Gesundheitspolitik: Die Psychiatrie im permanenten Ausnahme­zustand

Nr. 5 –

Der Personalmangel trifft den psychiatrischen Bereich äusserst hart. Die Auswirkungen zeigen sich besonders drastisch am Beispiel des Kantons Bern.

Eingangsbereich der als «Waldau» bekannten UPD-Klinik
Stellenstopp ausgerechnet zu Beginn der Pandemie: Eingangsbereich der als «Waldau» bekannten UPD-Klinik. Foto: Alessandro della Valle, Keystone

Der Druck scheint enorm zu sein: Die Initiant:innen eines offenen Briefes an den Berner Gesundheitsdirektor Pierre-Alain Schnegg (SVP) wollen jedenfalls nicht mit der WOZ sprechen – auch nicht anonym. «Wir möchten […] Veränderungen im System anregen, nicht anklagend auf Einzelne zeigen. […] Zudem sind wir alle hochprozentig in psychiatrischen Institutionen im Kanton Bern angestellt und wollen keinen Interessenkonflikt mit unseren Arbeitgebern auslösen», schreiben sie auf Anfrage.

Mit dem Brief hatten sich rund 400 Fachpersonen der Berner Psychiatrie letzte Woche an Schnegg gewandt: Eine «fachgerechte Betreuung» schwer psychisch erkrankter Menschen sei nicht mehr gewährleistet, heisst es darin. Selbst Patient:innen mit akuter Selbst- und Fremdgefährdung würden vorwiegend von Berufsanfänger:innen behandelt, was auf die Gesundheitspolitik der Berner Regierung zurückzuführen sei. «Aufgrund fehlender Ressourcen sind wir gezwungen, hinzunehmen, dass wir zu wenig Zeit für unsere Patient:innen haben», schreiben sie. «Aussichten auf notwendige Massnahmen zur Behebung der aktuellen Notlage gibt es wenig, was uns an persönliche Grenzen bringt und auch unsere Gesundheit zunehmend gefährdet.»

Chronik eines Abbaus

Mehr Gewaltsituationen, mehr Zwangsmassnahmen – und damit verbunden mehr Zwangsmedikationen und Isolationen: Das psychiatrische System ist in vielen Kantonen am Anschlag. Im Kanton Bern scheint die Situation aber besonders prekär. Meret Schindler, Regionalsekretärin der Gewerkschaft VPOD, sagt: «Die Einführung des leistungsorientierten Tarifsystems fiel hier mit der Privatisierung der Kliniken zusammen.»

2015 strich der damalige Gesundheitsdirektor Philippe Perrenoud (SP) das Budget der drei kantonalen Psychiatriebetriebe zusammen, und zwar um insgesamt 34,5 Millionen Franken bis 2017. Schon damals bedeutete das den Abbau von 57 Stellen in den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern (UPD), die Schliessung zweier Stationen im Psychiatrischen Zentrum Münsingen (PZM) sowie den Abbau von 60 Stellen im Hôpital du Jura bernois in Bellelay. 2018 mussten weitere Ambulatorien und Tageskliniken geschlossen werden. Zu Beginn der Pandemie schliesslich beschloss der Verwaltungsrat der UPD einen Stellenstopp für Pflegepersonal, Ärztinnen und Psychologen – trotz zunehmender Notfallzuweisungen und Krankheitsausfällen sowie bereits bestehenden Personalmangels. Da die Sicherheit der Patient:innen nicht mehr gewährleistet werden konnte, mussten deshalb auch eine Akutabteilung in den UPD sowie zwei in Münsingen geschlossen werden.

Im Frühling 2022 beschwerten sich Angestellte im Psychiatriezentrum Münsingen bei der Geschäftsleitung, wegen des Personalmangels müssten vermehrt Zwangsmassnahmen ergriffen werden. Im Oktober gelangten auch Ärztinnen und Pflegefachleute der UPD an die Chefetage. Auf 22 Patient:innen, so berichtete damals der «Kassensturz», kämen nur noch zwei Pflegefachpersonen. «Patienten sind bei uns nicht sicher vor sich selber und vor anderen», sagte eine Pflegefachfrau in der Sendung. Akut selbstgefährdete und suizidale Personen könnten, vor allem nachts, nicht mehr ausreichend überwacht und betreut werden.

