Neue Töne im Nahen Osten: Diplomatie zum Selbstschutz
Saudi-Arabien richtet seine aussenpolitischen Beziehungen neu aus. Statt auf Konfrontation setzt das Königreich auf Versöhnung – und auf China.
Der saudi-arabische Kronprinz Muhammad Bin Salman hatte eingeladen, und die Vertreter:innen von fast vierzig Staaten kamen. Der Aggressor Russland sass nicht mit am Tisch, aber unter anderem die USA, Indien und auch China berieten Anfang August in der Küstenstadt Dschidda über einen Friedensplan für die Ukraine. Auch wenn der Gipfel ohne konkrete Resultate endete, ein Gewinner steht fest: Saudi-Arabien, das sich als globale diplomatische Kraft hat etablieren können.
Seit Monaten läuft das Königreich diplomatisch auf Hochtouren. Der einst so hitzköpfige Kronprinz Bin Salman hat erkannt, dass Emotionen schlecht für das Geschäft sind: Hatte er sich in den vergangenen Jahren noch mit seinen Nachbarn zerstritten, zeigt er sich jetzt aussenpolitisch als Vermittler.
Im Mai etwa hatte er den ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski zum Gipfeltreffen der Arabischen Liga eingeladen und bei einem Gefangenenaustausch zwischen der Ukraine und Russland mitgewirkt. Der wirksamste politische Paukenschlag fand aber schon im März statt, und er hat das Potenzial, die Kräfteverhältnisse im Nahen Osten umzugestalten: die Ankündigung von Saudi-Arabien und dem Iran, wieder diplomatische Beziehungen zueinander aufzunehmen – nach sieben Jahren des Unterbruchs.
Neue Handelsbeziehungen
Seit 2015 stehen die beiden Staaten einander im Jemenkrieg indirekt gegenüber: Der Iran steht im Konflikt auf der Seite der Huthi-Rebellen, während Saudi-Arabien eine von Washington unterstützte Allianz arabischer Staaten anführt, die Luftangriffe gegen die Huthi fliegt. Mit der diplomatischen Annäherung im März scheint ein Frieden im Bürgerkriegsland wieder realistisch. Das iranische Regime steht nach Jahren der internationalen Sanktionen wirtschaftlich schwer unter Druck. Es verspricht sich nun neue Handelsbeziehungen zu Saudi-Arabien, während sich das Königreich wiederum eine Eindämmung der militärischen Bedrohung durch den Iran erhofft. Vor allem aber hat es einsehen müssen, dass die Rebellen im Jemen militärisch nicht zu besiegen sind, und ist bereit für Zugeständnisse an die Huthi-Milizen.
Die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen den einstigen Rivalen wurde ausgerechnet von China vermittelt. Ein Prestigegewinn für China – und eine Ohrfeige für die US-Regierung unter Joe Biden. China macht so den USA die traditionelle Rolle als Vermittler im Nahen Osten streitig. Ohnehin sind die Beziehungen zwischen China und Saudi-Arabien eng. China ist der grösste Handelspartner der Saudis, die Saudis sind Chinas grösster Öllieferant. Beide Staaten arbeiten auf eine neue multipolare Weltordnung hin.
Saudi-Arabien gibt heute nicht mehr vorbehaltlos US-Wünschen nach: Nach Beginn von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine etwa einigte sich die Vereinigung der ölexportierenden Staaten, die Opec, unter saudischer Führung darauf, die Ölförderung zu drosseln und damit den Preis hoch zu halten – gegen den Widerstand der USA. Russland ist mit der Opec assoziiert (Opec+). Andererseits hat Saudi-Arabien die Resolutionen des Uno-Sicherheitsrats gebilligt, die den russischen Angriffskrieg verurteilen.
Imagekorrektur mit Sport
Der aussenpolitische Strategiewechsel Saudi-Arabiens begann 2019 nach Raketenangriffen auf saudische Ölanlagen. Die Saudis und die USA machten das iranische Regime für den Beschuss verantwortlich – dieses stritt eine Beteiligung ab. In Saudi-Arabien blieb das Gefühl, verwundbar zu sein. Die Reaktion der USA war den Saudis nicht entschlossen genug, und der Wunsch nach einer Stärkung zusätzlicher Sicherheitskanäle wurde grösser. Doch nicht nur das steckt hinter der politischen Kehrtwende.
