Die zweite Gotthardröhre: Eine geschönte Rechnung

Nr. 38 –

Lastwagenkontrollzentrum bei Altdorf: Würde man die LKWs ab hier verladen, wären Uri talaufwärts und die Leventina bis nach Biasca für immer vom Transitschwerverkehr befreit.

Wenn Hugo Wandeler recht hat, ist es ein ökonomischer Irrsinn, einen zweiten Strassentunnel durch den Gotthard zu treiben. Nach Berechnungen des Zürcher Planers und Gotthardspezialisten wäre es viel lohnender, den Verkehr auf die Schiene zu verlagern. Der Bundesrat hat sich Ende Juni jedoch für die zweite Röhre entschieden, weil es die «sinnvollste Lösung» sei. Der zweite Strassentunnel soll gebaut werden, damit der erste repariert werden kann.

Während der Sanierung der heute dreissigjährigen Röhre muss der Tunnel für rund 900 Tage gesperrt werden. Die Arbeiten sollen ab 2019 in Angriff genommen werden. Laut Bundesamt für Strassen (Astra) kosten sie je nach Variante 1,2 bis 2 Milliarden Franken, wenn gleichzeitig ein Auto- und Lastwagenverlad eingerichtet würde. Mit einem neuen Tunnel, jedoch ohne Verlad, kostet sie 2,8 Milliarden. Für nur zusätzliche 800 Millionen Franken bekäme man also einen weiteren Durchstich, Mehrverkehr gäbe es keinen, weil später die Tunnel nur in je eine Richtung befahren werden dürften, versichert der Bundesrat. Die Tessiner Regierung wäre mit dieser Lösung glücklich, der Tessiner Tourismus auch und das Baugewerbe sowieso.

Hugo Wandeler fand die Zahlen des Astra unlogisch. Er beschäftigt sich als Mitglied einer Arbeitsgruppe des Vereins Alpen-Initiative (vgl. «Die Alpeninitiative» im Anschluss an diesen Text) seit Jahren mit dem Verkehr am Gotthard. Wandeler wollte nachrechnen, doch fehlten ihm die nötigen Daten. Also fragte er beim Astra nach: Direktor Rudolf Dieterle schrieb ihm, dass bei den Berechnungen «allfällige Beförderungsgebühren nicht enthalten» seien. «Es hat sich bestätigt, was ich vermutet habe: Beim Kostenvergleich wurde kein Ertrag aus Beförderungsgebühren berücksichtigt», sagt Wandeler.

Die Laster würden durch den neuen Basistunnel zwischen Altdorf und Biasca verladen, die Personenwagen zwischen Göschenen und Airolo. Zahlte jeder LKW für diese Leistung 200 Franken und jedes Auto 25 Franken, brächte das dem Bund Einnahmen von rund 800 Millionen Franken. «Das Hauptargument für die zweite Tunnelröhre – dass die Kosten für den Autoverlad nicht nachhaltig seien –, trifft somit nicht mehr zu», sagt Wandeler, «vielmehr hilft der Autoverlad mit, die Tunnelsanierung zu finanzieren.» Nach dieser Rechnung kostet die Variante Tunnelsanierung mit Verlad am Ende nur 870 Millionen Franken – der Bau einer neuen Röhre wäre mehr als dreimal teurer.

Umstrittener Lastwagenverlad

Alf Arnold steht auf der Aussichtsplattform und erklärt vor Ort, worum es beim komplexen Disput geht. Ein makellos blauer Himmel wölbt sich über Uri. Im Süden erhebt sich wie eine Pyramide der Bristen, weiss vom ersten Schnee. Hier, zwischen Altdorf und Erstfeld, werden einmal die Züge in den Gotthardbasistunnel eintauchen. Ein breites Schottertrasse erstreckt sich Richtung Urnersee. Überall türmen sich Kiesberge, Gestein, das man aus dem Berg geholt hat. Eine Mondlandschaft, wo einst Wiesland war. In Uri gibt es nicht viel flaches Land; verständlich, dass die BäuerInnen das ebene Land zurückhaben wollen, wenn die Neat gebaut und die Grossbaustelle verschwunden ist. Doch genau an diesem Ort, am Fuss des Rynächtfelsens, müssten dereinst die LKWs auf die Züge verladen werden, wenn der Strassentunnel geschlossen ist.

«Wir sind in der Zwickmühle», sagt Arnold und blickt nachdenklich über die Grossbaustelle. Er sitzt für die Grünen im Urner Landrat, ist Geschäftsführer des Vereins Alpen-Initiative und ist sicher der Letzte, der dem Güterverkehr freiwillig Land schenken würde. Dennoch macht er sich dafür stark, dass beim Rynächtfels die Verladeanlage für die Rola gebaut werden kann. Rola steht für «Rollende Landstrasse», so nennt man es, wenn LKWs auf Zügen transportiert werden. Die Laster würden beim Rynächtfels auf Waggons fahren und sich durch den 57 Kilometer langen Basistunnel kutschieren lassen.

