Zur Managed-Care-Abstimmung: Wenn gute ÄrztInnen teuer werden
Am 17. Juni 2012 stimmt die Schweiz über die Einführung des Managed-Care-Modells ab. Zahlreiche Ärzte- und Pflegeverbände lehnen die Vorlage ab, der Verband der Schweizer Hausärzte sagt Ja zum Gesetz. Aber was empfiehlt nun der freundliche Hausarzt?
Den wirklichen Durchblick hat bei dieser Vorlage niemand. Keiner weiss, was genau passiert, falls im Juni die Teilrevision des Krankenversicherungsgesetzes KVG – besser bekannt als Managed-Care-Vorlage – von der Stimmbevölkerung angenommen wird. «Irgendwie», seufzt Martin Walter, «bin ich doch ganz froh, dass ich das Ganze nicht mehr mitmachen muss.» Walter ist Facharzt für innere Medizin im solothurnischen Grenchen. Seine Praxis, die ans Wohnhaus angegliedert ist, möchte der 67-Jährige schon bald aufgeben.
Martin Walter würde seinen PatientInnen empfehlen, die Vorlage abzulehnen, und spricht das auch offen aus. Doch damit ist er unter den HausärztInnen eine Seltenheit, denn: Der Berufsverband Hausärzte Schweiz unterstützt die Vorlage, während Spitäler, Pflege- und PatientInnenorganisationen, die SP, Gewerkschaften sowie die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) sie ablehnen. «Das ist das erste Mal, dass ich diese Spaltung erlebe», sagt Walter, «ich glaube, dass Hausärzte, die noch aktiv im Berufsleben stehen, sich nicht getrauen, sich politisch zu exponieren.» – Nicht vor PatientInnen, nicht vor KollegInnen und schon gar nicht vor den Krankenkassen. Letztere würden mit Managed Care mehr Macht erhalten und entscheiden können, welche Praxen in ihr Ärztenetzwerk aufgenommen werden und welche nicht. Kommt die Vorlage durch, so hat jede Versicherung ein eigenes Netzwerk von HausärztInnen und SpezialistInnen. Für Leute, die sich nicht in einem Netzwerk behandeln lassen können oder wollen, wird die Versicherung teurer (siehe WOZ Nr. 46/11 ).
Alle wollen tiefe Prämien
Ärztenetzwerke gibt es schon heute, Martin Walter zum Beispiel gehört dem Netzwerk Hareso (Hausärzte Region Solothurn) an. Und heute schon bieten die Krankenversicherungen finanzielle Anreize für Menschen, die sich in einem Netzwerk versichern lassen. «Ich wollte mich dem Netzwerk eigentlich nicht anschliessen», sagt Martin Walter. Doch viele PatientInnen seien auf ihn zugekommen und hätten gefragt, ob er denn auch im Netzwerk sei, weil sie sich zu günstigeren Konditionen versichern lassen wollten – so habe Walter sich, seinen PatientInnen zuliebe, halt mehr oder weniger zähneknirschend dem Netzwerk angeschlossen. Würde Martin Walter seine Praxis weiterführen und sich dabei keinem Managed-Care-Modell anschliessen, dann müssten seine PatientInnen höhere Kosten in Kauf nehmen, wenn sie beim Hausarzt ihres Vertrauens bleiben wollten.
Problematisch findet Martin Walter die in der Vorlage geplante Budgetmitverantwortung der ÄrztInnen. Im Managed-Care-Modell stellen die Kassen ein Budget auf, welches ein Ärztenetzwerk einzuhalten hat. Geben die ÄrztInnen eines Netzwerks mehr aus, beteiligen sie sich hälftig an den Mehrkosten, geben sie weniger aus, erhalten sie die Hälfte des Budgetüberschusses. Das, so die GegnerInnen der Vorlage, werde zu Leistungskürzungen führen – die PatientInnen erhielten aufgrund des Kostendrucks womöglich nicht die Behandlung, die sie brauchten.
Zu teure HIV-PatientInnen
Dies ist auch Martin Walters Hauptkritik: «Ich fühle mich für meine Patienten verantwortlich, fürs Budget sollen die Politiker schauen.» Walter illustriert dies an einem Beispiel: «Ich ordne präventiv ziemlich viele Darmspiegelungen zur Verhinderung von Dickdarmkrebs an. Wenn nun irgendwo in der weiteren Verwandtschaft eines Patienten Fälle von Dickdarmkrebs bekannt sind, wird eine entsprechende Untersuchung gemacht. Werden Polypen im Dickdarm frühzeitig erkannt, lässt sich eine Krebserkrankung oft verhindern.
Wenn jetzt aber im Netzwerk der Grundsatz gilt, dass man nur noch eine Spiegelung machen darf, wenn lediglich nahe Verwandte wie die Mutter oder die Schwester der Patientin an Dickdarmkrebs erkrankt sind, darf ich die Untersuchung möglicherweise nur noch dann vornehmen. Hielte ich mich nicht an diese Einschränkung, würde ich zu hohe Kosten verursachen und darum möglicherweise aus dem Netzwerk ausgeschlossen.» Auch kann sich Martin Walter vorstellen, dass Netzwerke bei der Aufnahme von HIV-positiven oder alten, mehrfach erkrankten PatientInnen aus Kostengründen zögern könnten.
