Pflege im Film: Vergesst «Grey’s Anatomy»!
Mit «Heldin» bringt Petra Volpe den Spitalalltag ins Kino. Was sagt eine Pflegefachfrau zum Film?

Floria schlüpft in ihr blaues Hemd. Gleich beginnt ihre Spätschicht auf der Viszeralchirurgie. Sie dauert acht Stunden, aber Floria muss sie vorkommen wie eine Ewigkeit: Am Ende des Films ist sie völlig erschöpft.
«Heldin» von Petra Volpe zeigt den Arbeitstag einer Pflegefachfrau. Es ist ein Spielfilm mit dokumentarischen Zügen. Die WOZ hat ihn sich zusammen mit einer Fachperson angeschaut: Cevincia Singleton arbeitet seit 2008 in der Pflege, ist Mitglied des VPOD und des Netzwerks Gesundheit vor Profit. Eigentlich, sagte sie im Vorfeld, wollte sie sich diesen Film nicht anschauen: Der Trailer habe sie zu sehr abgeschreckt. «Nur schon die Telefone, die die ganze Zeit klingeln – das hat mich total getriggert. Ich dachte, wow, das ist mein Berufsalltag.»
Das Telefongeklingel ist in «Heldin» tatsächlich ständig präsent. Genauso wie der Zeitdruck, unter dem Floria (brillant gespielt von Leonie Benesch) steht. Immer wieder muss sie ihren Patient:innen erklären, dass die Station unterbesetzt ist. Schnell wird klar: Für alle diese Menschen da zu sein, ist eigentlich unmöglich.
WOZ: Cevincia Singleton, viele von Florias Patient:innen verstehen nicht, dass sie für sie kaum Zeit hat. Verständlich, die Patient:innen selbst sind ja in einer totalen Ausnahmesituation. Kennen Sie das?
Cevincia Singleton: Ja, wobei sich seit Covid schon etwas verändert hat: Die Bevölkerung hat ein stärkeres Bewusstsein für die Pflege. Zugleich ist aber auch die Arbeitslast grösser geworden: Weniger Personal muss mehr leisten. Im Film gibt es diese Szene, in der die Frau eines Patienten Floria hilft, das Bett ihres Ehemanns in den OP zu schieben. Solche Situationen werden immer realistischer: Angehörige werden zunehmend Verantwortung übernehmen müssen, weil es die Pflege allein nicht schafft. Das ist vielen nicht bewusst, auch im Film nicht. Als Pflegende ist es wichtig, klare Grenzen aufzuzeigen und den Patient:innen klarzumachen, dass man priorisieren muss. Wie das Floria ja immer wieder tut.

WOZ: Wo ziehen Sie diese Grenzen in Ihrem Berufsalltag?
Cevincia Singleton: Für mich ist klar, dass der Versicherungsstatus keine Rolle spielen darf: Ich finde, jeder Mensch ist gleichwertig, egal welcher Klasse er angehört. Privatversicherungen werden aber immer mehr zu einem Allround-Package-Service-Angebot. Diesen Trend finde ich beängstigend.
WOZ: Im Film gibt es einen aufgebrachten Privatpatienten, der völlig überrissene Forderungen an Floria stellt. Er schreit sie an, stoppt die Zeit, die sie braucht, um ihm einen Tee zu bringen. Ist das eine realistische Figur?
Cevincia Singleton: Absolut. Der Versicherungsstatus der Patient:innen wird im Berufsalltag immer stärker Thema. Wir Pflegenden fangen viel Frustration ab. Ich verstehe diesen Unmut auch: Privatversicherte zahlen dreissig, vierzig Jahre lang extrem hohe Prämien und realisieren dann: «Hey, das ist ja eine Mogelpackung. Das Einzige, was meine Versicherung von den anderen unterscheidet, ist, dass ich ein Gratisdessert bekomme. Und dass mich irgendwann mal noch der Chefarzt besuchen kommt.» Je nach Bettenbelegung und Spitalinfrastruktur ist nicht einmal ein Einzelzimmer garantiert. Es sind die Krankenkassen, die das verschulden. Aber der Missmut entlädt sich dann halt an der Person, die dasteht.
