Ein Jahr nach Butscha: «Dafür lassen sich keine Worte finden»

Nr. 13 –

Jewhen Sacharow leitet eine der ältesten Menschenrechts­organisationen der Ukraine. Ein Gespräch über Gewalt als Strategie, den Haftbefehl gegen Putin und eine Datenbank für Kriegsverbrechen.

Graffiti an einer Hauswand: ein Junge schlägt mit einem Hammer ein Loch in die Wand, durch das Loch wachsen Sonnenblumen
«Aus unserer Sicht erfüllt die Deportation ukrainischer Kinder nach Russland den Tatbestand des Genozids», sagt Jewhen Sacharow. Werk des italienischen Künstlers Tvboy im Zentrum von Butscha. Foto: Oleksii Chumachenko, Getty

WOZ: Herr Sacharow, vor einem Jahr ist die russische Armee aus Butscha abgezogen. Die anschliessend entdeckten Massaker haben die Wahrnehmung des Krieges verändert. Wie haben Sie auf die Gräueltaten reagiert?

Jewhen Sacharow: Ich wusste sofort, dass sich die Taten nach internationalem Strafrecht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifizieren lassen, womöglich gar als Genozid. Je mehr Details ich erfuhr, desto stärker wurde ich bestätigt. Die Grausamkeit der Taten war unglaublich: Leichen wiesen Folterspuren auf, Frauen wurden vergewaltigt. Vor Butscha bestand kein so klares Verständnis davon, dass die russische Armee Menschen in den Gebieten, die sie besetzt, den Tod bringt. Das Wissen darum hat die Ukrainer:innen bloss noch wütender gemacht.

Sie haben die Initiative «Tribunal for Putin» mitgegründet, die Kriegsverbrechen dokumentiert. Welche Erkenntnisse haben Sie über das Vorgehen der russischen Armee in Butscha?

Es lassen sich mehrere Phasen festmachen: Bei ihrem Einmarsch Anfang März ging die Armee als Reaktion auf den Widerstand der Territorialverteidigung äusserst brutal vor. Die Russen liefen von Haus zu Haus und suchten nach Männern, die sie verdächtigten, der ukrainischen Armee anzugehören oder ab 2014 im Donbas gekämpft zu haben. Sie durchsuchten Telefone nach proukrainischen Liedern und brachten deren Besitzer um. Eine Säuberung der Stadt. Ein Mann wurde erschossen, als er mit seinem Hund spazieren ging, ein anderer, als er Brennholz holen wollte. Auf den Hausdächern sassen Scharfschützen, die feuerten, sobald jemand in ihr Sichtfeld kam. Sie töteten auch Flüchtende, darunter Kinder. Die meisten Fälle stammen aus den Tagen vor dem Rückzug am 31. März, da wurden Männer wahllos auf der Strasse umgebracht. Auch wenn wir die genaue Zahl nicht kennen: Nach aktuellen Erkenntnissen sind während der Besatzung von Butscha und der umliegenden Dörfer etwa tausend Zivilist:innen gestorben – ein grosser Teil durch gezielte Schüsse, der Rest durch Artillerie.

Die Menschenrechtsikone

Jewhen Sacharow (70) ist seit 2011 Direktor der Kharkiv Human Rights Protection Group, einer der ältesten und wichtigsten Menschenrechtsorganisationen der Ukraine. Entstanden ist sie aus der sowjetischen Dissident:innenbewegung der achtziger Jahre, in der sich auch Sacharow engagierte. Vor ihrer Gründung 1992 agierte sie als Charkiwer Ableger der ursprünglich russischen Menschenrechtsorganisation Memorial, in deren Vorstand Sacharow noch heute Mitglied ist. Memorial erhielt im letzten Jahr den Friedensnobelpreis. Sacharow ist studierter Mathematiker.

 

Jewhen Sacharow
Jewhen Sacharow Foto: Igor Fezjak

Nach Butscha kamen auch in anderen befreiten Regionen Kriegsverbrechen ans Licht. Ist die Gewalt Teil einer gezielten Strategie?

Da die russischen Soldaten an unterschiedlichen Orten so handelten, glaube ich, dass es entsprechende Befehle gab – mit dem Ziel, die Bevölkerung einzuschüchtern, ihren Widerstand zu brechen. In Butscha töteten sie vor allem Männer im wehrfähigen Alter – wohl um zu verhindern, dass diese später gegen Russland kämpfen. In den Oblasten Charkiw, Cherson, Saporischschja und Luhansk war dies weniger der Fall, wohl weil die Besatzer davon ausgingen, dass sie länger bleiben würden, vielleicht für immer. Dort sehen wir viel mehr Entführungen. Tausende Menschen sind spurlos verschwunden: Männer, die an der vorherigen Kriegsphase teilgenommen hatten, aber auch Staatsbedienstete, Feuerwehrleute, Journalistinnen, Lehrer:innen oder Priester. Mir scheint, als hätten die Russen entsprechende Listen gehabt. Hinzu kommen jene, die nach Russland gebracht wurden, oft gegen ihren Willen. Wir gehen von mehreren Millionen aus.