Dass das Gesundheitswesen zu hohe Kosten verursacht, bestreitet Martin Walter keineswegs. Während eine höhere Zahl präventiver Dickdarmspiegelungen durchaus sinnvoll sein könne, würden auch Untersuchungen gemacht, die nicht unbedingt sein müssten: «Wenn einer im Turnverein eine Magnetresonanztomografie (MRI) macht und bei ihm ein Tumor diagnostiziert wird, wollen alle anderen im Turnverein, die gelegentlich Kopfweh haben, auch eine MRI. Diese Entwicklung ist durchaus auch als ein Auswuchs der Konsumgesellschaft zu sehen, wo jeder alles haben muss – und als Arzt ist es fast unmöglich, eine solche Untersuchung abzuschlagen, auch wenn für diese kein Anlass besteht.»
Immer zum nächsten Spezialisten
Die grosse Frage ist und bleibt: Wann soll eine Massnahme angeordnet werden, wann nicht? Immer wieder habe es Fälle gegeben, wo das Schlimmste hätte verhindert werden können, wäre mehr getan worden. Dann jeweils, wenn zum Beispiel ein Patient stirbt, obwohl er unter Anordnung einer entsprechenden Massnahme vielleicht noch einige Jahre weitergelebt hätte, sei er als Arzt immer sehr vorsichtig geworden und habe bei anderen PatientInnen vorsorglich mehr Untersuchungen angeordnet, als es vielleicht effektiv gebraucht hätte, sagt Martin Walter – und dieser Effekt werde, trotz Budgetmitverantwortung, wohl auch in Zukunft nicht verschwinden.
Die grundlegendste und wichtigste Aufgabe des Hausarztes ist gemäss Martin Walter, den Patienten nur dann an einen Facharzt zu überweisen, wenn dafür wirklich Bedarf besteht. «Leider ist es heute allzu oft der Fall, dass, wenn der Hausarzt einen Patienten an einen Spezialisten verweist, der Spezialist nicht wieder auf den Hausarzt zurückkommt, sondern den Patienten einfach weiterreicht. Von der Gastroenterologie (Magen/Darm) zur Kardiologie (Herz), zur Neurologie (Hirn).» So würden am Ende unzählige Spezialisten konsultiert, und keiner finde etwas. Dabei wäre es besser, der Spezialist würde seine Diagnose dem Hausarzt übermitteln und dieser dann das weitere Vorgehen abklären. Martin Walter besteht darauf, denn: Ein Hausarzt kann, wenn er nur genug Zeit hat, dem Patienten zahlreiche Gänge zum Facharzt ersparen.
Martin Walter kennt so einen Fall: Als er gerade unter grossem Zeitdruck stand, kam eine Patientin zu ihm und beklagte sich darüber, dass sie alles doppelt sehe. Walter überwies sie kurzerhand an einen Augenspezialisten und Neurologen, der verwies die Patientin an weitere Spezialisten, ohne Erfolg. Irgendwann sei die Frau schliesslich wieder zu ihm gekommen, und diesmal hatte Martin Walter Zeit und fand im ausführlichen Gespräch das Problem, für das mehrere teure Fachärzte keine Lösung gefunden hatten. Während der erste Spezialist noch eine Operation anordnen wollte, der sich die Patientin widersetzte, konnte die Erkrankung schliesslich medikamentös behandelt werden.
Das Wichtigste: Zuhören
Ein Medizinprofessor, erinnert sich Martin Walter, habe jeweils zu seinen StudentInnen gesagt: «Wenn man die Diagnose nicht mit der Anamnese [dem Zuhören, dem Eingehen auf die Krankengeschichte des Patienten] machen kann, dann wird es meist sehr, sehr schwierig.» Also: Im Idealfall nimmt der erstbehandelnde Hausarzt sich Zeit, seinen PatientInnen genau zuzuhören. Das kostet die Versicherung viel weniger als teure Massnahmen und Medikamente. Und es bringt im besten Fall weit mehr. Doch: «Die Ethik und das Standesbewusstsein unter den Ärzten haben meines Erachtens abgenommen», sagt Martin Walter – und damit auch ihre Fähigkeit, wirklich auf ihre PatientInnen einzugehen.
Dass dank Managed-Care-Modell wieder vermehrt auf Gespräche gesetzt würde, glaubt Martin Walter nicht. «Zwar könnte es sein, dass die Budgetmitverantwortung Anreize schafft, eher auf kostengünstige Gespräche zu setzen denn auf teure Untersuchungen und Zuweisungen an Spezialisten – allerdings verdienen die Ärzte damit nicht viel.» Und bei PatientInnen, die keinem Netzwerk angeschlossen sind und fünfzehn Prozent der Kosten selbst tragen müssen, könne es sein, dass sich der Arzt sogar noch kürzer fasst.