Film: Falscher Alarm?

«Das Wirkliche ist nur ein Sonderfall des Möglichen und deshalb auch anders denkbar», heisst es in Friedrich Dürrenmatts Roman «Justiz». Auch der erste Spielfilm des norwegischen Regisseurs Halfdan Ullmann Tøndel kreist um einen Vorfall, von dem unmöglich zu beweisen ist, dass er tatsächlich stattgefunden hat. Und ähnlich wie bei Dürrenmatt scheint das in «Armand» gar nicht relevant zu sein. Viel wichtiger: Wer befindet wen für schuldig, und was verleitet zu dieser Annahme? Was, wenn es in der Schuldfrage nicht um Wahrheitsfindung geht, sondern darum, ob jemand gesellschaftliche Akzeptanz geniesst oder nicht?
Weil sich ihr sechsjähriger Sohn Armand gegenüber einem Schulkameraden sexuell übergriffig verhalten haben soll, wird die verwitwete Schauspielerin Elisabeth (Renate Reinsve) zu einer Aussprache vorgeladen. Noch will die Schulleitung abwarten, wie sich der Fall entwickelt – vielleicht löst er sich ja von selbst. Der Rektor würde gerne nach Hause gehen, aber auch der Alarm, der die Sprechstunde immer wieder unterbricht, erlöst ihn nicht: Nur ein falsches Signal, der Feuermelder ist kaputt.
«Armand» beginnt als Drama, doch in seiner zunehmenden Entgrenzung von Gegenwart und Vergangenheit wandelt sich der Film fast unmerklich zum Thriller. Mystisch-sphärische Musik setzt ein, durch schattige Schulhauskorridore mit Kinderzeichnungen führt die Kamera zu einem tropfenden Wasserhahn in ein rot gefliestes Badezimmer. Spätestens jetzt erinnert der Film an Stanley Kubricks «The Shining», die Bedrohung wird körperlich spürbar.
Die Schule, ein mehrflügeliges Gebäude, entpuppt sich als Irrgarten. Türen fallen zu, man hört entfernte Geräusche von Absätzen, eindringliche Gespräche mit dem Rektor vor Raum 330. Wechselnde Konstellationen und Allianzen zwischen den Beteiligten verstärken die Desorientierung. Weil eine ungeklärte Situation nicht auszuhalten ist, muss eine Verurteilung her. Die Kinder funktionieren dabei als Symptome der Welt der Erwachsenen – die Suche nach Erklärung und Schuld bleibt Letzteren vorbehalten. Die Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge sind bis zuletzt unscharf.