Welche Informationen haben Sie zur Situation in den besetzten Gebieten?

Aufgrund unserer langjährigen Arbeit haben wir dort viele Kolleg:innen, die uns mit Informationen versorgen. Hinzu kommen Berichte in den sozialen Netzwerken oder Meldungen über verschwundene, verletzte oder getötete Personen. Was wir sagen können: Auch in den besetzten Gebieten gibt es schwerwiegende Vergehen, etwa Fälle von Freiheitsentzug. Sie suchen Leute zu Hause auf und bringen sie dann einfach weg. Willkürliche Festnahmen, ohne Anklage oder Anordnung eines Gerichts, ohne Recht auf juristischen Beistand. Viele Verhaftete werden gefoltert.

Die Massaker von Butscha oder die Bombardierung des Theaters von Mariupol: Sie stehen als Chiffre für die russischen Verbrechen. Welches Vergehen hat Sie am meisten schockiert?

Ehrlich gesagt machen mich alle Verbrechen fix und fertig. Sie sind dermassen sinnlos, dafür lassen sich keine Worte finden. Am schlimmsten ist aber die Ermordung von Kindern, die lässt sich mit keiner Logik erklären. Wofür das alles? Die Russen denken noch immer, dass sich die Ukrainer:innen ergeben, wenn sie Zivilist:innen umbringen. Doch es ist genau umgekehrt: Die Menschen werden nur noch mehr zum Kämpfen motiviert.

Sie sind jeden Tag mit Gräueltaten konfrontiert. Wie lässt sich überhaupt ein Umgang damit finden?

Es ist sehr schwer, damit zu leben. Doch genau aus diesem Grund stürze ich mich in die Arbeit: um möglichst viele Informationen über die Grausamkeiten zu sammeln und die Täter:innen zur Verantwortung zu ziehen. Das ist auch die Motivation für unsere Datenbank der Kriegsverbrechen. Inzwischen hat sie schon fast 38 000 Einträge. Seit Anfang März 2022 beschäftigen wir uns jeden Tag damit. Ob es sich juristisch um Kriegsverbrechen handelt, muss dann ein Gericht entscheiden.

Wie hat sich die Arbeit Ihrer Organisation im letzten Jahr verändert?

Neben der Suche nach Gerechtigkeit geht es uns um Hilfe für die Kriegsopfer. Wir bieten in drei Regionen des Landes neben juristischer auch psychologische Unterstützung an. In Charkiw machen wir das seit Oktober – und sehen einen riesigen Bedarf. Zudem unterstützen wir die Familien von gefolterten, verwundeten, getöteten oder verschwundenen Personen finanziell. Als Charkiwer Abteilung der internationalen Menschenrechtsorganisation Memorial haben wir die Hälfte von ihrem Friedensnobelpreisgeld erhalten, um den Kriegsopfern zu helfen. Über die Arbeit mit den Familien erfahren wir auch von neuen Fällen für unsere Datenbank.

Wie kommen Sie sonst an die nötigen Informationen für Ihre Datenbank?

Die 24 Organisationen der «Tribunal for Putin»-Initiative haben das Land im Hinblick auf die Dokumentation in Gebiete aufgeteilt. Deshalb verläuft diese regional unterschiedlich: Im Oblast Charkiw greifen wir auf Informationen aus öffentlich zugänglichen Quellen zurück – jeden Tag sucht eine Person nach Meldungen. Ein zweiter Fokus unserer Arbeit sind Gespräche mit Betroffenen, dafür fahren wir auch in die befreiten Gebiete, vor allem in die kleineren Orte. Die Dokumentation soll auch die Grundlage für Strafverfahren bilden.

Welche Verbrechen sehen Sie am häufigsten?

Dreiviertel aller Fälle in der Datenbank sind Angriffe auf zivile Objekte – eine Taktik der russischen Armee: Wenn sie vorrückt und sich ein besiedeltes Gebiet nicht am ersten Tag ergibt, bombardiert sie schon am zweiten Tag Wohnviertel. Ein Beispiel für diese Strategie ist Charkiw: Dort wurden von insgesamt 8000 mehr als 4500 Wohnhäuser zerstört oder beschädigt. In dieser Hinsicht sind Charkiw und Mariupol von den grossen Städten am meisten betroffen. Dann gibt es Orte, die komplett ausradiert wurden: Wolnowacha, Popasna, es ist einfach schrecklich. Auch Bachmut droht dieses Schicksal.

