Lyrik: Orientalisch! Okay?

Nr. 43 –

Azize Karagülle hat mindestens 800 Gedichte geschrieben, neun Bücher im Eigenverlag publiziert und eine «Verrücktes-Mädchen-Lyrikshow» im Berliner Offenen Kanal gemacht.

«Siehst du ihn?», fragt sie. «Er trägt einen Hut! Er fliegt.» Sie deutet in die Wolken. «Das da ist sein Umhang, seine Beine sind da. Er streckt sie in den Himmel! Siehst du den? Der läuft. Manchmal rennen sie. Wenn mehr Wind ist, werden sie schneller.»

Sie hat den Kopf in den Nacken gelegt, steht auf einem Rasenstück in einem Hinterhof in Berlin, Stadtteil Wedding, und guckt nach oben. Wenn jetzt ein grosser Hund angaloppieren würde, würde sie ihn nicht kommen sehen. «Ich hab früher schon den Wolkenmenschen zugeschaut», sagt sie. «Wenn ich auf dem Dach unseres Hauses lag und meine Schwester neben mir. Die Dächer sind flach da, wo ich herkomme, und die Nächte sind im Sommer so warm, dass wir manchmal da oben schliefen. ‹Siehst du sie?›, hab ich meine Schwester gefragt. - ‹Ein Mädchen, es macht einen grossen Schritt. Jetzt wird das Bein länger, jetzt geht es ab, jetzt weht es weg.› Und meine Schwester sagte, ‹ja, jetzt seh ich es auch.›»

Ihr Zeigefinger stürzt von den Wolkenmenschen in den Wedding hinab. Sie zeigt auf eine Neubauwand. Das Foto bitte da. Die Wand ist hell, sie reflektiert das Licht, und Licht ist gut. Davor eine Hecke mit immergrünen Zweigen, davor Azize, davor das Gras. Azize - mit Wangenrouge und Lippenstift, das Haar in ein seidenes Tuch gewickelt, strahlt, posiert, dreht sich, nimmt einen der Zweige in die Hand. Jetzt das Foto. Der Auslöser summt.

Mach es schön!

«Zweige», sagt sie später in der aufgeheizten Wohnung. «Ich kann mich an die Zweige vom Granatapfel erinnern.» Ein Mikrofon liegt auf dem Tisch. Es lauscht wie ein Spitzel, der alles aufzeichnet, was gesagt wird, ob es wichtig ist oder nicht. Die Granatäpfel gab es im Garten, sie waren süss und sauer in einem, die Zweige waren saftig und geschmeidig. «Mein Vater hatte ein kleines Taschenmesser, mit dem er sie schnitt. Mit diesen Zweigen hat er mich geschlagen, bis ich ohnmächtig wurde.» Sie will, dass ich den Rekorder abstelle. Sie will eine neue Tasse Tee.

Als in der Küche das Teewasser kocht, ist Azizes Stimme aus dem anderen Zimmer zu hören, laut und deutlich, sie spricht ein Gedicht. Es handelt von Rosen, Blüten, glitzernden Tautropfen. Azize hat den Rekorder wieder angestellt, sitzt vornübergebeugt und spricht in das Mikrofon. Sie hat den Spitzel überführt, er hockt gefügig in ihrer Hand. Dann legt sie ihn zurück auf den Tisch. «Da ist so viel Platz auf dem Rekorder gewesen», sagt sie. Jetzt sei da etwas von ihr. Sie trägt einen schwarzen Zopf, der auf einer Bluse ruht, die mit silbernen Fäden durchwoben ist. Azize mag glitzernde Sachen, Sachen, die schön aussehen und schön klingen. «Wenn du das schreibst, das von mir - mach es schön!», sagt sie. «Reiche Sprache. Orientalisch. Okay?»

Sie holt Luft. «Mein Papa hat nicht gemocht, dass ich zur Schule gehe. Deshalb. Mein Papa mochte meine Schwester. Die sagte immer ja, ja. Ja, ja zu allem. Ich war anders. Mein Papa sagte zu mir: ‹Azize, wenn ich dir sage, das ist ein Tisch, ist das ein Tisch. Basta. Egal, was es ist.› Und ich hab ihm geantwortet: ‹Nein, Papa. Wenn ich sehe, das ist kein Tisch, sondern eine Tür, dann ist es eine Tür. Irgendwann in meinem Leben werde ich viele Berge weit weg von hier sein. Und dann zählt, dass ich weiss, dass es eine Tür ist, und niemanden interessiert, ob du das für einen Tisch gehalten hast.›»

Wenn es dunkel wird

Azize spricht schnell, den Kopf nach vorn gestreckt, ein Geländewagen, der über ein Steinfeld rollt. Sie ist Ende 40, füllig, aber nicht dick. Sie schaut geradeaus und erzählt, dem Rekorder oder mir, es scheint egal zu sein.

