Krieg gegen die Ukraine: Leben auf Stand-by

Nr. 36 –

Während die grosse Politik die Zukunft der Ukraine verhandelt, schlagen dort weiter russische Raketen in den Städten ein. Was macht das mit den Menschen? Gespräche und Beobachtungen in Kyjiw.

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Bewohnerinnen eines bombardierten Hauses in Kyjiw stehen auf der Strasse
Bewohnerinnen eines bombardierten Hauses in Kyjiw. Foto: Finbarr O’Reilly, Laif

Die Aufräumarbeiten an der Zhylianskastrasse im Herzen Kyjiws sind noch voll im Gang. Freiwillige Helfer:innen und städtische Reinigungstrupps kehren Glasscherben und Trümmerteile zusammen, tragen Schutt aus beschädigten Häusern, lassen demolierte Autos abschleppen. Dort, wo wenige Stunden zuvor noch Fenster waren, werden nun Spanplatten montiert. Passant:innen fotografieren die Zerstörung, ein Journalist spricht seine auswendig gelernten Sätze in die Kamera. Und im Coiffeurladen nebenan fehlen zwar die Fenster, hängen lose Kabel von der Decke, Haare werden hier aber schon längst wieder geschnitten. Hauptsache, weitermachen, irgendwie.

Es ist Ende August, vermutlich einer der letzten heissen Tage in diesem Sommer. Der Angriff wenige Stunden zuvor war der erste grosse auf Kyjiw, seit Donald Trump Russlands Machthaber Wladimir Putin in Alaska den roten Teppich ausrollte – und einer der heftigsten seit Kriegsbeginn. Stundenlang leuchtet auf dem Handy die Luftalarm-App, die ganze Nacht über sind in der Stadt Explosionen zu hören. Das russische Militär greift die ukrainische Hauptstadt mit 629 Kampfdrohnen, Raketen und Marschflugkörpern an. Als Erstes fliegen die Drohnen los – jede mehrere Meter lang, viele mit Sprengstoff beladen. Wenn sie sich nähern, klingt es, als würde ein Töffmotor heulen.

Die Luftabwehr bemüht sich zwar, sie jeweils schon am Stadtrand abzufangen, damit herunterfallende Trümmerteile keine Wohnquartiere treffen; doch die schiere Anzahl bringt die Abfangsysteme ans Limit. Und sind diese erst beschäftigt, starten auf russischen Stützpunkten die noch tödlicheren Raketen. Die einschlägigen Telegram-Chats melden, welche Flugkörper nach Kyjiw unterwegs sind und wann sie voraussichtlich eintreffen. Bis aufs Quartier genau lässt sich bestimmen, wo die Geschosse der Kampfdrohnen in Kürze einschlagen. In dieser Nacht werden mehr als zwanzig Orte in der ganzen Stadt getroffen, 25 Menschen sterben, darunter vier Kinder, das jüngste war keine drei Jahre alt

Während in der Zhylianskastrasse aufgeräumt wird, sitzt Jewhen Sacharow eine halbe Autostunde entfernt in seinem Büro. Vor etwas weniger als einem Jahr habe seine Kharkiv Human Rights Protection Group ihre Räumlichkeiten hierher verlegt, erzählt der 72-Jährige zur Begrüssung – in ein unscheinbares Gebäude mitten in einem Wohnquartier. In den alten sei es immer gefährlicher geworden: wegen der Nähe zu Objekten, die das russische Militär potenziell als Angriffsziel betrachtet.

«Die Armee hat immer recht!»

Jewhen Sacharow ist einer der prominentesten ukrainischen Streiter für die Menschenrechte, seit über dreissig Jahren prangert seine Organisation die Missstände im Land an. Geht es aber um Aussenpolitik, stellt er sich vehement hinter Wolodimir Selenskis Regierung. Friedensverhandlungen mit Putin werde es vorerst nicht geben, sagt er, «weil Putin keine Verhandlungen, sondern eine Kapitulation der Ukraine will». In Trumps «Friedensbemühungen» setzt Sacharow kaum Hoffnungen – wie fast alle hier.