Der Internationale Strafgerichtshof (ICC) hat wegen der Deportation ukrainischer Kinder nach Russland einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin und seine «Kinderrechtsbeauftragte» erlassen. Was bedeutet dieser Schritt?

Uns hat der Haftbefehl selbst überrascht – nicht aber, dass es Gründe für einen solchen gab, das haben wir schon lange gewusst. Aus unserer Sicht erfüllt die Deportation ukrainischer Kinder nach Russland den Tatbestand des Genozids. Und wir sind zurzeit auch daran, diese Sicht juristisch zu begründen.

Wieso hat der Staatsanwalt am ICC genau dieses Verbrechen ausgewählt?

Weil Russland dieses Verbrechen selbst dokumentiert hat. Der Staat hat sich ein System geschaffen und mit Gesetzen gefestigt, einige davon von Putin persönlich unterschrieben. Das Muster ist klar: Sie bringen die Kinder nach Russland und platzieren sie in Lagern oder Sanatorien. Dann werden sie im Eilverfahren russische Bürger:innen und adoptiert. Das wird im ganzen Land beworben, es gibt Artikel dazu und Gespräche mit dem Präsidenten. Die sogenannte Kinderrechtsbeauftragte hat selbst ein ukrainisches Kind aufgenommen.

Die Absicht ist aus unserer Sicht klar genozidal: Ist das Kind noch klein, wird es die ukrainische Sprache rasch verlernen und nur noch russisch sprechen, es wird unter anderen Bedingungen aufwachsen und eine andere Geschichte lernen. So werden die Kinder von ihrem Geburtsland entfremdet. Die vierte Genfer Konvention untersagt solches Handeln strikt. Mit seinem Vorgehen verletzt Russland diese Bestimmungen – und das übrigens schon seit 2014, als Kinder aus den Waisenhäusern in den Regionen Donezk und Luhansk nach Russland gebracht wurden.

Sie sagen, der Haftbefehl habe Sie überrascht. Wieso?

Weil das üblicherweise am Ende eines Prozesses steht und nicht am Anfang. Die Ukraine besteht auf der Einrichtung eines internationalen Sondertribunals, das den russischen Angriff selbst untersuchen würde – was der ICC nicht kann, weil weder Russland noch die Ukraine zu seinen Vertragsstaaten gehören. Er will auch kein solches Tribunal und zeigt mit dem Haftbefehl, dass das gar nicht nötig ist, um Putin zur Verantwortung zu ziehen. Der Entscheid hat aber auch eine grosse politische Bedeutung: Wegen des Haftbefehls kann Putin nicht mehr in die Unterzeichnerstaaten des Römer Statuts reisen, ohne verhaftet zu werden. Das verändert den Blick auf den Krieg. Viele hoffen auch, dass der Haftbefehl einen präventiven Charakter hat und solche Verbrechen in Zukunft verhindert – was ich persönlich aber nicht glaube.

Es gibt auch Stimmen, die den Schritt kontraproduktiv finden, weil er potenzielle Verhandlungen mit Russland erschwere.

Entschuldigen Sie, was für Verhandlungen kann es mit Putin denn geben? Worüber? Nur über eines: dass die Russen von hier verschwinden, auch von der Krim und aus dem Donbas. Und das werden sie leider nicht machen.

Gerade hat die Uno auch der ukrainischen Armee unverhältnismässige Gewalt vorgeworfen. Kritik an der Regierung in Kyjiw nützt aber immer der Propaganda des Aggressors. Wie gehen Sie mit diesem Dilemma um?

Diesbezüglich ist unsere Situation heute schwieriger als früher. Es darf nicht passieren, dass der Feind unsere Kritik gegen die Ukraine verwenden kann. Doch wenn wir sehen, dass unsere Regierung die Menschenrechte verletzt – und zu meinem Bedauern kommt das häufig vor – und dadurch dem Feind hilft, sprechen wir uns öffentlich dagegen aus. Das ist nicht einfach. Das Präsidialbüro hört nicht auf die Meinung von Expert:innen, agiert ziemlich autoritär. Kennen Sie das Stück «Der Drache» des Dramatikers Jewgeni Schwarz, das er unter dem Eindruck der Blockade von Leningrad schrieb? Wenn man den Drachen besiegt, aber sich dabei selbst in einen Drachen verwandelt, ist das kein Sieg, sondern eine Niederlage. Werden wir genau so wie die «russische Welt», entsteht nichts Gutes. Deswegen bin ich überzeugt, dass es unsere Pflicht ist, über diese Vergehen zu sprechen.

