Kost und Logis: Die Landschaft essen
Bettina Dyttrich denkt auf Domleschger Wegen an China

Die Äpfel sind überall im Domleschg. Sie liegen unter den alten Hochstammbäumen auf den Schafweiden, aber erfreulich viele werden auch gepflückt oder aufgesammelt. In Scharans klettert ein Mädchen auf einen Baum und reicht sie der Familie hinunter. Vor der nahen Mosterei stehen an diesem Samstag Leute mit Harassen Schlange. Der Spielplatz liegt mitten im Obstgarten.
Das Klima ist mild in diesem freundlichen Bündner Tal, das viele nur vom Durchfahren Richtung Engadin oder San Bernardino kennen. Ein Biohof zieht erfolgreich Melonen, eine enthusiastische Gruppe baut Mais für Polenta und Tortillachips an; hier wachsen auch Linsen, Reben, Marroni- und Nussbäume. Und eben Apfelbäume überall. Auf dem Almenser Herbstmarkt, wo es auch Alpkäse, Schaffelle, Honig, Arvenseifen und Salsiz zu kaufen gibt, stehen grosse Harassen mit alten Sorten wie Spartan und Sauergrauech. Gute Beizen wie das Landhus Almens und die Skihütte Feldis (siehe WOZ Nr. 34/22) kochen mit der Vielfalt, die dieses Tal hergibt.
Der US-amerikanische Reisejournalist Paul Salopek hat sich zum Ziel gesetzt, von Afrika aus quer durch Asien und weiter durch Nord- und Südamerika zu wandern. Im «National Geographic» beschreibt er sein Erstaunen beim Durchqueren der chinesischen Provinz Jünnan: Er findet eine Landschaft vor, die «noch nicht den Bedürfnissen unserer Maschinen unterworfen» ist, eine «handgemachte Welt». Er trifft «Korbmacher, Maultierpacker, Pilzsammler, Hinterhofweber» und eine Bäuerin, die abgesehen vom Schnaps alle ihre Lebensmittel selbst kultiviert. Die Wege fühlen sich vertraut an, gerade weil die Gegend stark menschlich geprägt ist – «nicht die erhabene Wildnis, sondern eher das Gegenteil: eine seltene Übereinkunft zwischen Menschen und Landschaft».
Bis in die letzten Winkel wird die Welt heute den Maschinen angepasst – die «handgemachte Welt» ist unbezahlbar geworden, zumindest solange die fossilen Brennstoffe so billig bleiben. Zerstört wird dabei eben nichts «Unberührtes», sondern seit Jahrtausenden von Menschen bearbeitete Landschaften – für die Biodiversität ist das nicht weniger verheerend. Salopek trifft einen Maultierhirten, der mit dem Transport von Presslufthämmern und Zement das Geschäft seines Lebens macht. Dann ist die Strasse gebaut, und es braucht ihn nicht mehr.
Zwischen Kreiseln und Hochspannungsleitungen lässt sich auch in der Schweiz erleben, was Salopek beschreibt. Zum Beispiel im Domleschg mit seinen von Trockenmauern eingefassten Wegen und seiner beeindruckenden Architektur. Es geht nicht darum, sich die patriarchal-bäuerliche Gesellschaft zurückzuwünschen. Sondern die Landschaften, die diese geprägt hat, mit den heutigen Möglichkeiten zu würdigen und zu pflegen. Weil sie schön und biodivers sind. Und vor allem: weil Biodiversität und kulinarische Diversität untrennbar verbunden sind.
Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin.