Siebzig Jahre Kriegsende: Die Heiligsprechung des Zweiten Weltkriegs in Russland

Nr. 19 –

In der Sowjetunion war die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg aus guten Gründen intensiver als andernorts. In Russlands heutigem politischem Klima nimmt sie jedoch immer groteskere Formen an. Der Kreml inszeniert eine «Einheit der Nation», während ultranationalistische Kreise Stalin als «Licht Gottes» bezeichnen.

Den Unterschied machten die Zeitzonen: Am frühen Morgen des 9. Mai 1945 ratifizierten die Vertreter der deutschen Teilstreitkräfte auf der einen, die alliierten Marschälle Arthur Tedder und Georgi Schukow auf der anderen Seite in Berlin-Karlshorst die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Formell in Kraft getreten war die Kapitulation allerdings bereits am 8. Mai 1945 um 23.01 Uhr. Gemäss Moskauer Zeit war damals schon der Folgetag; Radio Moskau verkündete die Siegesmeldung feierlich um 2.10 Uhr morgens. So kommt es, dass im Westen am 8. Mai des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa gedacht wird, während in der Sowjetunion und in Russland am 9. Mai der «Tag des Siegs» gefeiert wurde und wird.

Doch nicht nur das Datum unterscheidet sich: In London, Paris, Washington und anderswo ist der 8. Mai ein Gedenktag ohne grosse Publikumswirkung. In Moskau dagegen ist der 9. Mai einer der höchsten Tage im öffentlichen Feiertagskalender überhaupt, seit 1965 arbeitsfrei, Anlass für ausgedehnte Volksfeste und pompöse Militärdefilees. Kriegsdenkmäler gibt es allerorts, und meistens liegen dort frische Blumen. Es sind bei weitem nicht nur Politiker und alte Mütterchen, die den Kult um die Kriegstoten in die Gegenwart gerettet haben. So gehört es auch zum festen Ritual junger Brautpaare, nach der Trauung der Ewigen Flamme oder einem anderen den Gefallenen geweihten Gedächtnisort die Ehre zu erweisen. Im Stadtbild, in den Medien, in Film und Literatur, an öffentlichen Anlässen und Reden – der Weltkrieg, der in Russland Grosser Vaterländischer Krieg genannt wird, ist omnipräsent.

Das verwundert kaum. Der Krieg war für die Sowjetunion ein kollektives Trauma von kaum ermessbarer Grösse. Zahlreiche Städte und weite Landstriche waren bei Kriegsende völlig verwüstet. Zwischen zwanzig und dreissig Millionen Menschen – mehrheitlich ZivilistInnen – starben bei Vergeltungs- und Vernichtungsaktionen hinter der Front, im Holocaust, in der Zwangsarbeit, in den Kriegsgefangenenlagern, bei Bombardements, an Hunger und Seuchen, auf den Schlachtfeldern und im Partisanenkampf. Kaum eine Familie, die nicht ein oder mehrere Opfer zu beklagen hat. Viele Menschen haben so auch heute noch einen direkten biografischen Bezug zum Weltkrieg.

Sowjetische Tabus

Ab den 1960er Jahren wurde ein eigentlicher Kult um das Kriegsgedenken verordnet. Unter Parteichef Leonid Breschnew löste die Erinnerungskultur um den Grossen Vaterländischen gar diejenige um die Grosse Sozialistische Oktoberrevolution, den Gründungsmythos der Sowjetunion, ab. Auf dem gesamten Gebiet der UdSSR wurden Gedenkplaketten an Fassaden geschraubt und Denkmäler errichtet. In den Schulen kam dem Krieg ein riesiger Stellenwert zu. Die gleichförmig der gültigen Ideologie angepassten Heldengeschichten sollten den SowjetbürgerInnen Werte wie Kameradschaft, Disziplin und Selbstaufopferung vermitteln. Die Erinnerung an den Krieg diente der Inszenierung und Selbstvergewisserung der Gesellschaft – und legitimierte vor allem den Machtanspruch der kommunistischen Partei. Die schematischen Erzählmuster prägten sich tief ein, auch wenn sie mit dem, was die Menschen tatsächlich im Horror des Kriegs erlebt hatten, oft wenig gemein hatten. Neben zahlreichen Mythen gab es im offiziellen Narrativ eine Vielzahl an Tabus.

