VelokurierInnen: Die Tagelöhner des digitalen Kapitalismus

Nr. 36 –

Gegenwärtig werden viele hippe Unternehmen gegründet, es zeichnen sich aber auch neue soziale Kämpfe ab. Europaweit gehen VelokurierInnen, die für Onlineplattformen tätig sind, auf die Barrikaden.

Der digitale Kapitalismus boomt: In der jüngeren Vergangenheit sind ungeahnte Geschäftsmodelle entstanden, hippe Unternehmen wie Amazon, Airbnb oder Uber verzeichnen astronomische Wachstumsraten und schaffen ihren KundInnen bequeme und billige Konsummöglichkeiten. Aber das ist nur die eine Seite.

Auf der anderen stehen Menschen wie Georgia Palmer – Menschen mit Wut im Bauch. «Heute bringen wir den Protest direkt zur Zentrale von Deliveroo. Ohne uns wären die Büros hier leer, ohne uns würde Deliveroo nicht existieren!», ruft die junge Frau in ein Megafon. Georgia Palmer lebt in Berlin, wo sie studiert; ihren Lebensunterhalt bestreitet sie als Velokurierin. Gemeinsam mit der anarchistischen Basisgewerkschaft FAU hat sie an diesem heissen Sommertag einige Dutzend ihrer KollegInnen für eine Velodemonstration durch die deutsche Hauptstadt mobilisiert.

Der Protest richtet sich gegen die Onlineplattformen Deliveroo und Foodora. Die beiden einstigen Start-ups, die heute international agierende Konzerne sind, liefern sich in Berlin seit Monaten einen harten Verdrängungswettbewerb. Das Geschäftsmodell ist in beiden Fällen dasselbe: KundInnen können via Internet Essen bei mit Deliveroo und Foodora kooperierenden Restaurants ordern, eine Flotte von VelokurierInnen – sogenannte Riders – liefert dann die Bestellungen binnen weniger Minuten aus. Für die Restaurants wie die Plattformen ist das gleichermassen eine vorteilhafte Konstellation: Die Gastronomiebetriebe können mehr KundInnen erreichen ohne Investition in einen eigenen Lieferservice, Foodora und Deliveroo wiederum kassieren rund dreissig Prozent des Umsatzes sowie von den hungrigen KundInnen eine Gebühr.

Miese Arbeitsbedingungen

Deutlich weniger profitabel ist dieses Geschäftsmodell indes für die KurierInnen, die zum überwiegenden Teil rund neun Euro in der Stunde verdienen, ohne Anspruch auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, sofern sie nicht zu den wenigen zählen, die fest angestellt sind. Zudem müssen sie die Reparaturkosten für ihre Velos und Smartphones selbst tragen. «Die Fahrer haben zu kämpfen, um überhaupt auf ihre Stunden zu kommen und damit genug zu verdienen, um zu überleben», sagt Clemens Melzer, Pressesekretär der FAU. «Das steht im Widerspruch zu den Werbeclips, mit denen die Unternehmen um neue Fahrer werben. Da wird versprochen, dass man sich bei ihnen jederzeit einloggen kann, wenn man gerade ein bisschen dazuverdienen möchte.»

Faktisch aber müssen die KurierInnen oft lange warten, ehe sie einen Auftrag zugeteilt bekommen – und dann noch froh sein, wenn sie bei schlechtem Wetter spätabends etwas ausliefern können. Derart prekarisierte Beschäftigungsverhältnisse fasst man unter dem Schlagwort «Gig Economy» zusammen – der Beschäftigte verdient nur dann, wenn es gerade einen Job für ihn gibt, so wie auch eine Musikerin nur dann ein Einkommen hat, wenn sie einen Gig in irgendeinem Club ergattern kann. Arbeit auf Abruf also. «Das ähnelt den Bedingungen, unter denen früher Tagelöhner schuften mussten», sagt Melzer.