Ständig blinken an den Türen rote Lichter auf: Patient:innen, die nach Floria klingeln. Zunehmend gestresst schiebt sie ihren Wagen durch die langen Spitalgänge – ihre Kollegin, die einen anderen Trakt übernommen hat, scheint meilenweit weg.
Florias Züge werden angespannter. Permanent muss sie neu abwägen, Bedürfnisse priorisieren. Frau Lauber, die auf ihre Infusion wartet, Herr Schneider, der im Sterben liegt, Herr Nana, der ins CT muss, Frau Morina mit Krebs im Endstadium – alle brauchen sie.
WOZ: Wie haben sich die Veränderungen im Gesundheitswesen in den vergangenen Jahren auf die Beziehung zwischen Patient:innen und Personal ausgewirkt?
Cevincia Singleton: Das Gesundheitswesen ist nicht mehr so paternalistisch wie vor fünfzig Jahren, und das ist gut so. Gleichzeitig ist es aber auch eine Herausforderung. Heute haben wir die informierte Patientin, die alles googelt, mit klaren Diagnosekriterien ankommt – und entsprechend auch mehr einfordert, wie im Film Frau Lauber. Wer das nicht tut, geht daneben unter. Auch Floria wird den Bedürfnissen mancher Patient:innen und ihrer Angehörigen einfach nicht gerecht.
WOZ: Und doch schafft sie es immer wieder, sich kurz Zeit zu nehmen, um auch auf die emotionalen Bedürfnisse der Patient:innen einzugehen.
Cevincia Singleton: Wir lernen das in der Ausbildung, dort nennt man das «the art to care». Das meint also, dass es eine Kunst sei, empathisch zu bleiben und sich im richtigen Augenblick Zeit zu nehmen. Es gibt viele schöne Momente im Film, die das zeigen. Mir ist geblieben, wie Floria den Kindern der krebskranken Mutter Lollis mitbringt. Einmal singt sie zusammen mit einer an Demenz erkrankten Frau ein Lied, um sie zu beruhigen – da hat sie sehr gut reagiert.
WOZ: «Heldin» zeigt auch das Zusammenspiel zwischen den Berufen. Wie erleben Sie das im Alltag?
Cevincia Singleton: Im Film lässt Floria einmal ihren Stress an der Lernenden aus. So etwas versuche ich zu vermeiden. Dafür ecke ich immer wieder mal bei der Ärzteschaft an. Ich habe kürzlich einen Masterabschluss in der Pflege gemacht und kann jetzt auf derselben Flughöhe argumentieren, weil ich das Wissen habe und auch den Mut dazu. Bei den Ärzt:innen löst das Unsicherheit aus. Aber als Pflegende sehe ich mich als Advokatin der Patient:innen: Ich muss für ihre Bedürfnisse einstehen und ab und zu, wie das Floria auch tut, eine Ärztin zurechtweisen.
WOZ: Floria versucht, die Ärztin dazu zu bringen, vor Feierabend noch kurz mit einem Patienten zu reden, der zunehmend verzweifelt auf seine Diagnose wartet. Sie weiss, dass Herr Leu Dickdarmkrebs hat, darf ihm als Pflegende aber nichts sagen. Das muss extrem schwierig sein.
Cevincia Singleton: Es kommt oft vor, dass eine Diagnosemitteilung noch nicht stattgefunden hat und man als Pflegende ein Pokerface wahren muss. Wir kennen ja die Krankengeschichte. Wenn wir wissen, dass ein Patient Metastasen im ganzen Körper hat und sterben wird – das ist schwer.
WOZ: Dazu kommt, dass Herr Leu Floria nahe ist. Trotzdem muss sie sich abgrenzen.
Cevincia Singleton: So ist es oft. Ich habe gelernt, Distanz zu wahren, um angesichts dieser Schicksalsschläge nicht zu traurig zu werden. Aber es ist ein Balanceakt. Ich werde nie mehr vergessen, wie einer jungen Patientin gesagt wurde, dass sie nach einem Schlaganfall nicht mehr würde gehen können. Sie hatte zwei kleine Kinder zu Hause und wollte sich während meiner Schicht das Leben nehmen. Wir lagen uns weinend in den Armen. Gemeinsam haben wir gekämpft. Zehn Tage später konnte sie den Gang hinuntergehen.
