Erinnerungspolitik in Russland : «Illegale» Stadtführungen

Nr. 43 –

Die Initiative «Letzte Adresse» will der Opfer des Stalinismus gedenken – und wird dafür nicht nur vom Staat, sondern auch von ultranationalistischen Gruppen angegriffen.

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Oksana Matwijewskaja vor einer Gedenktafel
Tafeln am Wohnort von Opfern des stalinistischen Terrors: Oksana Matwijewskaja führt von Haus zu Haus – oder Störenfriede in die Irre.

Wo ist Oksana? Und wo Olesja? Rund ein Dutzend Frauen, die meisten über fünfzig, haben sich an diesem regnerischen Septembersamstag am Moskauer Tschistoprudni-Boulevard, Haus Nummer 15, zum Stadtspaziergang der Initiative «Das ist genau hier» eingefunden. Diese befasst sich mit Orten politischer Verfolgung und dem Schicksal von Menschen, die in den finsteren Jahren des stalinistischen Terrors von zu Hause abgeholt worden waren und buchstäblich von der Bildfläche verschwanden: ins Lager gesperrt, erschossen, aus dem Gedächtnis gelöscht.

Eine der Anwesenden berichtet, Oksana Matwijewskaja, die Organisatorin des heutigen Treffens, sei unterwegs auf Provokateure getroffen. Sie versuche, deren Aufmerksamkeit abzulenken, damit der Spaziergang möglichst störungsfrei über die Bühne gehen könne.

Aufdringliche Performance

Kurz darauf erscheint eine Frau, die sich als Olesja vorstellt. Fast eine Stunde lang erzählt sie über das Leben des einst hier wohnhaften Komponisten und Pädagogen Nikolai Schiljajew. Ein Zufall wollte es, dass der für den Einsatz an der Waffe im Ersten Weltkrieg nicht geeignete Pazifist auf den musikbegeisterten Offizier und späteren Marschall der Sowjetunion Michail Tuchatschewski traf, der ihn unter seine Fittiche nahm. 1937 wurde dieser wegen der «Zugehörigkeit zu einer trotzkistischen Militärorganisation» hingerichtet, 1938 Schiljajew unter dem gleichen Vorwurf erschossen – ohne dass dies jemand mitbekam. Zwei Jahre nach seinem Tod setzten sich namhafte Personen aus der sowjetischen Musik- und Wissenschaftselite für den noch am Leben geglaubten Kollegen ein. Die harsche Antwort der Sowjetmacht: Vergessen Sie diesen Namen!

Die Menschenrechtsorganisation Memorial liefert mit ihren Recherchen die Grundlagen dafür, dass Namen wie der von Schiljajew nicht vergessen werden. Insgesamt spricht Memorial von mehr als einer Million Opfer der Repression in der Zeit des Grossen Terrors 1937/38. Fast sechzig Prozent davon wurden hingerichtet – Intellektuelle und Revolutionär:innen ebenso wie einfache Arbeiter:innen, weitaus mehr Männer als Frauen.

Auf halber Strecke zum nächsten Halt tauchen plötzlich zwei Männer auf, einer davon ist Goscha Tarasewitsch, Kopf des South East Radical Block (Serb) – einer ultranationalistischen Gruppe, die in Russland und der Ukraine tätig ist und enge Verbindungen zum russischen Sicherheitsapparat unterhält. Der ausgebildete Theaterschauspieler wedelt mit einem Selfiestick, an dessen Ende sein Handy befestigt ist. Matwijewskaja, der er zuvor gefolgt ist, hat er offenbar aus den Augen verloren, er ist aber sichtlich erfreut, ein Publikum für seine aufdringliche Performance gefunden zu haben. Im Takt eines Schnellfeuergewehrs spuckt er eine Beschimpfung nach der anderen aus. Über Jahre provozierten er und seine Mitstreiter regelmässig bei oppositionellen Kundgebungen – oft als Vorhut der Polizei. Ende 2021 tauchten sie in dieser Rolle auch beim per Gerichtsbeschluss aufgelösten Dachverband Memorial International auf. Olesja bemüht sich vergeblich um ein vernünftiges Gespräch; Tarasewitsch behauptet, er habe Memorial bei einer historischen Falschaussage ertappt.

