Repression in Serbien: Theaterfestival geht in den Untergrund

Nr. 47 –

Seit einem Jahr unterstützt die serbische Kulturszene die Proteste gegen den Präsidenten Aleksandar Vučić. Dieser versucht, sie zu strafen – und erreicht damit das genaue Gegenteil.

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Borisav Matić und Miloš Lolić
«Mit der Zensur haben sie uns einen Riesengefallen getan»: Borisav Matić und Miloš Lolić sind nicht bereit, das Belgrade International Theatre Festival aufzugeben.

Wenige Tage nachdem er seinen Job verloren hat, sitzt der Theaterregisseur Miloš Lolić mit seinem Kollegen Borisav Matić im Hinterzimmer eines Theaters, lächelt und sagt: «Es läuft alles nach Plan. Die letzten Masken des Regimes fallen.» Draussen prasselt Regen gegen die Fenster des Gebäudes, das früher eine Kirche war. Neben den beiden Männern in ihren langen schwarzen Mänteln sitzt ein Wachmann auf einem Stuhl, die Hände über dem Bauch verschränkt. Auf einem kleinen, stummgeschalteten Fernseher läuft der Staatssender RTS. Präsident Aleksandar Vučić hält mit ernster Miene eine seiner Ansprachen. Lolić und Matić schenken ihm keine Beachtung.

Die beiden sind die Kuratoren des Belgrade International Theatre Festival (Bitef) – beziehungsweise waren sie das bis vor wenigen Tagen. Das Bitef ist das grösste Festival seiner Art in der Region und eines der ältesten Europas. Diesen Herbst hätte die 59. Ausgabe stattfinden sollen. Als künstlerischen Leiter hatte das Festival Miloš Lolić berufen, einen der renommiertesten Theatermacher Serbiens. Im Kollektiv mit Borisav Matić und Ana Vujanović sollte er das Programm kuratieren. Doch das Festival, wie es geplant war, wird es in diesem Jahr nicht geben. «Das ist nur der neuste Höhepunkt in diesem ‹multiverse of horrors›», sagt Lolić.

Seit einem Jahr demonstrieren in Serbien Hunderttausende gegen das Regime von Aleksandar Vučić. Insbesondere aus der Kulturszene war die Unterstützung für die Proteste von Beginn an gross. «Wir wussten, dass die Lage ziemlich angespannt ist», sagt Lolić. «Und dass es, wenn wir das provokative Programm so durchziehen, wie es die Situation verdient, wahrscheinlich einige Hindernisse zu bewältigen geben wird.»

«Offene Zensur»

Als die künstlerischen Leiter im September das Programm vorstellten, lehnte der Vorstand es ab. «Zum ersten Mal in der Geschichte des Festivals», sagt Matić. Die Begründung: Im Programm standen nicht nur serbische Künstler:innen, sondern auch der Name eines Schweizer Theatermachers – Milo Rau mit seinem Stück «Der Prozess Pelicot». Nun hatte Rau bereits im vergangenen Jahr die Bitef-Eröffnungsrede gehalten und damals das geplante Lithiumabbauprojekt im serbischen Jadartal unter Beteiligung der EU scharf kritisiert. Auch wenn Vučić nicht namentlich genannt wurde, war die Botschaft für ihn als Dealmaker ein unmissverständlicher Affront. «Die Mitglieder des Vorstands haben uns keinen einzigen Grund genannt, warum Rau nicht kommen darf», sagt Matić. «Alles, was sie sagten, war: ‹Haben wir aus dem vergangenen Jahr nichts gelernt?›» Der Vorstand habe ihnen angeboten, das Festival ohne Rau stattfinden zu lassen – für die beiden ausgeschlossen. «Wir erleben hier einen Fall offener Zensur», sagt Matić.

Doch der Fall Bitef ist nicht der erste Schlag des Regimes gegen die serbische Theaterszene. Seit Jahresbeginn wurden sämtliche Kulturförderungen gestrichen. Schon zuvor musste das Festival of Professional Theatres of Vojvodina, das älteste Theaterfestival Serbiens, abgesagt werden, nachdem staatliche Förderung ausgeblieben war. Staatliche wie kommunale Förderungen werden nicht ausgezahlt – betroffen sind sowohl freie Gruppen als auch Künstler:innen, die in öffentlichen Institutionen angestellt sind.

Zwei Tage zuvor, in einem Café in der Belgrader Innenstadt unweit des Nationaltheaters. Eigentlich sollte Bojana Stefanović in diesem Moment für ihre Rolle als Lady Capulet in Javor Gardevs «Romeo und Julia»-Inszenierung proben. Doch die Probe findet nicht statt, die Premiere wurde auf unbestimmte Zeit verschoben. Das Nationaltheater ist geschlossen. Stefanović, die dort seit 24 Jahren Schauspielerin ist, sagt: «So etwas habe ich in all der Zeit nie erlebt.»

