Psychotherapeut:innen wehren sich: «Es rumort gewaltig»
Ein breites Bündnis ruft zum Protest gegen die psychotherapeutische Versorgungskrise auf. Was ist da los? Zwei Kinder-Therapeutinnen berichten von ihrem Praxisalltag.
WOZ: Sandra Rumpel, Sabrina Hösli-Leu, Sie sind Kinder-, Jugend- und Familientherapeutinnen. Können Sie etwas über Ihre Patient:innen erzählen?
Sandra Rumpel: Wir sind Grundversorger, wir begegnen allen Störungsbildern, die es bei Kindern und Jugendlichen gibt – von komplexen Traumafolgestörungen über Persönlichkeitsstörungen wie Borderline bis hin zu psychotischem Geschehen. Wir betreuen Familien aus prekären Verhältnissen, die unter Mehrfachbelastungen leiden, aber auch mal ein Kind, das sozial und ökonomisch über viele Ressourcen verfügt, in der Schule aber unter Druck steht und eine Angststörung entwickelt. Ausserdem bieten wir schwerpunktmässig Psychotherapien für geflüchtete Kinder und Jugendliche an, sie machen etwa die Hälfte unserer Patient:innen aus.
Sandra Rumpel: Sabrina Hösli-Leu: Wir begleiten auch Kinder mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen, kognitiv beeinträchtigte Kinder, Kinder mit Autismus oder solche mit schweren körperlichen Erkrankungen.
Rumpel: Wir arbeiten immer mit dem ganzen System, das ein Kind umgibt: mit den Eltern, der Familie, den Lehrern, Kinderärztinnen, Psychiatern, Beiständen, Schulsozialarbeiterinnen und so weiter. Das macht die Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen sehr komplex.
Demonstration in Bern
Für den 16. August ruft der Verein «Psychische Gesundheit für alle» – unterstützt von der Gewerkschaft VPOD, den Parteien SP und Grüne und diversen Organisationen wie Pro Mente Sana – zur nationalen Demonstration in Bern auf.
Die Hauptkritik gilt der mangelhaften psychotherapeutischen Versorgung: Laut der eidgenössischen Obsan-Studie nehmen mehr als ein Viertel der Betroffenen mit psychischen Problemen keine Hilfe in Anspruch.
Ausserdem reagiert das Bündnis auf die Ankündigungen der Krankenkassen, die provisorischen Tarife senken zu wollen, und auf eine Ende Mai von der nationalrätlichen Gesundheitskommission eingereichte Motion. Diese fordert, dass die anordnende ärztliche Fachperson der Krankenkasse bereits nach fünfzehn Sitzungen (und nicht erst nach dreissig) einen ausführlichen Bericht vorlegt.
WOZ: Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Hösli-Leu: In der Kinder- und Jugendpsychotherapie müssen auch die Eltern verstehen, wie es zu einem Symptom gekommen ist. Manchmal verschwindet es erst, wenn wir auch mit ihnen psychologisch arbeiten – etwa, wenn es um Leistungsdruck geht, um Ängste, Scham. Das braucht vor allem Zeit.
Rumpel: Es geht nicht darum, dass ein Kind bessere Noten schreibt oder die Familie ihre Freizeit effizienter gestalten kann. Es geht um seelisches Leiden: Diesem auf den Grund zu gehen, ist vor allem Beziehungsarbeit, denn die gesunde psychische Entwicklung eines Kindes hängt stark mit seinen Beziehungserfahrungen und den gesellschaftlichen Bedingungen zusammen. Doch diese Arbeit wird uns erschwert.
WOZ: Inwiefern?