Arnold sagt, es wäre sinnvoll, den Verlad fest zu installieren und den Strassentunnel für den Lastwagenverkehr für immer zu sperren. Dann würde es sich lohnen, hier eine Verladestation einzurichten. Er zeigt detailliert, wie die Rola-Schienen verlegt werden müssten, um einen reibungslosen Verkehr zu gewährleisten und eine schlanke Lösung zu bekommen, die wenig Land verschlingt. Drei bis vier Hektaren Boden müssten geopfert werden, sagt Arnold. Aber er sagt auch, dass man für das Lastwagenkontrollzentrum ennet der Reuss sieben Hektaren schönes Land hergegeben habe und dass man in Erstfeld und Schattdorf Industriegebiete ausgezont habe, die eine noch grössere Fläche beanspruchten. Er sagt auch, dass mit dem Verlad das Tal aufwärts vom LKW-Transit befreit und der Verlad bis zu neunzig neue Arbeitsplätze bringen würde – die blieben, wenn man mit der Verlagerung ernst machen würde.

Die Rechnung des Astra gehe nicht auf, davon ist auch Arnold überzeugt: «Bei zwei Röhren erhöhen sich die Kosten des Betriebs und des Unterhalts. Das macht gemäss Angaben des Astra zusätzlich pro Jahr zwischen 25 und 40 Millionen Franken, die nicht berücksichtigt wurden. Hochgerechnet auf die nächsten vierzig Jahre macht das 1 bis 1,6 Milliarden Franken aus.» Diese Kosten müsste man zu den 2,8 Milliarden Franken hinzurechnen, womit die zweite Gotthardröhre letztlich auf über 4 Milliarden zu stehen käme und damit etwa fünfmal teurer wäre als der Verlad.

Die Urner Regierung tut sich schwer mit der Frage. Ursprünglich wollte sie einen zweiten Strassentunnel. Dann lehnte die Urner Bevökerung im Mai 2011 das Projekt ab, deshalb muss jetzt die Kantonsregierung ebenfalls dagegen sein. Aber sie ist auch vehement dagegen, dass der Transitverkehr in Uri auf die Schienen verladen wird. Kürzlich schrieb sie: «Der Urner Talboden wurde durch den Bau der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (Neat) während fast zwei Jahrzehnten massiv beeinträchtigt. (…) Eine weitere Beanspruchung der für die Verladeeinrichtungen erforderlichen Landfläche würde den Versprechungen vor Baubeginn der Neat diametral widersprechen. Zudem würde der Urner Talboden durch den Bau und Betrieb des LKW-Verlads bezüglich Luftverschmutzung und Lärm weiterhin belastet.»

Die Regierung schlägt deshalb für die Verladeeinrichtung «eine Lösung nördlich des Kantons» vor. Beim Astra heisst es dazu: Der Verlad müsse in der Nähe des Tunnels sein – entweder in Uri oder gar nicht. Die Urner Regierung hat demnach die Wahl der Qual: entweder Verladeeinrichtung oder zweite Röhre.

Astra schweigt zur Rechnung

Gut zwanzig Kilometer weiter oben im Tal. Die Berge rücken nah, und dazwischen liegt Göschenen. Kurz vor dem Dorfeingang verschwinden Autos, LKWs und Cars im orange beleuchteten Schlund des Strassentunnels. Oben donnern Neigezüge am Bahnhof vorbei und hinein in den Bahntunnel, der schon seit 130 Jahren den Norden mit dem Süden verbindet. Auf der andern Seite der Gleise stehen Güterzüge und ein Glashäuschen mit blinden Scheiben. Hier wurden einst die Autos nach Airolo verladen. Diese Anlage könnte man während der Tunnelsanierung reaktivieren, um die Personenwagen mit dem Zug nach Airolo zu transportieren. Wenn man nur wollte und umfassend rechnete, dann würde es sich sogar lohnen, wie Wandeler gezeigt hat.

Thomas Rohrbach, Pressesprecher des Astra, will sich zu den Berechnungen von Hugo Wandeler nicht äussern. Er teilt lediglich mit: «Am 27. Juni hat der Bundesrat entschieden, dass die Sanierung in Verbindung mit einer zweiten Röhre sinnvoller ist, da die Investitionen zwar höher ausfallen, aber nachhaltiger sind. Die Verladeanlagen würden nach der Bauzeit ja wieder abgerissen, das Rollmaterial muss abgeschrieben werden, es bleibt kein bleibender Wert.» Das müsste – wie Alf Arnold skizziert hat – nicht sein, und vor allem wirkt es verwegen, den Bau eines Tunnels als «nachhaltig» zu bezeichnen. Der Begriff stammt bekanntlich aus der Forstwirtschaft und besagt, dass pro Jahr nur so viel Material genutzt wird, wie nachwächst.

Die Alpeninitiative

1994 wurde die Alpeninitiative angenommen, die den Schutz der Alpen vor dem Transitverkehr und die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene verlangte. Inzwischen trat das Güterverkehrsverlagerungsgesetz in Kraft, das festlegt, dass 2011 nur noch eine Millionen Lastwagen die Schweizer Alpen durchqueren dürfen; zwei Jahre nach Eröffnung des Gotthardbasistunnels dürften es noch 650 000  sein.

Hätten Bundesrat und Parlament die Alpeninitiative in ihrem ursprünglichen Sinn umgesetzt, müsste dieses Ziel schon seit acht Jahren erreicht sein. Der Alpenschutzartikel verbietet auch, dass die Kapazität der Transitstrassen im Alpenraum erhöht wird.