Verkehrspolitik: Verfassungsbruch am Gotthard

Nr. 20 –

Immer noch durchqueren zu viele Lastwagen die Schweizer Alpen. Nun soll auch noch der Lkw-Bahnverlad zwischen Deutschland und Italien wegfallen. Aber wie sinnvoll ist dieser eigentlich?

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Symbolbild: Lastwagen auf einem Güterzug, welcher in ländlicher Gegend unterwegs ist
Für kleinere Firmen ideal: Werden ganze Lastwagen auf die Bahn verladen, kann der Chauffeur am Zielort direkt weiterfahren. Foto: Ralpin AG

Die Million ist nahe. Letztes Jahr haben 960 000 Lastwagen die Schweizer Alpen durchquert. «Spätestens nächstes Jahr wird die Million wohl überschritten», sagt Brigitte Wolf.

Sie ist Kopräsidentin der Walliser Grünen und Vizepräsidentin des Vereins Pro Alps. Dieser hiess bis vor kurzem Alpen-Initiative und wacht darüber, dass die gleichnamige Volksinitiative, die 1994 mit knapp 52 Prozent Ja und von siebzehn Ständen angenommen wurde, endlich umgesetzt wird. «Der Bund schützt das Alpengebiet vor den negativen Auswirkungen des Transitverkehrs»: So steht es seither in der Verfassung. Das Güterverkehrsverlagerungsgesetz konkretisiert den Auftrag: Pro Jahr dürfen höchstens 650 000 Lastwagen die Alpen queren. Der heutige Zustand widerspricht also Gesetz und Verfassung.

Nun droht der Verlagerung von der Strasse auf die Schiene ein weiterer Rückschlag: Vergangene Woche gab das Unternehmen RAlpin AG bekannt, es werde in Absprache mit dem Bund die «Rollende Autobahn» (Rola), den Verlad von Lastwagen zwischen Freiburg im Breisgau und dem norditalienischen Novara, schon Ende Jahr einstellen. Die Nachfrage sei zwar gut, aber immer mehr Züge fielen aus, schreibt RAlpin, vor allem wegen der «anhaltend hohen Störungsanfälligkeit der Schieneninfrastruktur in Deutschland». So lasse sich die Rola trotz finanzieller Unterstützung des Bundes nicht mehr wirtschaftlich betreiben. Die Aktionäre der RAlpin sind die SBB, die BLS und der Güterverkehrskonzern Hupac.

«Dieser Entscheid ist demokratiepolitisch heikel», sagt Brigitte Wolf. «Das Parlament hat vor zwei Jahren die Verlängerung der Rola bis 2028 beschlossen.» Auch die grüne Baselbieter Nationalrätin Florence Brenzikofer kritisiert das abrupte Aus der Rola: «Es braucht eine Lösung bis Januar – sonst drohen den Alpentälern mehr Stau, mehr Lärm, mehr CO₂. Wir erwarten, dass der Bundesrat bis dann eine Strategie hat, wie er den Mehrverkehr eindämmen will.» Dieser habe die Verlagerung auf die Schiene in den letzten Jahren vernachlässigt. «Ich fürchte, dass ohne Rola auch das Nacht- und Sonntagsfahrverbot für Lastwagen unter Druck kommt.»

Klimafreundlich? Ineffizient?

Nach Angaben von RAlpin können mit der Rola jedes Jahr 30 000 Tonnen CO₂ eingespart werden, weil die Lastwagen mit dem Zug statt mit dem eigenen Motor durch die Schweiz fahren. 30 000 Tonnen: Das entspricht dem jährlichen CO₂-Ausstoss von 2500 Durchschnittsschweizer:innen.

Das Bundesamt für Verkehr schreibt hingegen auf eine Anfrage der WOZ: «Bei der Rola handelte es sich von Beginn weg um eine Übergangslösung. Der Verlad ganzer Lastwagen inkl. Chauffeur von Grenze zu Grenze ist im Vergleich zum unbegleiteten kombinierten Verkehr nicht effizient und ökologisch nicht sinnvoll.»

Was stimmt nun? Ist die Rola ein Beitrag zum Klimaschutz – oder unökologisch und ineffizient?

Ohne Einschränkungen durch Baustellen könnte RAlpin bis 80 000 Lastwagen pro Jahr transportieren. Das sind jedoch nur sieben Prozent des sogenannten kombinierten Verkehrs durch die Alpen. Beim grossen Rest wird nicht mehr der Lastwagen, sondern nur noch ein Container oder ein sogenannter Sattelauflieger – der Teil des Sattelschleppers ohne das Fahrzeug – auf die Eisenbahn verladen. Das macht den Transport leichter, damit ökologischer und viel günstiger. Bei diesen Transporten ist das Unternehmen Hupac führend. Warum überhaupt noch ganze Fahrzeuge verladen?

«Unsere Kunden sind vor allem kleinere Firmen», erklärt Ludwig Näf, CEO von RAlpin. «Zum Beispiel Firmen aus Deutschland oder den Niederlanden, die in Italien keine Niederlassung haben, also Container nicht selbst in einem italienischen Terminal abholen können. Oder italienische Firmen mit dem gleichen Problem. Solche Firmen wählen die Rola, weil der Chauffeur einfach weiterfahren kann.» Was werden diese Firmen tun, wenn es die Rola nicht mehr gibt? «Manche werden versuchen, sich zusammenzuschliessen, um Container- oder Sattelaufliegerverlad möglich zu machen», sagt Näf. «Aber ein Teil wird wieder die Strasse nutzen – zumindest als Übergangslösung.»