Rumpel: Seit einigen Jahren dominiert der naturwissenschaftliche Blick auf das psychische Geschehen, der Fokus liegt auf möglichst raschen Diagnosen und einer Medikalisierung. Heute beschäftigt sich die Psychotherapie viel mehr mit neuronalen Verschaltungen als mit den sozialen oder kulturellen Umständen eines Symptoms. Eine psychische Krankheit ist aber komplexer als ein Knochenbruch: Wenn Sie an einer Depression leiden, ist das eine andere Depression als die einer Frau, die aus Somalia nach Zürich geflüchtet ist. Diese Aspekte gehen schon in der Ausbildung, in der wir beide ebenfalls tätig sind, stark unter. Hinzu kommt der Zeitmangel: Ein Knochen wächst wieder zusammen, doch in einem Therapieprozess gibt es viele irrationale Elemente. Wir wissen beispielsweise nicht, wie die Eltern auf den Prozess des Kindes reagieren. Deshalb sind fünfzehn Therapiesitzungen meist viel zu wenig.
WOZ: Sie beziehen sich auf das Anordnungsmodell, das vor rund zwei Jahren eingeführt wurde: Eine ärztliche Fachperson kann fünfzehn Psychotherapiesitzungen verordnen, danach braucht es eine weitere Verordnung, nach dreissig Stunden eine Beurteilung durch eine weitere ärztliche Fachperson und eine Kostengutsprache durch die Krankenkasse.
Rumpel: Fünfzehn Stunden sind für ein Kind eine sehr kurze Beziehung, vor allem bei Störungen, bei denen Misstrauen oder Angst eine grosse Rolle spielen. Wenn dazu ein Elternteil nicht von der Therapie überzeugt ist, ich diesen vielleicht mehrmals sehen muss, um ihm den Prozess zu erklären, mich ausserdem mit dem Kinderarzt und der Lehrerin bespreche, sind diese Stunden schon fast um. Ich habe also kaum mit der Therapie mit dem Kind begonnen, schon muss ich es zu einer Ärztin schicken, die ihm eine Diagnose stellt, weil die Krankenkasse das verlangt. Diese ärztliche Beurteilung macht etwas mit Patient:innen, sie kann Ängste verursachen, Rückschläge, Zweifel: Bin ich wirklich so krank? Es hat etwas Wertendes.
Hösli-Leu: Das Anordnungsmodell funktioniert gut für Menschen, die schon relativ gesund sind, über viele Ressourcen verfügen. Für Menschen, die schwer angeschlagen sind, sind diese Unterbrüche nach fünfzehn und nach dreissig Sitzungen sehr schwierig. Ausserdem müssten Patient:innen, beziehungsweise bei uns die Eltern, diese ärztliche Beurteilung jeweils selber organisieren. Wir therapieren aber oft Kinder von Eltern, die zu wenig Ressourcen haben und das schlicht nicht können, zum Beispiel Eltern mit psychischen Erkrankungen.
WOZ: Wie gehen Sie damit um?
Hösli-Leu: Ich übernehme das dann. Wir unterstützen die Eltern bei der Suche nach Ärzt:innen, telefonieren den Krankenkassen hinterher, wenn die Kostengutsprachen ausbleiben.
Rumpel: Der administrative Aufwand ist enorm. Seit dem Anordnungsmodell brauchen wir eine Sekretärin. Pro Patient:in ruft diese ein- bis viermal bei den Krankenkassen an, weil wir ohne Kostengutsprache die Therapie nicht fortsetzen können. Bei chronisch kranken Menschen, die mitten in einem Prozess sind, ist das zum Teil verheerend. Theoretisch dürfte ich bei fehlender Kostengutsprache nicht einmal anrufen und fragen, wie es geht, oder einen Anruf entgegennehmen.
WOZ: Tun Sie es trotzdem?
Rumpel: Bei geflüchteten Kindern arbeiten wir ohnehin oft pro bono, ebenso bei hochbelasteten Schweizer Familien. Und das hat zugenommen.