Können Sie Beispiele nennen?

Da wäre der Rausschmiss dreier oppositioneller TV-Sender aus dem Digitalnetz – grundlos und ohne Erklärung. Überhaupt war es völlig unangemessen, alle nationalen TV-Kanäle zusammenzulegen, auch unter Kriegsbedingungen. Auch die Entlassung der Ombudsfrau für Menschenrechte war ein Bruch mit der Verfassung. Ein neues Gesetz erlaubt dem Parlament, Staatsbedienstete zu entlassen, die es selbst eingesetzt hat. So gut der neue Ombudsmann auch ist, er ist nicht mehr unabhängig. Der Präsident kann das Parlament, in dem seine Partei die Mehrheit hat, jederzeit mit der Kündigung beauftragen. Das dritte Beispiel ist die Ausbürgerung politischer Gegner:innen – auch das ist verfassungswidrig. Das alles ist unzulässig für ein Land, das EU-Mitglied werden will.

Olga Iwanowna
Olga Iwanowna

Olga Iwanowna (68) : Eine Überlebende berichtet

«Gleich am ersten Tag kamen sie in unser Haus und holten die Männer aus dem Keller, in dem wir uns versteckt hielten. Dann begannen sie zu schiessen, das habe ich aber nur gehört. Am nächsten Tag packten die, die noch da waren, ihre Sachen und gingen. Ich bin zurückgeblieben, allein mit meinem kranken Mann, ich habe nur noch geweint. Es war niemand mehr da, der mir mit dem Feuer helfen konnte, dabei musste ich es doch irgendwie am Brennen halten. Über einen Monat hatten wir kein frisches Brot, nur wenig zu essen, doch das war aushaltbar, viel schlimmer war die Kälte. Ich sammelte Regenwasser oder schöpfte es aus den Pfützen ab. Bevor ich es warm machte, um meinen Mann waschen zu können, liess ich es eine Weile stehen. An der Tür unseres Mehrfamilienhauses habe ich einen Aushang befestigt: ‹Hier leben friedliche Leute. Ein altes Paar, ein Hund und eine Katze.›

Einmal kamen Soldaten auf der Strasse zu mir und fragten mich nach meinem Leben in Butscha. Ich hatte grosse Angst, etwas Falsches zu sagen, dachte an meinen Mann, der nicht laufen kann. ‹Bis ihr kamt, ging es uns gut›, sagte ich schliesslich. ‹Und warum mögt ihr die Russen nicht?› – ‹Wie kommt ihr darauf?› – ‹Das haben wir im Fernsehen gesehen.› Sie waren zu sechst, einer redete, die anderen – alle höchstens zwanzig – hielten ihre Gewehre auf mich gerichtet.

Ein anderes Mal ging ich mit meinem Hund Lorka spazieren, sie liebt es, mit dem Ball zu spielen, ich werfe ihn also, da kommen sie um die Ecke gebogen. Sie zielen mit ihrem Gewehr auf den Hund, ich fange an zu weinen: ‹Macht das nicht, sie will euch doch nur den Ball bringen.› Sie schauen mich minutenlang bloss an, schliesslich lassen sie von ihr ab. Danach bin ich mit Lorka immer direkt ins Haus, wenn ich sie gesehen habe. Ohne Lorka hätte ich es nicht geschafft. Andere Hunde haben sie einfach so erschossen. Was haben diese armen Tiere ihnen denn getan? Das sind einfach Unmenschen!

Vielleicht hat Gott ja Gnade walten lassen. Als ich allein mit meinem Mann war, habe ich jeden Tag drei-, viermal gebetet, habe Kerzen angezündet, solange wir noch welche hatten. Es war so furchtbar schwierig. Als die Unseren dann endlich kamen, haben wir geweint. So viel Freude! Sie können es sich nicht vorstellen. Als sie mich mit Lorka auf der Strasse sahen, sind sie stehen geblieben, haben mir Brot gegeben. Es heisst, man soll die Zeit vergessen und weiterleben, aber immer, wenn ich zurückdenke, klopft mein Herz wie verrückt. Ich kann nachts nicht schlafen, es nicht vergessen. Das Wichtigste ist aber, dass alle aus meiner Familie noch am Leben sind.

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als wir wieder Gas hatten, das war an Ostern. Mein Sohn brachte Mehl und Hefe aus Kyjiw mit, und ich habe Osterkuchen gebacken. Das war vielleicht ein Fest! Jetzt haben wir zwar mit Stromausfällen zu kämpfen, aber das ist doch nur vorübergehend, das lässt sich aushalten. Wir wissen, dass wir gewinnen werden, unsere Jungs werden das schaffen.»

Aufgezeichnet von Anna Jikhareva, Butscha