«Mein Vater hatte eine Werkstatt und ein Schweissgerät. Die Leute hatten Gasherde, die auf drei Metallfüssen standen. Wenn einer der Füsse brach, kam mein Vater und schweisste sie. Es waren Dinge aus der alten Welt, die langsam verschwanden, und mein Vater war zu alt, um etwas Neues zu lernen. Vielleicht hatte er auch keine Lust mehr dazu.» Als das Geld, das der Vater mit seiner Werkstatt verdient, nicht mehr reicht, zieht die Mutter mit der Ältesten aus, um das Geld heranzuschaffen. Für sechs Jahre in Adana und für zwei in Berlin.

Man schreibt das Jahr 1968, als Azizes Mama eine Wohnung in Berlin-Wedding bezieht. Es ist das Jahr, in dem Gudrun Ensslin und Andreas Baader in Frankfurt am Main ein Kaufhaus in Brand stecken, in dem Studenten die Sorbonne besetzen und in Prag junge Frauen in Miniröcken vor russischen Panzerfahrern tanzen. In Wedding, nahe der Berliner Mauer, ist es so still, dass man sich aus dem Fenster beugt, wenn unten auf der Strasse ein Betrunkener singt. Die Häuser sind gross und dunkel.

«Wo sind in Deutschland die Menschen?», fragt Azize, die zu dieser Zeit 13 ist. «Weshalb ist es so still? Und was sind das für Löcher im Putz der Häuser, und was ist hinter dieser Mauer hinter unserem Nachbarhaus?»

Azize läuft auf den Strassen umher und sucht die Deutschen. Sie sucht eine Stelle, von der man über die Mauer blicken kann. Sie findet eine und guckt. Es ist eine weitere Mauer dahinter. Sie fragt nach den Löchern im Putz. «Das sind Einschusslöcher vom Krieg», sagt ein deutscher Nachbar zu ihr. Azize stellt sich einen Krieg vor und denkt: Vielleicht haben die Deutschen noch Angst. Vielleicht ist deshalb keiner draussen.

Wenn sie überhaupt jemanden trifft, sind es alte Menschen. Azize ist fasziniert von ihnen - Herren, die in ihren Hosen zwei steile Bügelfalten haben und die Schuhe geputzt, dass sie glänzen. Sie möchte diese alten Deutschen gern kennenlernen.

Als sie einer kleinen alten Dame begegnet, die auf der Kante eines Gehwegs steht und ein bisschen verloren aussieht, bietet sie an, mit ihr über die Fahrbahn zu gehen. «Bist du Ausländerin?», fragt die Dame. Azize nickt. Sie fasst ihren Arm, und sie gehen, sehr langsam. Die Dame sagt, sie sei blind. Azize merkt sich: «blind». «Wissen Sie, warum keine Leute auf der Strasse sind?», versucht Azize ihr Glück. «Wenn es dunkel wird», antwortet die Dame, «muss man auf seiner Bude sein.»

Azize rennt heim und schlägt in ihrem Wörterbuch nach: «blind». Und «Bude». Aha, denkt sie. Da sind also die Deutschen. Sie sind auf ihrer Bude, wenn es dunkel wird.

Die Maschinenführerin

Der Tee ist kalt geworden. Wir trinken kalten Tee. Neuen zu machen, bleibt keine Zeit. Sie erzählt: «Unsere Bude sah so aus: Wir wohnten direkt neben Schering, meine Mama konnte im Kittel über die Strasse zur Arbeit gehen. Wir hatten ein Zimmer und eine Küche. In der Küche schlief ich. Auf einer Couch. Wir hatten kein Bad und keine Waschmaschine, deshalb wurde in der Küche die Wäsche gewaschen, und in einer Gummiwanne wuschen wir uns. Man konnte die Küche nicht heizen. Im Winter stand sie oft voller Dampf, und die Tropfen liefen an den Fenstern herunter.»