Als Reaktion kündigte die Leitung der UPD im November die Schaffung von siebzehn neuen Vollzeitstellen in der Pflege, einer Meldestelle fürs Personal sowie eine unabhängige Untersuchung an. Doch die Lage scheint sich nicht verbessert zu haben. Das grösste Problem sei die enorm hohe Fluktuation, berichtet ein Pflegender, der in einem Ambulatorium der UPD arbeitet, immer wieder im stationären Bereich aushilft und anonym bleiben möchte. Inzwischen sei der Personalmangel so gross, dass etwa ein Drittel der Pflegenden über Temporärbüros angestellt würden.

«Gerade für Patient:innen mit psychischen Problemen ist es enorm wichtig, eine Hauptbezugsperson in der Pflege zu haben. Jemanden, der sie kontinuierlich auf der Station betreut, Pflegeprobleme erkennt, Ziele definiert und Ansprechperson für die Angehörigen ist», sagt der Pflegende. Seit zwei Jahren sei das praktisch unmöglich. Die Klinikleitung versuche zwar im Rahmen ihrer Möglichkeiten, der Krise zu begegnen: «Doch die Situation ist kräftezehrend.» (Michael Kaess, ärztlicher Direktor der UPD, wollte am Dienstag aus Zeitgründen keine Fragen beantworten.)

«Die Notlage hat sich in den letzten Monaten nochmals zugespitzt», sagt auch Patrick Weihs, Präsident der Bernischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, der als Facharzt im Ambulatorium Biel tätig ist: «Zu uns kommen immer mehr Menschen, die berichten, dass sie schon lange einen Therapieplatz suchen.» Am schlimmsten sei es in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, wo der Mangel an Fachärzt:innen besonders ausgeprägt sei.

«Rückstau in die Familien»

Cornelia Hediger ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie mit eigener Praxis in Münsingen. In ihrem Bereich, so Hediger, brauche es eine viel stärkere Zusammenarbeit der Akteur:innen aus Gesundheit, Bildung und Sozialem, «mehr Schulsozialarbeiter:innen für die Früherkennung und einen durchgehenden Versorgungspfad, bei dem die Übergänge funktionieren». Investiere man hier nicht genug, habe das fatale Auswirkungen: «Es gibt einen Rückstau in die Familien, zu den Kinder- und Hausärzten, den Schulen. Das ist, als hätte jemand Krebs, und der würde nicht behandelt.»

Die Krise beginnt also nicht erst in den Kliniken. Wie überall in der Schweiz mangelt es auch im Kanton Bern an therapeutischen Angeboten, die über die Grundversicherung finanziert werden. Das 2018 eingeführte Fallpauschalensystem setzt zudem die Ambulatorien und Tageskliniken unter Druck. Udo Finklenburg, Präsident des gesamtschweizerischen Vereins ambulante psychiatrische Pflege, ist selbstständig in der aufsuchenden psychiatrischen Pflege tätig. Er sagt: «Die Krankenkassen entschädigen diese Arbeit mit maximal 76.90 Franken pro Stunde. Die Kantone müssten den Lohn der Pflegenden aufstocken, doch in Bern haben Gesundheitsdirektor Schnegg und der Grosse Rat die Gelder zusammengestrichen.» Die Wichtigkeit der psychiatrischen Gesundheitsversorgung falle «immer wieder aus dem Bewusstsein der Politik».

Pierre-Alain Schnegg will zur Situation im psychiatrischen Bereich keine Stellung nehmen. Sein Kommunikationschef schreibt: «Wir werden den offenen Brief beantworten, wobei die Antwort an den Absender gehen wird und nicht an die Medien.» Der Grosse Rat dagegen ist nun aktiv geworden: Seine Kommission für Staatspolitik und Aussenbeziehung forderte Schnegg am Dienstag dazu auf, die Lösung der Versorgungskrise in der Psychiatrie in die strategischen Ziele seiner Regierungspolitik für die nächsten drei Jahre aufzunehmen.

