Arbeitskampf: Der unechte Lieferdienst
Die Gastrofirma der Familie Wiesner entlässt alle ihre 170 Kurier:innen. Diese organisieren sich – und wehren sich dagegen, dass ihr Job als «unechte Arbeit auf Abruf» gelten soll.
Vergangener Samstag, Europaallee beim Zürcher Hauptbahnhof: Rund achtzig Velokurier:innen und Unterstützer:innen versammeln sich vor dem Restaurant Miss Miu. In ihrer Mitte steht ein Lastenrad mit einem orangefarbenen Sarg, darauf die Aufschrift «R. I. P. Negishi» und ein Kreuz, geschmückt mit einem Trikot der Kurier:innen. Unter den Kurier:innen ist auch der 31-jährige Thomas Revell. Schon vor seinen sechs Jahren bei «Negishi» arbeitete er als Velokurier. Doch damit ist jetzt Schluss. Statt Essen auszuliefern, fährt er an diesem Abend eine Beerdigungstour.
Das «Miss Miu» gehört wie die Restaurants Negishi, Nooch und Kitchen Republic zur Familie Wiesner Gastronomie (FWG). Vor vierzehn Jahren führte die FWG als einer der ersten Gastronomiebetriebe einen eigenen Lieferdienst ein, der während der Covid-Pandemie das Überleben der Restaurants sicherte. Doch seit dem 1. November ist der Dienst Geschichte. Laut FWG seien die hauseigenen Kurier:innen nicht mehr rentabel. Gleichzeitig eröffnete die Firma in den letzten Monaten drei neue Restaurants an Topstandorten wie dem Zürcher Hauptbahnhof und erzielt laut eigener Website einen Jahresumsatz von 97 Millionen Franken.
Die Kündigungswelle begann im Frühjahr. Damals beschäftigte die FWG noch rund 170 Kurier:innen in Basel, Bern, Winterthur, Zug und Zürich. Den Anfang machte Winterthur: Von vierzehn Kurier:innen erhielten Ende Mai zwölf die Kündigung, zwei wurden intern versetzt. Gleichzeitig kündigte die FWG weitere «Massnahmen» in anderen Städten an. Am 30. Juni zeigte sie den Kurier:innen in einer Powerpoint-Präsentation ein «transparentes Update über die Zukunft». Darin wurde erstmals angedeutet, der Kurier:innendienst könnte vollständig durch Uber Eats ersetzt werden. Die Fahrer:innen von Uber Eats arbeiten heute meist ohne Anstellungsverhältnis (vgl. «Der Fall Uber Eats»).
Wen trifft es als Nächstes?
In Anbetracht der bevorstehenden Entlassungen organisierten sich die Kurier:innen in der Syndicom über ihre Städte hinaus, um für ihre Rechte zu kämpfen, und verfassten Anfang August einen offenen Brief an ihre Chefs. 124 Kurier:innen unterzeichneten das Schreiben, in dem es heisst: «Ihr sprecht von Schichtstreichungen, Reduktionen und Straffungen, aber nie davon, was das konkret bedeutet.» Über den Sommer entliess die FWG 35 weitere Fahrer:innen, nach ihren Berechnungen waren es pro Stadt nie mehr als 10 Personen. Ab dieser Zahl hätten die Kündigungen als Massenentlassung gegolten. Die Gewerkschaft Syndicom wirft der FWG vor, mit einer Salamitaktik genau diese Regelung zu umgehen. Gleichzeitig kündigte die FWG an, Schichten zu streichen, und die Unsicherheit unter den Kurier:innen wuchs. Im offenen Brief schrieben sie: «Woher sollen wir wissen, dass es uns nicht als Nächstes trifft und wie wir nächsten Monat unsere Miete zahlen sollen?»
Die FWG begründete das Vorgehen damit, dass es keine Garantie auf Arbeitsstunden gebe, da es sich beim Arbeitsverhältnis um sogenannte «unechte Arbeit auf Abruf» handle. Das bedeutet, dass Angestellte mit jedem Einsatz neue, befristete Arbeitsverträge abschliessen. Die FWG könnte dann zum Beispiel Fahrer:innen, die über Jahre hinweg in einem Pensum von sechzig Prozent arbeiteten, von einem Tag auf den anderen alle Schichten streichen – ohne arbeitsrechtliche Konsequenzen zu tragen. Allerdings wird die unechte Arbeit auf Abruf eigentlich nur in Fällen temporärer Aushilfen angewendet – die Arbeitsrealität der Kurier:innen steht klar im Widerspruch dazu.