Azize ist viel allein in dieser Zeit. Nach und nach kommen mehr Türken in den Wedding. Sie spielen gemeinsam Karten, wer verliert, muss zum Essen einladen. Aber Azize darf nicht mit allen Türken verkehren. Küsschen hier, Küsschen da, das geht nicht, sagt die Mutter, und am Ende bist du keine Jungfrau mehr. Die Mutter ist vorsichtig. Sie bewegt sich auf fremdem Terrain und muss doppelt wachsam sein. Azize zeigt ein Foto aus dieser Zeit, auf dem sie aussieht wie eine Schöne aus dem Morgenland. Während die Mutter Azizes Schönheit bewacht, sieht Azize den Wolkenmenschen zu.

Wie früher. Nur ihre Schwester ist nicht da. «Siehst du sie?», sagt sie zu sich selbst. «Ein Mädchen, es hat ein sehr langes Kleid. Es hat einen Schleier. Jetzt wird er länger. Jetzt geht er ab. Jetzt fliegt er weg.»

Die Mutter schickt Azize auf eine Schule für Hauswirtschaft, wo sie kochen, nähen, haushalten lernt. Aber eigentlich will sie nicht kochen, nähen, haushalten. Sie fragt bei einer nahe gelegenen Schnapsfabrik, ob sie helfen darf. Sie fragt siebzehnmal, so lange bis eine entnervte Chefin sie an Nachmittagen arbeiten lässt. «Als ich die Schule fertig hatte, durfte ich direkt als Maschinenführerin anfangen», erzählt Azize stolz und lässt eine Kunstpause entstehen, in der man sie sich als Maschinenführerin vorstellen kann. In einem bunten Kittel sitzt sie erhöht und bewegt Hebel mit runden schwarzen Knäufen. Auf einem Band laufen Flaschen entlang. Menke & Co. hiess die Schnapsfabrik, sie hat längst dichtgemacht, so wie die meisten Fabriken hier. Draussen ist es dunkel geworden. Der Neonschriftzug des Nachbarschaftsvereins Adana ist durch das Fenster zu sehen.

Ein Gedichtebaukasten

Azize ist nicht Maschinenführerin geworden. Doch, natürlich ist sie es. Sie lügt ja nicht. Aber nicht für lang. «Es holt uns ein», sagt sie. Sie hat geheiratet, obwohl sie kein gutes Gefühl dabei hatte. Weil sich alles wiederholen könnte - die Mutter, der Vater, Azize, ihr neuer Mann. Ein schöner Mann, der aus einem Dorf bei Adana stammt. «Er hat», sie macht eine Geste mit der Hand, die weist in die Luft, die sagt, da war viel, du kannst es dir vorstellen, ich will es nicht benennen. Zugleich sagt die Handbewegung: «Ich scheuch es fort.» Er hat sie, sie zeigt es mit beiden Händen, so gegen eine Wand geschubst. Sie macht die Hände flach, im rechten Winkel zum Arm, und etwas unerwartet Abruptes, Gewalttätiges geht plötzlich von ihr aus. Er hat gespielt, kam nicht nach Haus, hat sie mit einem Messer verletzt. Sie sagt es, dann scheucht sie es weg.

Azize hat eine merkwürdige Krankheit bekommen. Sie darf nicht mehr arbeiten, hat etwas mit den Muskeln, sie hat Kopfschmerzen, und da ist noch etwas anderes. Früher hätte man Schwermut dazu gesagt. Jetzt sagt man Depression. Ein seltsamer, medizinischer Ausdruck, der klingt, als würde Azize flache Turnschuhe tragen, die nicht zu ihr passen. Weil sie doch schöne, reiche, klangvolle Worte für schöne Bilder mag. Die sieht sie überall: in den Baumkronen, im Putz der Häuser.

Als sie eines Tages ihrem Neurologen sehr plastisch ihre Leiden und ihr Schicksal schildert, sagt der zu ihr: «Frau Karagülle, Sie müssen schreiben.» «Was schreiben?», fragt Azize. «Einen Roman oder Gedichte», sagt der Arzt ein bisschen zerstreut. «Oder vielleicht ein Tagebuch.»

Azize denkt nach. Tagebuch ist zu einfach, denkt sie. Roman - ist zu schwer. Gedicht - ist genau richtig. Wenige Worte, mehr Bedeutung. Aber - wie schreibt man ein Gedicht? Für ein Gedicht braucht man spezielle Worte, Gedichtworte. Wo kriegt man die her?

