der Schweiz, wichtig: Sie tolerieren die Besetzung seit Jahrzehnten. Natürlich würde das Ende der israelischen Besetzung allein die Gewalt, den Nationalismus und den bedrohlich erstarkenden Antisemitismus in Europa nicht zum Verschwinden bringen. Nötig sind ebenso ein beidseitiger Gewaltverzicht, Dialog und wirtschaftliche Perspektiven für die Betroffenen. Vor allem aber braucht es eine Stärkung jener Menschen, die abseits der medialen Aufmerksamkeit auch in diesen Tagen auf beiden Seiten für Demokratie, Freiheit und die Einhaltung des Völkerrechts kämpfen.

Gleichzeitig darf der Aufruf zum Dialog nicht dazu missbraucht werden, die Entrechtung der PalästinenserInnen von der Traktandenliste zu kippen. Solange sie besteht, wird es keinen Frieden geben.