So klar Sacharow Selenskis Aussenpolitik unterstützt, so harsch fällt die Kritik an den autoritären Tendenzen der Regierung im Innern aus. «Selenski und sein engster Vertrauer, Andri Jermak, meinen, sie wüssten alles am besten und bräuchten nicht auf Expert:innen oder die politische Opposition zu hören.» Fatal seien dabei nicht nur viele der militärischen Fehlentscheide, sondern auch der Umgang mit den Soldat:innen. «Dass es für sie kein absehbares Ende des Einsatzes an der Front gibt, ist doch unglaublich», schimpft Sacharow. «Dass die Mitarbeiter:innen der Einberufungsbehörde wehrpflichtige Männer auf der Strasse kidnappen: absolut illegal.» Leider sei es unmöglich, dagegen anzukämpfen: «Die Armee hat immer recht!»

zerborstene Scheiben eines Coiffeursalon in Kyjiw nach einem russischen Angriff
Um Normalität bemüht: Coiffeursalon in Kyjiw nach einem russischen Angriff. Foto: Ivan Antypenko, Getty

Mit einem Ende der Kampfhandlungen rechnet Sacharow frühestens mittelfristig, «in einem Jahr, achtzehn Monaten vielleicht». Was ihn da so sicher mache? Sacharow verweist auf den Marschflugkörper «Flamingo», eine angebliche Wunderwaffe, die ukrainische Expert:innen derzeit entwickeln. Anfang nächstes Jahr soll sie bereitstehen und die Verhältnisse auf dem Schlachtfeld wenden. «Dadurch wird unsere Armee stärker sein als die russische, unsere Verhandlungsposition besser.» Es sei allerdings «das optimistische Szenario», gibt er zu.

Ein Menschenrechtler, der den Umgang mit Soldat:innen kritisiert und gleichzeitig von Langstreckenwaffen schwärmt: Es ist ein typischer Gesprächsverlauf in Kyjiw in diesen Tagen, in denen alles in militärischen Kategorien verhandelt wird. Eine ganze Bevölkerung ist durch die Umstände dazu gezwungen, zu Militärexpert:innen zu werden – Ausdruck einer durch und durch militarisierten Gesellschaft. Aber was bleibt angesichts der anhaltenden russischen Angriffe auch anderes übrig?

Viele sind zynisch geworden

Wer wissen will, was die Ukrainer:innen denken, muss mit Anton Hruschezkyj sprechen. Der Direktor des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie wartet in einer gesichtslosen Kaffeebar, wie es sie im Trendbezirk Podyl viele gibt. Alle paar Monate befragen er und sein Team die Ukrainer:innen zu ihren Einstellungen. Die derzeit vorherrschenden Gefühle seien Unsicherheit und Erschöpfung, sagt Hruschezkyj, mehr als zwei Drittel der Befragten würden über psychische Probleme klagen. «Die Leute sagen: ‹Ja, wir sind müde, aber wir akzeptieren trotzdem nicht einfach irgendein Abkommen.›»

Zur Kapitulation bereit seien bloss fünfzehn bis zwanzig Prozent, sagt der Meinungsforscher, «nach dreieinhalb Jahren Vollinvasion keine sehr hohe Zahl». Beträchtliche Unterschiede zwischen jenen, die in Frontnähe leben, und denen in den Städten weitab der Kampfhandlungen sieht er nicht. Was aber durchaus regional variiere, sei die Bereitschaft zu Kompromissen mit Russland. «Leute, die jeden Tag durch die Hölle gehen, stimmen einem Einfrieren der Frontlinie und bestimmten Gebietsverlusten eher zu.»

Und wie hat sich die Stimmung in den letzten dreieinhalb Jahren verändert? Hruschezkyj lacht. «Am Anfang herrschte eine Art romantischer Optimismus: der vereinte Westen im Kampf gegen den Autoritarismus. Inzwischen denken die Leute pragmatischer, viele sind zynisch geworden.» Die Menschen würden primär versuchen, jeden einzelnen Tag zu überleben, grössere Fragen auf später verschieben. «Es ist wie eine Bedürfnispyramide: Ganz unten kommt der elementare Wunsch nach Sicherheit; erst wenn der erfüllt ist, kann man über die Zukunft nachdenken.»

Keine Sicherheit

Ein Eindruck, der sich auch im Gespräch mit linken Aktivist:innen bestätigt. Es bestehe eine grosse Machtasymmetrie, sagt Witali Dudin von der Organisation Sozialnyj Ruch, was auf Deutsch so viel wie «soziale Bewegung» heisst. «Und weil es in diesem Konflikt um das Recht des Stärkeren geht – Russland also –, bin ich nicht gerade optimistisch.» Ob es bald zu einem Putin-Selenski-Gipfel kommt? In drei Monaten vielleicht schon, womöglich aber auch Anfang nächstes Jahr.