Sie hat eine Idee: Sie kauft Musikkassetten mit deutscher Schlagermusik, die Liedertexte sind Sammlungen der Wörter, die sie sucht. Man kann sie sich anhören und dann nachlesen. Und auswählen. Es ist wie ein Baukasten, aus dem man Gedichte zusammenbauen kann. Probehalber schreibt sie 400 Gedichte. «Mein Mann hat sie gefunden und hat sie alle weggeworfen», erzählt sie ungerührt. «Aber ich dachte, ist mir egal, du kannst machen, was du willst, ich mache neue, und irgendwann mach ich ein Buch, das kannst du wissen.»

Sie macht 400 neue Gedichte, die sie im Keller versteckt. Mit dem Mann wird es immer schlimmer. Sie kämpft mit dem Mann - die Sache mit dem Messer ereignet sich -, sie nimmt die Kinder und geht in ein Frauenhaus. Azize schreibt - Gedichte und noch mehr Gedichte: Rosen, Blüten, Tautropfen. Gefühlsworte, zu dicken Sträussen gebunden. Sie schreibt neun Bücher, die sie alle in der Türkei im Eigenverlag drucken lässt. Als der Buchproduzent ein Titelbild verdirbt, haut sie auf den Tisch und fährt auf: «Ich hab gesagt, ich will ein Herz, Herz für Gefühl, ja?» Sie bekommt ihr Herz für Gefühl. Selbstverständlich wird der Titel noch einmal gedruckt.

Sie muss leuchten

Inzwischen lebt sie mit ihrem Sohn in einer Zweizimmerwohnung. Die Tochter ist eben aus dem Haus. An den Wänden hängen Batiken, auf den Fensterbrettern drängen sich Zimmerpflanzen - Klettergewächse, Gummibäume, Orchideen. Azize mag, was wächst und Blüten hat. Sie spricht mit den Pflanzen, die der kleinen Wohnung die Sonne nehmen. Es ist eng. Zwar muss keiner in der Küche schlafen wie früher, doch wenn Besuch kommt, wird das Bett des Sohnes zur Couch umgeklappt.

Lieber geht Azize nach draussen. Seit die Schnapsfabrik und fast alle anderen Fabriken geschlossen haben, ist der Wedding von einem Netz durchzogen, dessen Fixpunkte auf «-werkstatt» oder «-projekt» enden. Azize geht zum türkischen Nachbarschaftsverein, zum deutschen Nachbarschaftsverein, zum internationalen Nachbarschaftsverein. Zu Kursen für literarisches Schreiben in der Medienwerkstatt, dort dichtet sie wie ein Maschinengewehr und nennt die Kursleiterin «ihr persönliches Wörterbuch». Sie geht zum Singen in der Nachbarschaftsetage, zum Seidenmalen für Frauen. Zum türkischen Seniorentreffen. In ihrem Alter? - Egal. Sie geht auch ins Altersheim und liest den wundersamen deutschen Alten, die sie schon immer kennenlernen wollte, ihre Gedichte vor. Sie macht die «Verrücktes-Mädchen-Lyrikshow» im Offenen Kanal. Azize bewegt sich heute auf den Weddinger Strassen anders, als ihre Mutter es tat. Die Mutter schwang wie ein Pendel. Zwischen Wohnung und Schering. Küche und Arbeit.

Hin und her. Azize geht nie im Kittel zur Arbeit, sie unternimmt weite Wege zu ihren Vereinen und trifft andere, die nicht arbeiten, wie sie. Es ist ein ganz eigener Kosmos, und Azize ist darin ein ganz eigener Stern. Sie trägt ein Hütchen mit Schleier. Eine Kette mit dicken Perlen. Blonde Kunstzöpfchen, rote Röschen, ins Haar gesteckt. Sie grüsst, gibt Küsschen, leuchtet, redet, schnell, holpernd. Azize nervt, sagt jemand. Azize ist ein Leuchtturm, sagt ein anderer. Sie muss so leuchten, anders geht es nicht.

An manchen Tagen kann sie nicht kommen, weil sie zu Hause im Bett liegt, mit «Depressionen». Manchmal ist sie im Krankenhaus. Durchs Fenster kann sie die Wolkenmenschen sehen, die laufen, und wenn Wind geht, fliegen sie.