Seit Beginn der Proteste haben sich die Ensemblemitglieder solidarisiert. «Wir haben die Nato-Bombardierungen erlebt, die Sanktionen der Neunziger – aber niemals, dass sechzehn Menschen durch einen Unfall sterben, der hätte verhindert werden können», sagt Stefanović. Sie verweist damit auf den Einsturz des Bahnhofsvordachs von Novi Sad am 1. November 2024, der die Proteste ausgelöst hatte. Als im Januar eine demonstrierende Studentin von einem Auto angefahren wurde, sagten sie und ihre Kolleg:innen die Vorstellung ab. Bei den folgenden Aufführungen protestierten sie auf der Bühne: mit in rote Farbe getunkten Handschuhen – als Zeichen dafür, dass die Regierung Blut an den Händen hat – und indem sie Studienausweise hochhielten.

«Nationale Schande»

Im Juni setzte die Regierung einen neuen Präsidenten des Verwaltungsrats des Nationaltheaters ein: den Filmemacher Dragoslav Bokan. Er gilt als Vučić-loyal und soll laut «Guardian» einer der Gründungskommandanten der White Eagles gewesen sein, einer der gefürchtetsten Milizen der Jugoslawienkriege. Mitglieder der Einheit werden beschuldigt, Massaker in Bosnien und Herzegowina begangen zu haben. Bokan selbst bestreitet seine aktive Beteiligung.

«Dazu kann ich nichts sagen, ich war damals ein Kind», sagt Bojana Stefanović. «Aber er hat sehr schnell klargemacht, dass er gekommen ist, um im Theater aufzuräumen.» Bokan habe das Ensemble als wilde Bande nutzloser Chaoten dargestellt, junge Schauspieler:innen sogar als «eingeschleuste Blockierer». Stefanović sieht darin eine Bestrafung des Kultursektors für die Unterstützung der Student:innenproteste. Der Regisseur Boris Liješević, der eine grosse Produktion auf Eis gelegt hat, sagte: «Diese Zeit wird als eine grosse Krise des Nationaltheaters in Erinnerung bleiben und die Verantwortlichen für diese Krise als nationale Schande. Über Nacht wurde alles zerstört.»

Denn: Im September liess der neue Verwaltungsratspräsident Bokan seinen Drohungen Taten folgen. Im Nationaltheater wurde ein neues Dekret eingeführt, das es Mitarbeitenden untersagt, «ihre politischen Meinungen verbal, symbolisch oder durch Gesten zum Ausdruck zu bringen». Für die Schauspieler:innen war gleich klar: Sie wollen nicht klein beigeben. Zur Saisoneröffnung Anfang Oktober rollten sie Plakate mit der sinngemässen Aufschrift «Das Nationaltheater dem Volk» aus. Die Strafe folgte auf dem Fuss: Am 3. Oktober wurde das Theater wegen angeblich mangelnder Brandschutzvorkehrungen geschlossen.

«Das ist lächerlich», sagt Stefanović. «Dann müsste fast jedes öffentliche Gebäude in Serbien dichtgemacht werden.» Für sie ist klar, dass die Schliessung eine Form der Repression gegen die widerspenstige Belegschaft ist. «Diese Regierung hat sich nie für Kultur interessiert.» Jetzt sei sie froh, dieses Geld einzusparen. Nach Ansicht von Miloš Lolić folgt die serbische Regierung damit auch einem globalen Trend: «Egal ob in Trumps Amerika, in Deutschland nach dem 7. Oktober 2023 oder in Vučićs Serbien – kritische Stimmen sollen zum Schweigen gebracht werden.»

«Guerilla-Edition»

Doch die Massnahmen könnten nach hinten losgehen. «Wir bekommen unglaublich viel Unterstützung», sagt Stefanović. «Und wir werden nicht verstummen.» Und beim Bitef? «Das Bitef, wie wir es kannten, wird es in diesem Jahr nicht geben», sagt Borisav Matić. Alle eingeladenen Künstlerinnen und Künstler hätten abgesagt. Niemand wolle unter diesen Bedingungen auftreten. Er macht eine kurze Pause, dann huscht ein Lächeln über seine Lippen. «Aber es wird ein Bitef geben – eine Guerilla-Edition.» Eben ohne staatliche Förderung. Und ohne Zensur. Inklusive Milo Rau. Er wird dabei sein, wenn das Festival am 15. Dezember in Belgrad eröffnet wird, wie er der WOZ bestätigte. Miloš Lolić sagt: «Seien wir ehrlich: Es hätte nie so viel Aufmerksamkeit gegeben, wenn sie das Festival einfach hätten stattfinden lassen. Mit der Zensur haben sie uns einen Riesengefallen getan.»

Lolić und Matić strecken dem Wachmann nach dem Gespräch die Hand hin. Der verschränkt die Arme vor der Brust und verweigert den Gruss. «Wollen Sie uns nicht die Hand geben?», fragt Lolić. «Ihr seid widerlich», zischt der Wachmann auf Englisch. Dann dreht er den Ton des Staatsfernsehens wieder laut.