Dudins Einschätzung deckt sich mit einem Gefühl, das viele hier zunehmend beschleicht: dass schlussendlich bloss auf die eigene Kraft Verlass ist. «Die Unterstützung der USA schwindet immer mehr, und ich sehe nicht, wie die Europäer in die Bresche springen sollen», sagt er. Um der Machtasymmetrie entgegenzuwirken und bei allfälligen Verhandlungen in einer besseren Position zu sein, dürften die westlichen Waffenlieferungen nicht aufhören, aber auch die eigene Aufrüstung müsse forciert werden. Meinungsforscher Hruschezkyj wiederum hält die Frage der Sicherheitsgarantien für entscheidend. «Wenn sie überzeugend ausfallen, wären die Menschen hier zu Kompromissen bereit, so schmerzhaft sie auch sein mögen; wenn nicht, würden sie sich dagegen wehren, zu gross wäre die berechtigte Angst, dass Russland in ein, zwei Jahren erneut angreift.»

Verhandlungen, Sicherheitsgarantien, militärische Stärke. Was viele hier ebenso umtreibt, ist die Zukunft jener Gebiete, die Donald Trump in seinem Gespräch mit Putin als Verhandlungsmasse in einem «Gebietstausch» markierte: jene rund zwanzig Prozent des ukrainischen Territoriums also, die Russland militärisch erobert oder auf dem Papier annektiert hat.

Menschen suchen Zuflucht in einer Unterführung
Zuflucht in einer Unterführung: Die einschlägigen Telegram-Chats melden, welche Flugkörper nach Kyjiw unterwegs sind. Foto: Yan Dobronosov, Getty

Die meisten würden sich mit dem Status quo vor der Vollinvasion zufriedengeben, glaubt Menschenrechtler Sacharow – mit der (zumindest vorübergehenden) Aufgabe von Teilen der Oblaste Donezk und Luhansk sowie der Krim. Russland zusätzliche Gebiete zu überlassen, das würde die Mehrheit hingegen keinesfalls akzeptieren. «Und auch Selenski würde dem niemals zustimmen, weil er weiss: Sollte er das tun, würden ihn wütende Protestierende mitsamt seinem Präsidentenstuhl in den Dnipro werfen», scherzt er. Um dann deutlich ernster hinzuzufügen: «Wir haben 200 000 unserer besten Leute verloren. Danach einfach Territorium abzugeben, ist unmöglich, absolut unmoralisch.»

Ähnlich sieht es auch Onysiia Syniuk. Es ist noch früh am Morgen, und die letzte Nacht war ausnahmsweise ruhig. In ein paar Stunden wird Syniuk, die als Juristin beim Menschenrechtszentrum Zmina arbeitet, ihren Bericht über willkürliche Inhaftierungen und das Verschwindenlassen von Regimegegner:innen in den besetzten Gebieten vorstellen. «Ich finde es sehr beunruhigend, wie meist nur von Land gesprochen wird – dabei geht es um Menschen.» Um jene, die in den von Russland besetzten Gebieten leben oder fliehen mussten und zurückwollen, jene, die Verwandte haben, um die sie sich sorgen, jene, die dort inhaftiert oder spurlos verschwunden sind. «Wir wissen, wie Russland dort agiert. Warum sollten wir noch mehr Leute diesem Schicksal aussetzen?»

Neben dieser «emotionalen Sichtweise», wie Syniuk es nennt, gebe es auch eine praktische. Sie begreife nicht, «warum es für irgendjemanden von Vorteil sein sollte, dem Kreml zu geben, was er will», schliesslich würde Russland dann einfach weitermachen, nach der Ukraine Polen angreifen, dann die baltischen Staaten. «Keine Sicherheit, für niemanden.»

Einfach weitermachen

In der Nacht nach dem Gespräch über die Menschenrechtslage in den besetzten Gebieten greift Russland die Ukraine erneut an, diesmal treffen Hunderte Drohnen und Raketen vierzehn Regionen des Landes, darunter einmal mehr auch Kyjiw. In Saporischschja stirbt beim Einsturz eines Wohnhauses eine Person, mehrere Dutzend werden verletzt. «Die Zeit, die dafür gedacht war, ein hochrangiges diplomatisches Treffen vorzubereiten, wurde für die Organisation neuer Angriffe genutzt», schreibt Präsident Selenski in seinem Telegram-Kanal.

Und wie immer nach einer nächtlichen Attacke geht das Leben am nächsten Morgen weiter. Nach bangen, schlaflosen Stunden gehen die Menschen zur Arbeit oder zum Einkaufen, sitzen in den Cafés, schlendern durch den Park. «Hast du im Flur geschlafen, oder bist du in den Luftschutzkeller?», fragen sie ihre Freund:innen zur Begrüssung. Sie kümmern sich um ihre Kinder, pflegen betagte Angehörige, wünschen sich gegenseitig zum Abschied einen «friedlichen Himmel». Sie machen einfach weiter, so gut es geht. Die Erschöpfung und die Unsicherheit aber, sie werden mit jedem Angriff noch ein Stück grösser.

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