Essay: Soccer Dad – meine Reise ins Leben der anderen

Nr. 42 –

Als das Kind bei einem Bundesligaverein Fussball zu spielen beginnt, lernt unser Autor doch noch die Mehrheitsgesellschaft kennen. Bericht aus einem Berliner Paralleluniversum.

Diesen Artikel hören (19:12)
-15
+15
-15
/
+15
Illustration von Luigi Olivadoti: eine fröhliche Fussball-Fan-Gemeinschaft

Vor drei, vier Jahren habe ich praktisch erfahren, was ich bislang nur theoretisch wusste, nämlich, dass ich ausserhalb meines Berliner Kulturbiotops zu einer kleinen Minderheit gehöre. In der Kultur galt ich bei öffentlichen Diskussionsrunden allerdings manchen schon vor knapp zehn Jahren mit Mitte vierzig als problematische Position der Mehrheitsgesellschaft (alt, weiss, männlich). Das ist keine Einbildung, wie man mir oft beschied; solche Sachen wurden mir ins Gesicht gesagt, andere beendeten still die regelmässige Zusammenarbeit. Dummerweise haben dann viele wie ich über nichts anderes mehr geredet.

Doch man spielt immer mehrere Rollen im Leben. Der Nachwuchsfussball, zumal im Leistungsbereich, hat mir da Linderung gebracht, denn hier war ich kein schlimmer Vertreter der Mehrheit, sondern fast schon ein Freak. Was war passiert?

Kurz nach der Pandemie: Die Kinder spielen zum Abschluss des Trainings, es ist der Beginn der neuen Saison der U11 des erfolgreichsten Berliner Vereins. Gemütlich schiebe ich das rote Velo auf den Platz, wo die Eltern stehen, auch jene des Jahrgangs darüber, der zeitgleich trainiert. Ein stiernackiger Vater ruft: «Soll ick dir mit Lippenstift mein’ Namen auf den Sattel schreiben?» Ich verstehe den Spruch erst nach einer halben Minute: Typ mit a) Brille und b) rotem Fahrrad auf dem Platz, also ich, für den Stiernacken ist das schwul. Deshalb Lippenstift. Kein Auto, keine Eier. Und Rot, meine Fresse, das ist schon fast Lila.

Dieser Ton ist, Unterschiede hin oder her, nicht die Regel. Der engagierte Spielervater Devid* rettet die Situation: Er redet, als wäre nichts, und er redet gerne. «Mensch, Tobi, jetzt bist du extra mit dem Fahrrad gekommen, wa, und deinen Sohn lässt du alleene mit der Bahn zurückfahren? Sag mal!» – «Nein, Devid, das Fahrrad kommt mit in die Bahn. Ich begleite ihn, logisch.» Devid runzelt die Stirn, schaut kurz in die Runde, die sich um das Velo gebildet hat, als sei es ein Krokodil, das ich als Haustier ausführe. Hier kommt man mit dem Auto und als alleinerziehende Mutter mit der Bahn. Aber mit dem Fahrrad, in der Bahn? Devid hakt nach. «Dit geht?» – ­«Ja, Devid, das geht, man kann in Berlin sein Fahrrad in die S-Bahn mitnehmen, man braucht bloss einen weiteren Fahrschein dafür. Extra für Räder.»

Ich, das Krokodil

Die Herbstsonne steht tief, gleich gehen die Jungs in die Kabine zum Duschen. Devid trägt eine Sonnenbrille und wendet sich an Patricia. Sie ist in Kamerun aufgewachsen, spricht ein perfektes Deutsch sowie drei andere Sprachen. Und sie hat heute aufwendig geflochtene Haare. «Patricia, ehrlich, wie lange brauchst du so für deine Haare am Morgen?» – «Länger als du für deine, Devid, das kann ich dir schon mal sagen.» Devid hat keine Haare auf dem Kopf. Der war jut, findet er selbst.

Devid und ich hatten nie Probleme miteinander, auch wenn ich ihm auf langen Fahrten in seinem Van gelegentlich widersprach. Uns war beiden klar, dass wir anders drauf sind. Ich habe dennoch lange mehr bei den Müttern gestanden, oft bei den alleinerziehenden ohne Auto. Vielleicht war ich kauzig-lustig genug für sie, dass sie das nicht unangebracht fanden: der Typ, der selbst- (und nicht von der Frau) geschmierte Brote mitbringt, keine Wurst an der Tankstelle holt und Robert Habeck für den ehrlichsten deutschen Politiker seit Jahrzehnten hält. Das war, zumindest vor ein paar Jahren noch, für die meisten geradezu komisch (als das Kader wuchs, nahm auch die soziale Bandbreite zu, und es kamen ein paar Leute mit Eigentumswohnungen in der Innenstadt hinzu). Die ersten zwei Jahre fühlte es sich so an, als sei ich das Krokodil, aber als Holzspielzeug.