Hösli-Leu: Nicht zu vergessen, dass es oft Wartefristen gibt – bei Therapieplätzen, bei Ärzt:innen, bei Krankenkassen. Wenn heute Eltern bei mir anrufen, dauert es mindestens vier bis fünf Monate, bis ich einen freien Therapieplatz habe und die Therapie mit dem Kind beginnen kann. Wenn ich dann nach dreissig Sitzungen, respektive fünfzehn, eine Fallbeurteilung schreiben muss und diese von einer ärztlichen Fachperson begutachtet werden muss, führt das oft abermals zu Unterbrüchen. In dieser Zeit chronifizieren sich manche Störungsbilder, das ist fatal. Und der administrative Aufwand drückt letztlich den Lohn, viele Therapeut:innen sagen sich: Das mache ich nicht mehr.
WOZ: Das heisst?
Hösli-Leu: Ich kenne keine Zahlen dazu, aber ich höre immer wieder von Therapeut:innen, die nur noch Selbstzahler:innen aufnehmen und nicht mehr solche, die über die Grundversicherung abrechnen. Das verschlechtert die Versorgungslage.
Rumpel: Wer engagiert in der Grundversicherung arbeitet, hat einen tieferen Lohn und die schwierigeren Fälle. Das spaltet unsere Fachschaft und führt zu einer Zweiklassenmedizin: Für jene, die keine Zusatzversicherung haben und sich eine private Therapie nicht leisten können, wird es immer schwieriger, einen Therapieplatz zu finden.
WOZ: Der Bund wies vergangenes Jahr darauf hin, dass es zu wenige Psychotherapeut:innen gibt – besonders in der Kinder- und Jugendpsychotherapie …
Hösli-Leu: Das Anordnungsmodell hatte zum Ziel, die psychotherapeutische Versorgung zu sichern, Wartezeiten zu reduzieren. Das war damals ein grosses Thema, weil man davon ausgeht, dass es für Patient:innen wichtig ist, aber auch weil es ökonomisch Sinn ergibt, psychische Krankheiten frühzeitig zu behandeln. Mit der Abwanderung in Selbstzahlerpraxen und den längeren Wartefristen sehe ich beide Ziele als gescheitert an. Wir beobachten heute mehr frühzeitige Therapieabbrüche, eine fehlende Beziehungskonstanz.
Rumpel: Und eine Entwertung der Psychotherapie: Wir befinden uns ja gerade in einer Übergangslösung, die Krankenkassen wollen die seit der Einführung des Modells provisorisch geltenden Tarife für Psycholog:innen senken, auch rückwirkend. Es könnte sein, dass wir Rückzahlungen leisten müssen – das ist allein schon steuertechnisch absurd. Dazu kommt, dass es zu wenige Ausbildungsplätze gibt und die Ausbildung zur Psychotherapeutin teuer ist. Sie dauert fast gleich lang wie ein Facharzttitel und beinhaltet neben mehreren klinischen Praxisjahren zwei Masterstudiengänge, eine jahrelange Selbsterfahrung und Supervision. Insbesondere für junge Frauen, die oft in dieser Zeit Mütter werden, ist das schier nicht zu leisten. Es rumort deshalb gerade gewaltig in der Fachschaft.
WOZ: Was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern?
Rumpel: Mir scheint, wir kämpfen mit denselben Herausforderungen, mit denen alle kämpfen, die mit Menschen arbeiten: Wir haben keine Apparaturen, keine teuren MRI-Maschinen, keine Medikamente – und deshalb auch keine Lobby. Wir brauchen vernünftige Tarife und eine bessere Finanzierung der Ausbildungen, aber auch mehr Wertschätzung dafür, was die Psychotherapie leistet. Psychische Gesundheit basiert auf Beziehungsfähigkeit und braucht Zeit, keine Sparmassnahmen.
Sandra Rumpel (56) und Sabrina Hösli-Leu (39) sind Psychotherapeutinnen in der Praxis Arterstrasse in Zürich und Geschäftsleiterinnen von Family Help. Der Verein bietet psychosoziale Begleitung und Unterstützung für geflüchtete Kinder, Jugendliche und Familien.