In mir die Wände (11) : Treibsand
An diesem Tag regnete es. Auf meinem Programm stand das Fussballspiel, das ich fein säuberlich vorbereitet hatte: Es spielte der FC Rheintal im Champions-League-Final gegen Inter Mailand. Die Aufstellungen hatte ich auf ein Stück Papier notiert, gelbe und rote Karten für den Schiedsrichter gebastelt. Ich nahm meinen Plastikball unter den Arm und schritt ins Stadion, den Spielplatz vor unserem Haus. Ich drückte auf meiner Stoppuhr den Startknopf, das Spiel hatte begonnen. Ganze neunzig Minuten spielte ich solche Partien alleine und nicht einfach nur in meiner Fantasie durch. Nein, ich dribbelte mich selbst aus, gab mir die Flanken, köpfte ins Eck. Hey, das war ein Foul! Ich zückte die gelbe Karte, jetzt war ich der Schiedsrichter und musste den imaginären Spieler, der vor mir stand, ermahnen.
In dieser Zeit Anfang der neunziger Jahre sprach man im deutschsprachigen Raum von den «Baseballschlägerjahren»: Rechtsextreme Gewalt hatte stark zugenommen, es kam zu Morden an Migrant:innen und unzähligen Brandanschlägen. Symbol dafür wurden die Angriffe von Rostock-Lichtenhagen im August 1992, als ein Wohnheim vietnamesischer Vertragsarbeiter mit Molotowcocktails attackiert wurde, während Teile der Bevölkerung den Anschlag beklatschten und die Polizei zeitweise untätig zuschaute. Die Ereignisse gelten als Pogrom – genährt von einer rassistisch aufgeladenen, enthemmten Asyldebatte. Auch in der Schweiz gab es Parteien und Politiker:innen, die diese Gewalt befeuerten. Die Rechtsextremen hatten mit Gruppen wie den Hammerskins Schweiz oder der Patriotischen Front und ihrer Sektion Rhein-Front auch hier ihre Ableger. Zwischen 1988 und 1993 wurden in der Schweiz 378 rechtsextreme Gewalttaten registriert. Dreizehn Menschen wurden bei rassistischen Angriffen ermordet. Gemessen an der Bevölkerungsgrösse war die Zahl der Todesopfer rechtsextremer Gewalt höher als in Deutschland.
Ich wollte den Ball passen, doch das Spiel war unterbrochen worden. Aus dem Regen traten fünf Schatten hervor, erst sah ich nur ihre Stiefel, dann kamen sie näher, bis sie mitten in meinem Gesicht standen. War das ein Platzsturm? Riesig wirkten sie, als sie sich zu mir hinunterbeugten, und doch haftete auch ihnen etwas Kindliches an. Ihre verzerrten Gesichter waren zusammengeflickt aus Parolen und Zeitungsartikeln, den Stimmen ihrer Väter an den Stammtischen und den Plakaten an den Wänden. Die fünf Riesen umkreisten mich, sperrten mich in sich ein. Dann begannen sie mich hin und her zu schubsen, bis ich zu Boden fiel. Der Regen spuckte mir ins Gesicht, der Spott peitschte mich. Ich schrie nach Hilfe, doch meine Worte zerfielen zu warmem Nebel, den niemand hören konnte. Dann gingen sie.
Das Stadion war leer gefegt, die Zuschauer:innenränge verschwunden, die Flutlichter aus, das Spiel abgebrochen. Ich lag alleine im braunen Schlamm. Und ich hoffte, er würde zu Treibsand, der mich verschluckt und in Sicherheit bringt.
In der Serie «In mir die Wände» blickt Uğur Gültekin (geboren 1984) zurück auf seine Kindheit und Jugend: auf die Flucht aus Kurdistan und das Grosswerden in der Schweiz, auf Ausgrenzung und Aneignung – und setzt diese persönlichen Erfahrungen in einen gesellschaftlichen Rahmen, der auch von der Schweiz der neunziger Jahre erzählt. Nächste Woche: In euren Armen.