Manche Eltern waren entsprechend verwirrt, als ich für einmal eine Bratwurst vom Grill holte; sie hielten mich für einen «Kampfvegetarier». Und als ich nach einem langen Turniertag einmal zum Rauchen mitging, veränderte sich mein Status, als ein Vater sagte: «Das hätte ich niemals gedacht, Tobi. Find ich gut!» Nur Patricia aus Kamerun blieb schockiert stehen, als wir zum Mietauto liefen und ich eine Zigarette drehte. Sie tadelte mich in einem strengen Französisch. Patricia hat gewonnen.

Der Grund für meinen Weg in die Mehrheitsgesellschaft hat einen Namen. Nennen wir ihn Jack. Seit gut drei Jahren spielt er in der Jugend des 1. FC Union Berlin. Jack ist nun bald vierzehn und das gemeinsame Kind von meiner Frau und mir; sie hat noch zwei junge, erwachsene Söhne, die beide gut Fussball spielen. Vor wenigen Jahren klang es in meinen Ohren fast wie eine Geheimsprache, wenn die drei debattierten. Heute komme ich besser mit. Jack meinte neulich: «Papa, du verstehst schon auch etwas von Fussball, so ist es nicht.» Für einen Pubertierenden ist das ein erstaunlicher Satz. Noch erstaunlicher ist, neben Jacks sportlicher Entwicklung, wie die Reise in den leistungsorientierten Jugendsport meinen Blick auf fast alles verändert hat. Ich bin nun ein Soccer Dad, ein Fussballvater.

Ja, ich bin ein Klischee. Aber auch ein Kulturmensch, der mit seinem Milieu seither etwas hadert. Denn gerade im Leistungsfussball sieht man nicht nur Herkunftsdifferenzen, die wir in der Kultur so gerne feiern. Im Verein kommen soziale, politische und lebensweltliche Unterschiede obendrauf, die in der Kultur eine viel geringere Rolle spielen. Ich lerne die Unterschiede aushalten, weil ich erstens mein Kind liebe, klar, weil ich sehe, wie es dabei aufblüht. In diesem Punkt geht es allen Eltern gleich. Zweitens lerne ich da etwas über das Zusammenleben. Das kam überraschend, wie überhaupt alles …

Besser hinschauen

Die erste Station war eins von mehreren über die Stadt verteilten sogenannten Talenteteams von Union. Wie Jack im Flutlicht eines östlichen Industriegebiets auf dem Kunstrasen strahlte, als Trainer Ersan nach den Probetrainings sagte, er dürfe gerne weiterhin kommen. «Du kannst das in Ruhe mit deinen Eltern besprechen»: Ich stand daneben, doch Ersan sprach nur zu Jack. Wie Ersans Assistent Marco, hörbar in Ostberlin geboren, ein paar Monate später nicht weniger glühte im Gesicht, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, als die beiden Jack als einzigen Buben aus diesem Talenteteam-Ableger direkt zu Union nach Berlin-Köpenick einluden. Wie Jack und ich dann zum Bus liefen, durch verpisstes Gebüsch, an einer unbeleuchteten Fleischfabrik vorbei, und wir kaum noch etwas rochen vor Erstaunen – mit dem Entscheid hatten wir beide nicht gerechnet.

Irritierend, wenn andere das Kind besser sehen als man selbst, zumindest sportlich. Jack sagte anfangs: «Langsam fühle ich mich da wohl, aber, Papa, ehrlich, die sind alle krasser als ich.» Jack gewann bald mehr Selbstvertrauen auf dem Platz, das ist bis heute so, er kann seine Leistung ziemlich gut selbst einschätzen. Ersan nahm ihn im Talenteteam manchmal während des lau­fenden Spiels raus und sagte ihm ruhig: «Hör mal, Jack, du brauchst nicht immer gleich zu passen. Du hast einen breiten Rücken und bist stark am Ball, setz dich ruhig einmal gegen ein, zwei, drei Mann durch. Es ist nicht schlimm, wenn du hängen bleibst, aber du musst es probieren!»