Eines dieser Tabus betraf ebenfalls eine Datumsfrage. Der Unterschied beim Kriegsende in West und Ost mag marginal sein, beim Beginn jedoch nicht. Der Grosse Vaterländische Krieg beginnt erst 1941. Die Sowjetunion befand sich aber auch im Herbst 1939 durchaus schon im Krieg – allerdings auf der falschen Seite. Stalin war mit Hitler einen Nichtangriffspakt eingegangen, gemeinsam überfielen die beiden Diktatoren Polen und teilten es untereinander auf. Die Sowjets marschierten zudem im Baltikum ein und attackierten kurze Zeit später Finnland. Die «faschistischen Invasoren», die am 22. Juni 1941 unter Vertragsbruch und ohne Kriegserklärung die Sowjetunion überfielen, waren bis dahin Moskaus Verbündete gewesen.

Auch die Tatsache, dass der Terror, den Stalin in den dreissiger Jahren gegen das eigene Volk entfesselt hatte, während des Weltkriegs ungebremst weitergegangen war, wurde ignoriert. Millionen als «illoyal» eingestufte Menschen waren deportiert, Millionen Soldaten als Kanonenfutter an der Front verheizt worden. «Keinen Schritt zurück» war die Devise der Roten Armee. Soldaten, die sich zum Rückzug gezwungen sahen, wurden von Sperrkommandos erschossen. Wer in Kriegsgefangenschaft geriet oder als Zwangsarbeiterin verschleppt wurde, galt als VerräterIn. 1945 wurden die sowjetischen Truppen zudem keineswegs überall als Befreier begrüsst. Für viele Menschen in Osteuropa begannen nun lange Jahrzehnte neuer Gewalt und Unterdrückung.

Während der Perestroika Ende der 1980er Jahre und vor allem im Jahrzehnt nach dem Zerfall der Sowjetunion wurden dann auch heikle Punkte in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs aufgearbeitet. Viele RussInnen mochten sich damals jedoch nicht mit Fragen zur eigenen Geschichte beschäftigen. Sie mussten die eigene Existenz sichern. Der ungehemmte Raubtierkapitalismus der neunziger Jahre zerfrass bescheidenen Wohlstand und soziale Sicherheit. Renten und Löhne wurden nicht mehr ausbezahlt, die Währung zerfiel, öffentliche Dienste verkümmerten, Menschen und Infrastruktur verwahrlosten. Gleichzeitig erlebte die russische Gesellschaft einen totalen Wertezerfall: Was früher war – Sozialismus und Planwirtschaft – galt keinen Pfifferling mehr; was Neues kam – Demokratie und freier Markt – stand synonym für Chaos, Kriminalität, Armut und Demütigung.

Krieg, Sieg und Religion

Die Erinnerung an den Sieg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg erschien in dieser Situation vielen als eines der letzten noch gültigen Symbole von Macht und Grösse des untergegangenen Sowjetimperiums. Das individuelle und kollektive Gedenken an die gewaltigen Opfer, die für die Überwindung des Nazismus hatten erbracht werden müssen, blieb tief verankert und verlieh der ansonsten entwerteten sowjetischen Vergangenheit einen Rest von Würde und Stolz. Die zweite moralische Stütze, an der sich die ModernisierungsverliererInnen halten konnten, war die Renaissance der russisch-orthodoxen Kirche.

In diesem Sinn wurde die offizielle Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg selbst während der liberalen und ideologiefernen Ära von Boris Jelzin weiter kultiviert. 1995 wurde auf einem Hügel im Westen Moskaus ein ursprünglich in den achtziger Jahren konzipierter monumentaler Memorialkomplex eingeweiht: der «Park des Sieges». Vor dem Kuppelbau eines Kriegsmuseums mit Kolonnaden erstreckt sich eine riesige symmetrische Parkanlage mit Springbrunnen und einer 142 Meter hohen, von der griechischen Siegesgöttin Nike gekrönten Stele. Am 50. Jahrestag des Kriegsendes fand auf dem Gelände erstmals seit dem Ende der UdSSR wieder eine grosse Militärparade statt. Prominent fügt sich auch eine orthodoxe Kirche in das Bauensemble ein, die dem heiligen Grossmärtyrer Georg – dem «Siegesträger» und Schutzpatron Russlands – geweiht ist. Sie ist eine von Tausenden Sakralbauten, die im religiösen Boom nach dem Fall des atheistischen Sowjetregimes wiederhergestellt oder neu gebaut wurden.