«Mich verfolgen sie, weil sie meinen Namen kennen», sagt Oksana Matwijewskaja später bei einem Treffen. Von Beruf eigentlich Regisseurin, begann sie 2016, sich bei der damals seit zwei Jahren existierenden Initiative «Letzte Adresse» zu engagieren. In Anlehnung an die deutschen Stolpersteine kennzeichnen kleine rechteckige Metalltafeln an Hauswänden in mehreren russischen Städten den jeweils letzten Wohnort von Repressionsopfern. In einem quadratischen Loch neben den biografischen Angaben – Name, Geburtsdatum, Beruf, Datum der Verhaftung, Todestag – wäre theoretisch Platz für ein Foto. Als Symbol für das staatlich gewollte Ausradieren der Erinnerung an die Person bleibt der Platz allerdings leer. Auch das Jahr der Rehabilitierung steht da: eine Voraussetzung für die Aufnahme in das Projekt, das so den willkürlichen Charakter der Repression betonen will.

Die politische Repression sei noch immer nicht richtig aufgearbeitet. Ziel der «Letzten Adresse» sei es nicht, so viele Tafeln wie möglich zu platzieren, sondern neue Impulse für Debatten zu liefern. Gegen Widerstände hatte die Initiative auch früher zu kämpfen, Mitte 2023 setzte dann aber eine zielgerichtete Kampagne zur Entfernung der Tafeln ein. Niemand habe die Verantwortung dafür übernommen, sagt Matwijewskaja, klar ist nur, dass sich Serb und andere selbsternannte russische Patrioten daran beteiligen.

«Wir wissen, dass in Moskau die lokale Verwaltungsbehörde im Basmanni-Bezirk angeordnet hat, alle Tafeln zu entfernen», so die Aktivistin. Oft reagierten die offiziellen Stellen damit auf bei ihnen eingehende Verleumdungen und Denunziationen. Entgegen anderslautenden Behauptungen sei «Letzte Adresse» keine Unterabteilung von Memorial, sondern eine eigenständige Organisation, betont Matwijewskaja. Um solche Details schere sich aber niemand.

«Eine echte Gemeinschaft»

Der Vorsitzende des Menschenrechtsrats beim Präsidenten, Waleri Fadejew, hält die Idee, an Hauswänden Tafeln zum Andenken anzubringen, für schädlich, auf ihn bezieht sich auch Serb. Dabei hat die Konzeption der staatlichen Politik zur Bewahrung des Gedenkens an die Opfer politischer Repression von 2015 bis heute Gültigkeit. Und 2016 war eine Wladimir Putin unterstellte Arbeitsgruppe zum Schluss gekommen, «Letzte Adresse» verdiene Unterstützung. Seither gab es keine gegenteiligen Mitteilungen.

Das Schreiben einer St. Petersburger Behörde, das der WOZ vorliegt, enthält den expliziten Hinweis, dass das Anbringen von Tafeln mit Angaben über die Opfer politischer Verfolgung und ihre Rehabilitierung gesetzlich nicht geregelt ist – letztlich entscheiden die Hauseigentümer:innen. Noch immer werden neue Plaketten angebracht, auch wenn die Abläufe komplizierter geworden sind, unter anderem, weil mehr Beschwerden bei den Behörden eingehen. «Die Atmosphäre ist inzwischen eine völlig andere, die Leute reden gar nicht mehr mit einem», konstatiert Matwijewskaja. Dank der Stadtspaziergänge sei aber «eine echte Gemeinschaft» entstanden. Aus eigener Initiative ersetzen Teilnehmende die entfernten Metalltafeln jeweils durch handgefertigte Kopien aus Karton. Die verschwinden zwar auch, sind aber leichter zu ersetzen.

Auch bei Matwijewskajas nächster Führung taucht Tarasewitsch irgendwann auf, unter einem Basecap mit einem grossen Z drauf, dem Symbol für die Unterstützung von Russlands Krieg gegen die Ukraine. Er hat zwei Männer im Schlepptau: Da seien sie nun, die «ausländischen Agenten», die «Ukraineliebhaber», erzählt er diesen. Auf welcher gesetzlichen Grundlage die Tafel angebracht worden sei, fragt er. «Das ist Schädigung fremden Eigentums! Stadtführungen sind illegal!» Es wirkt wie ein anschaulicher Geschichtsunterricht über die Praktiken im Stalinismus. Die Gruppe trennt sich, um sich später vor einem Haus mit noch intakter Plakette zu treffen.