WOZ: Halten es Menschen mit einem grösseren Empathievermögen länger im Beruf aus?
Cevincia Singleton: Ich kann nur für mich sprechen: Die Care-Arbeit ist etwas, das ich gut kann und sehr gerne mache, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Der menschliche Aspekt gibt mir auch viel Kraft zum Weitermachen. Trotzdem komme ich immer wieder an den Punkt, wo ich nicht mehr kann. Wir sehen diese Anzeichen auch bei Floria: Die Leere im Blick, wenn sie immer wieder aus dem Fenster starrt. Das sind kleine Reality-Checks im Alltag, wo man sich fragt: Wie lange schaffe ich das noch? Und dann geht es weiter im Programm.
Fast jede zweite Pflegefachperson steigt aus dem Beruf aus, ehe sie das 35. Lebensjahr erreicht. Bis 2030, so heisst es im Abspann von «Heldin», werden in der Schweiz bis zu 30 000 Pflegefachkräfte fehlen.
Floria erreicht ihren Tiefpunkt, als eine Patientin unerwartet stirbt. Der Grund ist unklar; Floria hat es auf ihrer Kontrollrunde nie bis zu ihr geschafft. Die Söhne der Frau machen ihr Vorwürfe. Eine Ärztin verteidigt sie: die Pflegende habe das nicht voraussehen können.
Die nächste Einstellung zeigt Floria, wie sie den Wasserkocher im Dienstzimmer anstarrt, in dem Teewasser für den Privatpatienten kocht. Selbst jetzt, denkt man sich, behält sie solche Nichtigkeiten im Kopf.
WOZ: Was muss sich verändern, damit Sie diesen Beruf auch mit fünfzig noch machen?
Cevincia Singleton: Für mich ist schon lange klar, dass ich in der Pflege nur Teilzeit arbeiten kann. Vielleicht gibt es Pflegende, die diesen Beruf jahrelang Vollzeit machen können, ohne ihre Empathie zu verlieren. Aber ich glaube, dass man dabei verroht, und das will ich nicht. Ausserdem müssen sich die Arbeitsbedingungen verbessern. Der Lohn ist da schon fast sekundär. In den vergangenen Jahren wurde das Gesundheitswesen zunehmend nach ökonomischen Kriterien ausgerichtet …
WOZ: … und die Pflege gilt nicht als wertschöpfend.
Cevincia Singleton: Genau. Gesundheitsleistungen werden als Konsumgut wahrgenommen, das endlos beansprucht werden kann, weil man ja dafür zahlt. Das hat für mich auch mit Sexismus zu tun: Die Pflege ist ein frauendominierter Beruf, und die Arbeit von Frauen wird generell wenig wertgeschätzt. Es gibt eine Szene zu Beginn des Films, als Floria mit einem Kollegen einer alten Frau die Schutzhose wechselt. Wie sie da kniend ihre Arbeit verrichtet, den Stuhl wegputzt, während der Kollege als starker Mann die Patientin hält, ist schon sinnbildlich.
Einmal platzt Floria in «Heldin» der Kragen, sie wirft die Uhr des Privatpatienten aus dem Fenster. Der wiederum erweist sich als Mensch, der angesichts seiner Krebsdiagnose eigentlich keinen Tee, sondern Trost braucht; Floria setzt sich zu ihm ans Bett.
«Heldin» zeigt ein systemisches Problem auf, ohne die Menschen aus dem Blick zu verlieren. Als eine «Liebeserklärung an die Pflege» möchte Petra Volpe ihn verstanden wissen.
WOZ: Der Film heisst «Heldin». Wie finden Sie diesen Titel?
Cevincia Singleton: Einerseits spricht daraus Wertschätzung. Andererseits will ich keine Heldin sein. Natürlich ist es schön, für einen Patienten oder die Angehörigen einen Moment lang diese Rolle einzunehmen. Aber der Begriff suggeriert etwas Übermenschliches. Wir Pflegefachpersonen sind keine Marvel-Figuren – es ist ein Beruf. Ich will, dass alle, die diesen Film schauen, «Grey’s Anatomy» vergessen. Sie sollen realisieren, dass das, was in «Heldin» gezeigt wird, Realität ist.
«Heldin» läuft jetzt im Kino.