Der Fall Uber Eats
Uber Eats bezeichnet seine Kurier:innen als Selbstständige. Tatsächlich erhalten sie keine feste Bezahlung pro Lieferung und arbeiten oft über die zulässige Höchstarbeitszeit hinaus. In Genf gehört diese Scheinselbstständigkeit der Vergangenheit an: Das Kantonsgericht stufte die rund 400 Kurier:innen bereits 2020 als Angestellte ein. Uber Eats versuchte daraufhin, seine arbeitsrechtlichen Pflichten über Subunternehmen zu umgehen, die Kurier:innen vermittelten.
Doch das Bundesgericht entschied im Februar dieses Jahres, dass diese Firmen Personalverleiher sind – und die Kurier:innen dem Gesamtarbeitsvertrag unterstehen. Für die schweizweite Umsetzung des Urteils müssen dennoch kantonale Arbeitsämter und die Politik eingreifen. In Basel reichte jüngst die BastA!-Grossrätin Brigitta Gerber eine Motion zur «arbeitsrechtlichen Einbettung des Uber-Eats-Anbieters» ein.
Protest mit Verkehrsregeln
Ende August spitzte sich die Lage zu: Die FWG kündigte offen Massenentlassungen auf Ende Oktober an. Nun kämpfen die Kurier:innen um einen Sozialplan. Thomas Revell erhielt die Kündigung Anfang September per Mail: «Ich muss 3000 Franken an Krankenkassenrechnungen zahlen und habe 2000 Franken Mietschulden, I’m fucked.» Heute hat Revell zwar einen neuen Job – eine Stelle als Velokurier fand er aber nicht. Am 8. Oktober sollte die erste Verhandlung zwischen den Kurier:innen und der FWG stattfinden. Doch die Firma sagte die ersten Termine kurzfristig ab und wollte erst am 30. Oktober mit den Verhandlungen beginnen – zwei Tage bevor die Arbeitsverhältnisse enden und damit auch die Arbeitsverweigerung als wichtigstes Druckmittel wegfallen würde.
Statt am Verhandlungstisch versammelten sich am 8. Oktober dreissig Kurier:innen vor dem Gastrobetrieb Kitchen Republic in Zürich. Unter dem Motto «Lieferverzögerung wegen Sozialplanverzögerung» legten sie eine ausgedehnte Mittagspause ein und hielten sich laut eigenen Aussagen ungewöhnlich strikt an die Verkehrsregeln. Die FWG behauptete in einer Medienmitteilung fälschlicherweise, es handle sich um einen Streik, und lenkte gleichzeitig ein: Die Verhandlungen begannen nun doch in der folgenden Woche. An den Gesprächen nimmt eine sechsköpfige, gewählte Delegation der Kurier:innen teil – darunter auch Thomas Revell. Unterstützt werden die Kurier:innen von der Gewerkschaft Syndicom. Der strittigste Punkt ist die Entschädigung: Die ehemaligen «Negishi»-Angestellten fordern 24 Monatslöhne als Abfindung. Was die noch laufenden Verhandlungen bisher ergaben, ist der WOZ nicht bekannt.
Das Resultat dieses Arbeitskampfs könnte nicht nur für die Kurier:innen Folgen haben. Auch weitere der rund 750 Angestellten der FWG-Betriebe besitzen dieselben Verträge und arbeiten nach der gleichen Praxis wie die Kurier:innen: Gälte ihre Arbeit als unechte Arbeit auf Abruf, könnten Schichten künftig ohne Konsequenzen gestrichen oder verweigert werden. Damit könnte die FWG das unternehmerische Risiko einfacher auf die Angestellten abwälzen. Sollte sich die unechte Arbeit auf Abruf jedoch als blosse Behauptung der FWG herausstellen, könnten Gastroangestellte laut Gewohnheitsrecht Anspruch auf die durchschnittliche Stundenzahl der letzten Monate erheben, die die FWG auch dann zahlen müsste, wenn keine Arbeit anfiele. Auf Anfrage der WOZ schreibt die FWG, das eigene Vorgehen entspreche den rechtlichen Rahmenbedingungen. Auf Grund der laufenden Verhandlungen nehme man keine Stellung zu einzelnen Vorwürfen.