Die Verbindung von Weltkrieg und Religion kommt nicht von ungefähr. Um sich im Rahmen eines nationalen Schulterschlusses ihre Unterstützung zu sichern, hatte Stalin der orthodoxen Kirche nach dem deutschen Überfall einige Erleichterungen zugestanden. Priester segneten nach russisch-patriotischer Tradition die Waffen der Roten Armee. Eine populäre Kriegshymne besingt 1941 den «Heiligen Krieg». Für Alexander Prochanow war dies Anlass genug, um sich Ende der neunziger Jahre zu einer eigentlichen «Religion des Siegs» zu bekennen. Der 1938 geborene Schriftsteller und Chefredaktor der ultranationalistischen Wochenzeitung «Sawtra» (Morgen) transzendierte den Sieg weit über den 9. Mai 1945 hinaus zur «ewigen nationalen Idee» Russlands.

Putins «sakrale Krim»

Was Prochanow Ende der neunziger Jahre erkannte, leuchtete auch den ExponentInnen des Systems von Wladimir Putin ein, die sich im letzten Jahrzehnt die Macht in Russland aneigneten. Der Grosse Vaterländische Krieg liess sich deshalb gut für ihre Zwecke vereinnahmen, weil er eine Brücke zwischen unterschiedlichen Weltanschauungen schlagen konnte. Atheistinnen und Gläubige, Antikommunistinnen und Stalinisten, Nationalistinnen und Weltbürger, Militaristinnen und Pazifisten: Ihnen allen musste der Sieg russischer Waffen über den faschistischen Aggressor doch etwas Positives bedeuten. Über das Kriegsgedenken bemühte sich die Regierung zunehmend um die Inszenierung einer «Einheit der Nation». 2005 wurde der 60. Jahrestag im grossen Stil begangen, mit internationaler Politprominenz, Salutschüssen, Feuerwerk und Konzerten. Als neues Symbol tauchte das schwarz-orange Sankt-Georgs-Band auf, das man sich ans Revers heftete. Ab 2008 rollte auch wieder schweres Kriegsmaterial über den Roten Platz. Für ältere Generationen rief dieser Rückgriff auf den Kriegskult der Breschnew-Ära eine Zeit in Erinnerung, die für viele als Inbegriff von Stabilität und solider Verlässlichkeit gilt. Auch Putins autoritäres Regime konnte sich so als Garant einer stabilen Entwicklung profilieren.

Mit dem Kult um den Weltkrieg geht auch eine Rehabilitation der Rolle Stalins einher. Für relativ breite Bevölkerungskreise gilt Stalin als Führungspersönlichkeit, die – durch den Sieg von 1945 – die Sowjetunion in den Rang einer Weltmacht befördert hatte. Die staatliche Geschichtspolitik, die seit der Jahrtausendwende immer klarere Konturen annimmt, bewirtschaftet solche Einstellungen ganz gezielt. In den neuen Schulbüchern wird der Diktator vornehmlich als grossrussischer Patriot und weitsichtiger Modernisierer des Landes dargestellt. Die jüngste russische Geschichte wird ganz in den Dienst der Konsolidierung der nationalen Identität und der Legitimation autoritärer Herrschaft gestellt.

Die erschreckend weitverbreitete Stalin-Nostalgie treibt groteske Blüten: «Stalin ist das Licht Gottes», sagte «Sawtra»-Chefredaktor Prochanow kürzlich in einer Diskussionssendung am Fernsehen. Der Sieg über den Faschismus unter der Führung von Stalin als «heiligem Generalissimus» sei das «Geheimnis des russischen Messianismus», und das russische Volk sei dazu berufen, die Welt zu erlösen, schrieb er in einem Leitartikel im März. Prochanow gibt sich davon überzeugt, dass Christus höchstselbst mit den «Heldenmärtyrern» der Sowjetarmee in die Schlacht gegen die Finsternis gezogen sei: «Das Volk, das die faschistische Hölle besiegt hat, ist ein heiliges Volk, ein Volk Gottes.» Moskau ist für Prochanow ein neues Jerusalem, die Inkarnation des Gottesreichs auf Erden. Die Uhren ticken anders in Russland.