Mit der Zeit versuchte ich, auf das Feld zu schauen wie auf eine Bühne, also auch Spieler zu beobachten, die nicht am Ball sind (im Theater: die gerade nicht sprechen), Spielsysteme zu erkennen (Choreografien), Kombinationen vorauszusehen. Und zu merken, wann ein Spielzug gut war, selbst wenn er nicht zum Tor führte, und einer nicht zwingend gut, auch wenn der Abschluss (eher zufällig) erfolgreich war. Ich bilde mir ein, seither anders zu arbeiten und Fragen zu stellen, die man mit der Routine gerne vergisst: Was weiss ich bereits, wo muss ich länger hinschauen, besser vorbereiten, nachfragen?

Unwetter über Zürich

Ungelöst bleibt die Frage: Warum habe ich dabei selbst jene Eltern ins Herz geschlossen, mit denen ich mich politisch streiten würde? Die kurze Antwort lautet: Es erfüllt mich, weil mir Meinungsdiversität im eigenen Milieu lange gefehlt hat. Die längere Antwort ist in einer kleinen Geschichte besser aufgehoben.

Johnny ist so etwas wie der Stiefgrossvater eines Spielers. Sein Alter kann ich schwer schätzen, sein Lebensweg ist derart anders als meiner. Geboren in der DDR, körperlich schwere Arbeit im Gesundheitsbereich, viel Nikotin, seine Freundin ist «die schöne Marthe aus Karlshorst», wie sich die Oma des Spielers beim ersten Mal vorstellt. Marthe servierte in den achtziger Jahren im Palast der Republik, dem Unterhaltungsbunker des Politbüros, Getränke und musste sich von berühmten Mitgliedern der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands an den Hintern fassen lassen. Sie ist wohl ein Stück älter als Johnny und filmt ganze Spiele mit. Nach einer strittigen Schiedsrichterentscheidung, die zu einer Niederlage in einem Turnier führt, zeigt sie mir den Videobeweis auf dem Handy: «Mein Lieber, wo kann ich das jetzt melden?» Als Journalist müsse ich das ja wissen.

Johnny hat sich nie aus dem Fenster gelehnt, wenn die harten Themen dran waren. Wenn es keinen Widerspruch gab bei Wetterwitzen, die den Klimawandel leugneten, oder wenn Putin Friedensbereitschaft zugestanden wurde, die Nato sei ihm halt zu nahe gekommen. Pressefreiheit? Gebe es in Deutschland ja auch nicht, gegen die Regierung traue sich hierzulande niemand zu schreiben. Ein, zwei Hinweise, dass in den grossen Verlagshäusern wenig anderes lief als Kritik an der Regierung, halfen nichts. Solche «Meinungen» entstehen weit weg von Traditionsmedien, auf Telegram und Youtube. So radikal sprach Johnny zwar nicht, aber ich war mir nie sicher, ob er AfD wählte, selbst wenn ich ihn mochte.

Dann zeigt mir Johnny sein Telefon. «Schau mal, ick hab mir diese App von euch runtergeladen. SRF, find ick echt jut, muss ick sagen!» – «Was willst du denn in Berlin mit Schweizer Radio und Fernsehen, Johnny?» Er finde, die Öffentlich-Rechtlichen seien in Deutschland zu einseitig in der Berichterstattung. Später schwärmt er von der Frauenmannschaft von Union, die erst in die zweite und von da direkt in die erste Bundesliga aufgestiegen ist. Johnny hat eine Saisonkarte für die Frauen. «Die spielen richtigen Fussball, glauben ja viele nicht, ist aber so! Im Stadion kriegste ausserdem auch Bier und Wurst, aber ohne Stress!» Dann checkt Johnny ein Unwetter über Zürich und steckt sich eine Fluppe an.

Nun denke ich eher nicht mehr, dass Johnny die AfD wählt, ich bin da über meine eigene Voreingenommenheit gestolpert und schäme mich ein bisschen dafür. Das sollte mir eine Lehre sein. Aber bloss nicht romantisch werden jetzt; andere politische Schauplätze bleiben so unverhandelbar, dass ich sie meistens ganz vermeide. Im Osten ist es keine Minderheitenmeinung, die eigene Diktaturerfahrung für Medienkompetenz zu halten, in der Art von: Schon damals habe ich den Medien nicht geglaubt, und deshalb glaube ich ihnen auch heute nicht. Dass die staatlich kontrollierte Presse der DDR die Medienkompetenz gerade verhindert hat, damit kommt man nicht durch. Der Spielfeldrand ist der falsche Ort dafür.