«Uberisation» und Widerstand

Der Geschäftszweig der Essensauslieferung bildet neben demjenigen der Personenbeförderung, in dem vor allem das US-Unternehmen Uber den Markt dominiert, zu den Kernbranchen der Gig Economy. Die FAU hat deshalb in diesem Frühjahr in Berlin die Kampagne #deliverunion gestartet. Zuvor hatten immer mehr RiderInnen die Gewerkschaft um Rechtsberatung ersucht. Und auch in anderen europäischen Ländern haben sich die FahrerInnen zu organisieren begonnen. Den Anfang machten vergangenes Jahr Deliveroo-FahrerInnen mit Protestaktionen im englischen Bristol, inzwischen aber wehren sich KurierInnen in halb Europa (zur Situation hierzulande vgl. «Die Lage in der Schweiz» im Anschluss an diesen Text).

Die FahrerInnen sind so etwas wie die Vorhut eines neuen Kapitalismus, der für die Lohnabhängigen auf den ersten Blick mehr Freiheiten mit sich bringt, faktisch aber eine drastische Verschlechterung der Arbeitsverhältnisse bedeutet. Im Englischen und Französischen hat sich für diese Entwicklung der Begriff «uberisation» eingebürgert. Und unter dieses Phänomen fallen nicht nur Velokuriere und Uber-Fahrerinnen. In Deutschland etwa bieten auf den Plattformen myhammer.de und helpling.de Handwerkerinnen und Reinigungskräfte ihre Dienste an. Die Seite clickworker.de wiederum vermittelt auf Honorarbasis Kleinstjobs, die online erledigt werden können, etwa die Bearbeitung von Suchaufträgen im Netz oder die Pflege von Datenbanken. Arbeiten kann man von zu Hause aus, feste Zeiten gibt es nicht.

Die Unternehmen der Gig Economy bewerben ihre Plattformen damit, dass sie Verdienstmöglichkeiten bei gleichzeitig grösstmöglicher Freiheit schaffen würden. Das klingt verheissungsvoll. Nur hat es mit der Wirklichkeit nicht allzu viel zu tun. Dafür aber umso mehr mit der marktkonformen Uminterpretation dessen, was unter Freiheit zu verstehen ist. «Das Resultat solcher Beschäftigungsverhältnisse ist in der Regel Prekarität», sagt die Soziologin Stefania Animento, die an der Berliner Humboldt-Universität forscht. Oft würden sich bei den Onlineplattformen Leute anmelden, die eine Einkommensmöglichkeit suchen, um die Zeit zu überbrücken, bis sie einen regulären Job gefunden haben. «Das ist aber eine Falle: Man denkt, dass es nur eine Übergangslösung ist, findet dann aber keine Alternative und landet so schliesslich dauerhaft in der Prekarität», sagt Animento.

Algorithmen als Kontrollinstrumente

Ohnehin ist es mit dem Autonomieversprechen der Plattformökonomie nicht weit her. So schreiben die Soziologen Oliver Nachtwey und Philipp Staab in einer Studie über den neuen digitalen Kapitalismus: «In Dienstleistungsfabriken wie Amazon kehren lückenlose Kontrolle und maschinelle Maschinensteuerung nun zurück in die Arbeitswelt. Was früher das Fliessband war, sind heute Apps und Algorithmen.» Gerade Letzteres erfahren nicht nur die ArbeiterInnen, die in Amazons Warenlagern schuften, während ihre Arbeitsleistung digital aufgezeichnet wird, sondern auch die VelokurierInnen.

Bei Foodora läuft die Auftragsvergabe an die FahrerInnen nämlich automatisch über einen Algorithmus. «Die Algorithmen sind ein Kontrollinstrument. Weil die Fahrer immer ein Smartphone mit installierter App bei sich haben, weiss die Firma dank Geolokalisierung immer, wo man sich gerade befindet», sagt Animento. Die protestierenden Berliner KurierInnen vermuten zudem, dass der Algorithmus registriert, wie zuverlässig eine Fahrerin Aufträge annimmt; steht die Kurierin allzeit bereit, wird sie gegenüber weniger zuverlässigen KollegInnen bevorzugt.