Patriotische Euphorie

Man kann diese krude Fusion unterschiedlicher Ideologien als blosse Spinnerei abtun. Allerdings ist «Sawtra» eines der meistgelesenen Blätter der erstarkten russischen Rechtsextremen. Auch wenn die breite Bevölkerung mit Stalinisten wie Prochanow und Konsorten nichts am Hut hat, sind diese heute mit ihrer antiwestlichen und imperialistischen Rhetorik im Brennpunkt öffentlicher Debatten über die Krise in der Ukraine angelangt. Auch mehrere Exponenten der separatistischen «Volksrepubliken» von Donezk und Luhansk stammen aus dem Dunstkreis um die «Sawtra».

Die patriotische Euphorie, die die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine in weiten Kreisen hervorgerufen haben, zeugt von der unheilvollen Dynamik, die sich aus dem Wechselspiel chauvinistischer Ideologie am rechten Rand und einer aggressiven Aussenpolitik entwickeln kann. Ein direkter Einfluss Prochanows und anderer ultranationalistischer Vordenker in seinem Umfeld – etwa Alexander Dugins, Wortführer der «Eurasischen Bewegung» – auf das politische Handeln Putins erscheint zwar wenig plausibel. Das von ihnen vertretene Gedankengut dient jedoch sehr wohl der Mobilisierung für die expansive Politik Putins und der Rechtfertigung seiner Herrschaft.

Die Leichtigkeit, mit der im Februar 2014 die staatlich kontrollierten russischen Medien die ukrainische Übergangsregierung als «faschistische Junta» deklassieren und eine «Wiederkehr des Faschismus» beschwören konnten, zeigt, wie einfach die im Schwarzweissdenken der Kriegserinnerung kultivierten stereotypen Feindbilder aktiviert und für beliebige Zwecke eingespannt werden können.

Auch der «Heldenstadt» Sewastopol auf der Krim kommt im Gedenken an den Zweiten Weltkrieg eine herausragende Stellung zu. Prochanow bezeichnete die Krim als «sakrales Zentrum» Russlands – ebenso wie Putin, der die Bedeutung der Halbinsel im Dezember 2014 mit der Heiligkeit des Jerusalemer Tempelbergs verglich. Im russischen Anspruch auf die Krim kommen grossrussisch verbrämte Spiritualität und Kriegserinnerung zusammen. Eine unheimliche Kombination, die auch für die Zukunft nichts Gutes verheisst.

Feierlichkeiten vom 9. Mai : Viel Pomp mit wenig ausländischer Prominenz

Die Vorbereitungen zu den Feierlichkeiten vom 9. Mai 2015 zeigen eindrücklich, dass der 70. Jahrestag des Siegs über Nazideutschland alles Bisherige in den Schatten stellt. «Die Wichtigkeit dieses historischen Ereignisses nimmt mit jedem Jahr, das vergeht, nur noch mehr zu», heisst es auf einer extra eingerichteten behördeneigenen Informationswebsite. Das Rahmenprogramm des «Tags des Sieges» erstreckt sich über mehrere Tage und bietet eine Vielzahl an Festivitäten und Darbietungen für Jung und Alt. Zahlreiche Ausstellungen und neu erschienene Publikationen beleuchten die Kriegsgeschichte. Gedenkmünzen wurden geprägt und Jubiläumsbriefmarken gedruckt. Mit der Aktion «Hurra, Sieg!» können gratis Melodien von Liedern aus der Kriegszeit als Klingelton auf das Mobiltelefon heruntergeladen und das «wichtigste Siegeslied» gewählt werden.

In zwei Dutzend Städten zwischen Ostsee und Pazifik finden grosse Militärschauen statt. Kernstück ist die Parade auf dem Roten Platz: 16 000 Soldaten werden vor Präsident Putin vorbeidefilieren, Panzerfahrzeuge und Raketenträger über das Pflaster rollen, Kampfjetstaffeln über den Moskauer Himmel donnern. Im Anschluss wird Putin wie letztes Jahr zur Siegesfeier in der Hafenstadt Sewastopol auf der «befreiten» Krim erwartet.

Viele der geladenen Gäste aus dem Ausland werden an der zentralen Gedenkfeier in Moskau allerdings nicht teilnehmen. US-Präsident Barack Obama, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, der französische Präsident François Hollande, Britanniens Premier David Cameron und hohe RepräsentantInnen der EU sowie der meisten europäischen Staaten haben wegen der Ukrainekrise ihren Besuch abgesagt.

Thomas Bürgisser