Nicht immer gelingt es mir zu schweigen. Zu wenig Schlaf, wenn man nach einer beruflichen Schicht bis nach Mitternacht um sechs Uhr aufstehen muss, ein eiweisshaltiges Frühstück bereitstellt, um dann im Regen ein verunglücktes Spiel zu sehen: Da flattern schon einmal die Nerven. Casim packt das am besten und geht auch ruhig und körperlich dazwischen, wenn ein anderer Vater zu laut wird zum Gegner. Er hat einen guten Job, wir texten ab und zu, meistens, wenn unsere Kinder verletzt oder krank sind. Wie zwei, drei andere Väter auch hat er sogar Trainererfahrung. Er hat ganz klare Prinzipien: keine Politik und die anderen Kinder immer nur loben.

Das erinnert mich an meinen Schock als Jugendlicher in den späten achtziger Jahren in den USA, als niemand über Politik reden wollte, obwohl da Ronald Reagan Präsident war. Ich begriff erst nach einer Weile, dass es in diversen Gesellschaften oder Zweckgemeinschaften nicht immer sinnvoll ist, die eigene Meinung in den Vordergrund zu stellen. Man setzt damit etwas aufs Spiel, ändert aber nichts an der Situation.

Aber selbst Casim ist aufgeregter, wenn sein Sohn spielt, erst recht nach längerer Verletzungspause. An seinen Grundsätzen hält er trotzdem fest. Als ich etwas erstaunt bin, dass Jack nicht in die Berliner Auswahl geladen wurde (ein typischer Soccer-Dad-Reflex), textet Casim: «Das kann nicht sein, Jack ist gesetzt, und du kriegst die Mail vom Berliner Fussballverband einfach später!» Halb bin ich beruhigt, halb gerührt, weil ich weiss: Casim lobt gern. Und es wirkt!

Ein bisschen Spass

Manchmal frage ich mich, ob ich nicht lauter Widerspruch einlegen sollte, wenn jemand in einem schwachen Moment, wie ihn jeder Soccer Dad kennt, drauflospoltert. Dann merke ich mit der Zeit, dass sich die anderen genauso zusammennehmen wie ich auch. Wir lernen alle. Obwohl ich im Radio meistens die Genderpause spreche, habe ich beim Fussball damit aufgehört. Es führt vom Thema weg. Die lustige, verschleierte Balkanmutter und Patricia aus Kamerun würden die Genderpause kaum verstehen. Aber auch der deutschen Mendy muss ich damit nicht kommen. Von Mendy, in einem der härteren Stadtteile aufgewachsen, habe ich etwas über Geschlechterdifferenz gelernt, aber anders, als ich das aus meinem Milieu kannte.

Mendy nennt mich manchmal extra Tobias, wie nur meine Mutter früher, wenn sie hässig war. Mendy sagt es für meine Ohren ein bisschen wie eine Dragqueen, eine Frauendarstellerin. Verstärkt wird der Eindruck von ihren künstlichen Wimpern, den langen, gemachten Nägeln und dem etwas schräg gelegten Kopf. Solche extra weiblichen, betont netten, aber bei Bedarf auch rüden Frauen kenne ich nur aus Filmen oder als House Divas in der Clubkultur. Mendy ist aber very real, alleinerziehend, meistens mit Schlafmanko. Sie wird so etwas wie meine Freundin am Spielfeldrand. Ich denke, sie spürt sofort, dass ich sie, anders als manche Männer in der Grossraumdisco, die sie manchmal besucht, in Ruhe lassen werde und wir trotzdem herumalbern können. Auf den zwei Beweisfotos von Blitzern in Brandenburg, auf dem Weg zu Turnieren, sieht man Mendy jeweils gestikulieren. «Hab ich dich wohl wieder vollgequatscht, wa, Tobias!»