Zu politischen Fragen möchte sich Näf nicht äussern, dafür sei das Bundesamt für Verkehr zuständig. Falls der Bund die Rola stärker subventionieren würde, könnte man über einen Weiterbetrieb bis 2028 diskutieren – die Subventionen pro Lastwagen würden dann allerdings immer höher. «Und bei den Baustellen in Deutschland sehe ich in den nächsten Jahren keine Entspannung.» Einen Containerzug könne man auch einmal stundenlang warten lassen, bis die Strecke frei sei. «Das geht bei uns nicht, da fahren die Chauffeure mit.»

Novara wurde als Zielort nicht nur gewählt, weil es zentral in der Poebene liegt und von Genua, Turin, Mailand und der Adria aus gut erreichbar ist, sondern auch, weil auf der Strecke Freiburg–Novara die Ruhezeit der Lastwagenfahrer genug lang ist. Die Arbeitsbedingungen bei den Speditionsfirmen seien hart, sagt Näf, viele hätten Niederlassungen in Osteuropa, um ihre Chauffeure nach den dortigen Bedingungen anstellen zu können.

Streit um die Maut

Die Rola ist also alles andere als perfekt – doch ohne sie verschärfen sich die Probleme. Pro Alps suche das Gespräch mit den Verantwortlichen und fordere den Bundesrat zum Handeln auf, sagt Brigitte Wolf. «Eine Verlängerung um ein oder zwei Jahre gäbe der Politik mehr Zeit, um eine Strategie für den Güterverkehr auf der Schiene zu entwickeln, und den Transportfirmen, um langfristige Lösungen zu finden.»

Ein Instrument, das die Verlagerung vorantreiben könnte, ist die Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (LSVA). Ihre Revision steht ohnehin bevor, die Botschaft des Bundesrats soll in Kürze veröffentlicht werden. «Es braucht eine Erhöhung der LSVA», sagt Florence Brenzikofer.

Ein weiteres Instrument wurde letzte Woche im Parlament äusserst knapp abgelehnt: eine Maut für den Gotthardtunnel. Corina Gredig, Matthias Samuel Jauslin (beide GLP) und Simon Stadler (Mitte) hatten identische Motionen dazu eingereicht. Die Idee: ein variables Preissystem, das den Verkehr zu Spitzenzeiten verteuern und so besser verteilen soll. Der Zustand auf den beiden Nord-Süd-Routen sei unhaltbar, sagte Stadler im Nationalrat.

Doch Simone Gianini (FDP) sorgte sich um die Erreichbarkeit des Tessins und Monika Rüegger (SVP) um die Familienferien, Martin Candinas (Mitte) fürchtete Ausweichverkehr in Graubünden und Christian Wasserfallen (FDP) neue Steuern. Am Ende stand es neunzig Ja zu neunzig Nein, und Ratspräsidentin Maja Riniker (FDP) gab den Stichentscheid: Nein.

«Das Thema ist noch nicht erledigt», sagt Brenzikofer. «Wir sollten eine Maut nur für den Schwerverkehr in Betracht ziehen. Sie hätte weniger Opposition aus dem Tessin und generell mehr Chancen.» Pro Alps hat angekündigt, eine Volksinitiative für eine Maut zu prüfen. «Am Freitag trifft sich unser ‹Thinktank›, der Alpenrat, und diskutiert über das Verkehrsproblem am Gotthard», sagt Wolf.

Ein Zug statt viele Lkws

Verkehrspolitik ist oft reines Reagieren: Fast niemand spricht davon, ob und wie sich Transporte auch vermeiden liessen. «Es ist oft günstiger, Produkte an weit entfernten Standorten zu produzieren, da nicht alle Kosten berücksichtigt sind», sagt der Luzerner SP-Nationalrat David Roth. «Die alten Beispiele vom Joghurt, das von Deutschland nach Griechenland gefahren wird und wieder zurück, bleiben aktuell.» Die Schiene sei teuer, die Strasse billig. «Wenn alles so teuer wäre wie die Schiene, wäre es attraktiver, weniger zu transportieren. Wenn alle externen Kosten des Strassentransports von den Auftraggeber:innen getragen werden müssten, bräuchte es deutlich weniger Subventionen für die Schiene.» Das würde dazu beitragen, sinnlose Transporte zu vermeiden – und sei doch in der aktuellen politischen Lage nicht möglich: «Heute müssen wir den Schienengütertransport subventionieren, damit das Ungleichgewicht nicht noch schlimmer wird.»

Unterstützung für die Schiene könnte von unerwarteter Seite kommen: «Die Demografie spricht für die Bahn», sagt RAlpin-CEO Ludwig Näf. Wie in vielen Branchen gebe es auch bei den Chauffeuren Fachkräftemangel. «Und die Schiene braucht deutlich weniger Personal, um dieselbe Warenmenge zu transportieren.»