Was bringen GAVs?

Vierzehn Monate nach Annahme der Pflegeinitiative verlassen noch immer über 300 Pflegefachleute monatlich den Beruf. Nachdem das Parlament als ersten Teil der Umsetzung eine «Ausbildungsoffensive» lanciert hat, stellte der Bundesrat letzte Woche Massnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in Aussicht: So etwa sollen Dienstpläne in Zukunft frühzeitig festgelegt und die Sozialpartner zu Verhandlungen über Gesamtarbeitsverträge (GAVs) verpflichtet werden. Das Ziel: ein entsprechendes Gesetz bis Frühling 2024.

Gewerkschaften und Berufsverbände reagieren kritisch: Ein GAV allein garantiere noch keine guten Arbeitsbedingungen. Auch mit dem vorgeschlagenen Zeitplan sind die Vertreter:innen der Pflegefachleute unzufrieden – sie fordern Sofortmassnahmen.

WOZ Debatte

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Kommentare

Kommentar von Eliane Schneider

Fr., 03.02.2023 - 16:33

https://www.woz.ch/1737/medizin-und-gesellschaft/schizophrenie-ist-ein-magisches-wort-mit-unheilvoller-wirkung

Schade verweist die WOZ in diesem Zusammenhang nicht auf einen eigenen und alten (sehr guten, danke!) Artikel, der im Wesentlichen viel mehr Auskunft darüber gibt warum die Psychiatrie (Pflege und Patien:innen) (und in einer erweiterten Sicht auch das Gesundheitswesen) u.a. in einer ‚Krise‘ steckt. Anscheinend sind Reformen dringend nötig: wie z.b. das Modell Norwegen wo auch Behandlungen ohne Medis angeboten werden müssen, oder Ansätze, die die Spezialisierung auf Krankheiten und/oder Personengruppen aufheben, resp.eine Durchmischung in Heimen und/oder Rehas anstreben.

Kommentar von Adrian Riklin

Sa., 04.02.2023 - 16:26

Vielen Dank für Ihren Hinweis. In Ihrem erwähnten Beitrag ging es um ein Interview mit dem psychiatriekritischen Psychotherapeuten Marc Rufer.
Über die stigmatisierende Wirkung von Diagnosen wie auch über den Einsatz von Neuroleptika lässt sich je nach Fall sicher diskutieren. Eine grundsätzliche Infragestellung des psychiatrischen Systems verkennt aber die gesellschaftlichen Umstände, in denen der Betrieb stattfindet.
Die Situation im Kanton Bern zeigt exemplarisch, wo das Hauptproblem liegt: Die psychische Gesundheit an sich wird politisch zu wenig ernst genommen. Nicht nur, dass der psychiatrische Betrieb selbst mit zuwenig Geld auskommen muss, um Patient:innen möglichst sorgfältig auffangen, begleiten und möglichst gesunden lassen zu können. Die steigenden Patient:innenzahlen in psychiatrischen Einrichtungen sind auch eine Folge der politischen Versäumnisse in der Gesundheitsprävention, der Sozialarbeit und der Psychotherapie. Die Psychiatrie ist so mit immer mehr Menschen konfrontiert, deren Notlage den kritischen Bereich bereits überschritten hat. In diesem Kontext wirkt sich der Mangel an Fachpersonen umso fataler aus. Mit einer Aufwertung sozialer, therapeutischer und pflegender Berufe sowie besseren Arbeitsbedingungen könnten viele Zwangsmassnahmen und hochdosierte Medikationen vermieden werden.
Sie haben recht: Eine Reform des Gesundheitswesens und insbesondere der psychiatrischen Grundversorgung ist notwendig. Dazu gehören sicher auch Modelle aus anderen Ländern, die Sie in ihrem Kommentar antönen. Dafür aber braucht es den politischen Willen. Wir von der WOZ bleiben am Thema dran.