Mendys Sohn hat die Hürde fürs nächste Jahr nicht nehmen können. Bei unserer Verabschiedung hatte sie Tränen in den Augen. Manchmal texten wir. Einmal schreibt sie: «Wir haben ja auch nicht über Politik geredet. Und das war bestimmt besser so!» Das stimmt nur bedingt, denn ich habe mich nicht immer dran gehalten. Aber vermutlich hat sie jeweils einfach nicht zugehört. Sie redete lieber über die Kinder und auch über Privates. Vor allem wollte sie ein bisschen Spass, wie nach dem erstaunlich knapp verlorenen Champions-League-Spiel der Union-Profis gegen den Übergegner Real Madrid. Wir suchten die Kinder, die das Spiel in einem anderen Block des Olympiastadions verfolgt hatten und auf uns warteten. Aber erst hakte sie mich forsch unter und lief zum Getränkestand: «Zwei Bier, denn wir sind richtig sauer!» Dann Schnitzelbrote für die Jungs an einem kalten, nieseligen und für die Schulkinder viel zu späten Dienstagabend, eine Stunde von zu Hause weg.

Vielleicht wird es nun doch kurz romantisch. Denn was an all diesen Erfahrungen und vielen mehr für mich so erholsam ist: Es geht so gut wie nie um den Beruf, um das, was man darstellt oder in einer Stadt wie Berlin meint, darstellen zu müssen. Hier geht es zuerst um den Fussball, die Kinder und danach um alles Mögliche, aber so gut wie niemand will hier mit seinem Status auftrumpfen. Und es gibt bei allen Unterschieden ein stilles Einverständnis, dass wir das hinbekommen. Es ist ein einfaches Vertrauen ins Gelingen, ein mittlerweile seltenes Gefühl.

Aber das sind nur Momentaufnahmen. Die offensive Betonung, dass wir im Verein alle zusammenhalten, ist zwar nicht falsch. Aber der Zusammenhalt wird einem auch deshalb eingetrichtert, weil, wie alle wissen, sehr schnell das Gegenteil eintreten kann und wir auseinanderfallen. Jedes Jahr schaffen ein paar Spieler den Übergang in die Mannschaft der nächsten Altersklasse nicht. Und manche von ihnen sind so gekränkt, dass sie sich nicht einmal verabschieden. Gerade noch war die Mannschaft das Wichtigste im Leben, dann sind sie von einem Tag auf den anderen nicht mehr da. Ich habe schon Väter erlebt, denen das näher ging als den Kindern. Werde ich auch einer von ihnen sein, sollte Jack in den nächsten Jahren den Sprung nicht schaffen?

Furchen in Freundschaften

Jack spielt nun in der U14, die Mannschaft muss für die Ligaspiele Berlin verlassen. Der Fussball ist komplexer, das Tempo höher, das Kader grösser. Die Form einzelner Spieler kann stark schwanken, Talent allein reicht nicht mehr. Disziplin, Biss und Willenskraft erhöhen die Chance auf Erfolg. Es sind Begriffe, die ich in meinem Leben bisher nicht oft verwendet habe. Und was heisst es, wenn schon Zwölfjährige laut mit «Männer» angesprochen werden, während wir zu Hause mit Jack auch feministische Themen diskutieren?

Auch da hätte ich mir vor fünf Jahren mehr Sorgen gemacht. Das Selbstbewusstsein, das Jack gewonnen hat, gibt mir das Vertrauen, dass er lernt, verschiedene Bereiche seines Lebens selbst einzuordnen. Familie, Gymnasium, Freunde im Haus und fünf- bis sechsmal die Woche Fussball: Alle ticken anders. Den gebraucht gekauften Jogginganzug in Beige, Marke eines Rappers, haben alle Spieler erkannt, in der Schule keiner, ausser ein Mädchen.

Doch auch ich muss mittlerweile in meinem Umfeld stärker einordnen, wo Freundschaften wichtiger sind als Politik. Der terroristische Überfall der Hamas und der vernichtende Krieg der israelischen Streitkräfte in Gaza hat Furchen in den Freundeskreis geschlagen, gerade in Deutschland. Auch da ist es oft ratsamer, andere Themen zu suchen und am kostbaren Gut der sozialen Beziehungen festzuhalten. Und dass die Nato besser auf Putin hätte hören müssen, um Krieg zu verhindern, so etwas sagen selbst Philosophen in Talkshows. Dass mich der Fussball auf solche Situationen im Privatleben vorbereiten würde, hätte ich zuallerletzt gedacht. (Dafür hat sich das Alt-weiss-männlich-Problem erstaunlicherweise beruflich wieder ein Stück weit beruhigt.)

Doch die erste Frage bleibt derweil jeden Freitagabend: Wer kommt ins Kader, wer spielt in der Startelf? Mendy ist nicht mehr da, Devid auch nicht. Und wir?

* Alle Namen geändert.