Menschenrechtler:innen kritisieren das Land zu Recht scharf: Homosexualität ist streng verboten, Bin Salman lässt seine Kritiker:innen mit aller Härte verfolgen. Das islamisch-konservative Königreich versucht jetzt, sein schlechtes Image loszuwerden. Auch deswegen will es – wie sein regionaler Kontrahent Katar – mit internationalen Sportevents von sich reden machen: Es finden dort Formel-1-Rennen statt, 2019 wurde erstmals eine Boxweltmeisterschaft im Land ausgetragen, die Fussballsuperstars Cristiano Ronaldo und Neymar wurden in die nationale Liga gelockt – und 2029 werden die Asien-Winterspiele in Saudi-Arabien ausgetragen. Die Strategie dahinter wird «Vision 2030» genannt.
Das schon 2016 vorgestellte Entwicklungsprogramm sieht eine Diversifizierung der Wirtschaft vor. Die Abhängigkeit von Öl und Gas soll verringert werden. Dazu bedarf es ausländischer Investoren und Tourist:innen – und dafür wiederum einer besseren Aussenwirkung. Wohl auch deshalb wurde es 2017 Frauen erlaubt, Auto zu fahren und gemeinsam mit Männern in geschlechtergemischtem Publikum Konzerte zu besuchen. Letztlich sind das aber nur geringfügige Verbesserungen: Frauen dürfen etwa immer noch nur mit Erlaubnis eines Mannes reisen oder heiraten. Nachdem die prominente Fitnesstrainerin Manahil al-Otaibi ein Ende männlicher Bevormundungen gefordert hatte, wurde sie im November vergangenen Jahres inhaftiert. Ihr droht nun eine mehrjährige Haftstrafe.
Mord an Khashoggi ist vergessen
Mit der Missachtung der Menschenrechte durch Saudi-Arabien haben freilich längst nicht alle ein Problem. Recep Tayyip Erdoğan etwa bestimmt nicht. Auch im Umgang mit der Türkei zeigt sich der neu gewonnene aussenpolitische Pragmatismus Saudi-Arabiens. Zwar hatten die beiden Länder zuletzt erhebliche Streitigkeiten wegen des Mordes am saudischen Journalisten Jamal Khashoggi, der 2018 im saudischen Konsulat in Istanbul ermordet worden war – laut US-Geheimdiensten auf Befehl von Bin Salman. Hinzu kamen erhebliche Differenzen bei aussenpolitischen Themen. Aber als dem türkischen Staatspräsidenten das Geld ausging und Bin Salman neue Freunde brauchte, schlossen die beiden schnell wieder Frieden.
Anders als bei den Europäer:innen und den USA muss Saudi-Arabien von China, der Türkei, Russland und dem Iran keine ständigen Ermahnungen bezüglich seiner Menschenrechtspolitik fürchten. Kürzlich wurde auch der syrische Diktator Baschar al-Assad nach zwölf Jahren Abwesenheit wieder in die Arabische Liga aufgenommen. Zuvor hatte Saudi-Arabien eine Rückkehr Syriens blockiert. Auch hier hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass der zähe Assad nicht militärisch zu besiegen sei.
Die USA jedenfalls müssen Saudi-Arabien nun regelrecht hofieren – auch sie kämpfen um eine bessere Positionierung in der Region. Präsident Biden treibt derzeit eine Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Israel voran. Vergangene Woche wurde bekannt, dass diesbezüglich Vorgespräche geführt werden. Die USA locken das Königreich mit dem Zugang zu fortgeschrittenen US-Waffensystemen sowie der Unterstützung beim Aufbau eines zivilen Atomprogramms im Gegenzug für die Anerkennung Israels. Saudi-Arabien könnte sich damit zwischen den Erzfeinden Israel und Iran positionieren – und einmal mehr als ernst zu nehmender internationaler Akteur. Für den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu wäre die Normalisierung der Beziehungen ein aussenpolitischer Erfolg inmitten der eigenen innenpolitischen Krise. Und Joe Biden könnte den Deal im US-Wahlkampf als eigenen grossen Wurf im Nahen Osten präsentieren.