Zum Problem wird das spätestens dann, wenn ein Rider krank oder verletzt über einen längeren Zeitraum nicht arbeiten kann, deswegen Einkommenseinbussen hinnehmen muss und anschliessend auch noch Schwierigkeiten hat, wieder an Jobs zu gelangen.

Deliveroo verweigert das Gespräch

In Berlin haben die FahrerInnen drei konkrete Forderungen formuliert, die sie an Foodora und Deliveroo richten: erstens die Übernahme der Kosten für die Arbeitsmittel durch die Unternehmen, damit die Kuriere nicht länger selbst für Reparaturen an ihren Rädern oder Smartphones aufkommen müssen; zweitens die Erhöhung der Entgelte um einen Euro; und drittens eine höhere Anzahl garantierter Stunden, um zu gewährleisten, dass die ArbeiterInnen mit ihrer Tätigkeit auch wirklich über die Runden kommen können.

Einen ersten kleinen Erfolg hat die Berliner Kampagne bereits verzeichnet: Zumindest das deutsche Unternehmen Foodora hat inzwischen Gespräche mit der Gewerkschaft aufgenommen. Der englische Konkurrent Deliveroo verweigert dagegen nach wie vor den Dialog, da die Stimmung unter den ArbeiterInnen angeblich gut sein soll und die von der FAU initiierten Proteste «nicht als repräsentativ» zu betrachten seien. Jedoch gehen Deliveroo-Beschäftigte gleich in mehreren Ländern auf die Strasse. So protestierten vor einigen Tagen französische KurierInnen, die für Deliveroo ausliefern, in Paris, Lyon und Bordeaux. Auslöser war, dass das Unternehmen Ende Juli die Kuriere per E-Mail darüber informiert hatte, dass sich die Geschäftsbedingungen geändert hätten und sie fortan nicht mehr per Stundenlohn bezahlt würden, sondern pro zugestellter Bestellung – also per Akkordlohn. Viele FahrerInnen fürchten, dass dies faktisch eine Lohnkürzung ist.

Fluktuation und Vernetzung

Dass es die KurierInnen der Onlineplattformen in Frankreich und anderswo geschafft haben, sich überhaupt zu organisieren, ist bereits ein Erfolg und keineswegs selbstverständlich. Denn die FahrerInnen arbeiten in der Regel isoliert voneinander – anders als früher FabrikarbeiterInnen, die in derselben Werkhalle tätig waren, wo sie sich austauschen und vernetzen konnten. Ausserdem gibt es unter den Beschäftigten der Gig Economy eine hohe Fluktuation. Trotzdem ist es gelungen, Proteste auf die Beine zu stellen.

«Die hohe Fluktuation der Arbeiter schwächt zwar ihre Verhandlungsmacht, kann aber auch der Vernetzung dienen», sagt Animento. Die Soziologin hat den Streik von Foodora-FahrerInnen in Turin 2016 untersucht. «Fahrer, die damals wegen des Streiks ihren Job verloren haben, haben dann bei der Konkurrenz angefangen. Das hat den Austausch von Erfahrungen befördert», sagt die Soziologin. Zudem seien die Streikenden während ihrer Proteste stets öffentlich präsent gewesen – ihr Arbeitsplatz ist ja ohnehin nicht eine entlegene Fabrik, sondern die Strasse. «Womöglich erleichtert diese Sichtbarkeit zukünftige Allianzen mit anderen sozialen Kämpfen», sagt Animento.

Die Lage in der Schweiz

Weder Foodora noch Deliveroo sind bislang in der Schweiz vertreten. Hierzulande hat sich die Debatte in Sachen Gig Economy in den vergangenen Wochen auf die umstrittene Onlineplattform Uber konzentriert, die private Fahrdienstleistungen vermittelt. Trotzdem gibt es aber auch in der Schweiz kleinere Unternehmen, die vergleichbar arbeiten, etwa den Dienstleister Notime.

Der Velokurierdienst kommt wegen schlechter Arbeitsbedingungen in die Kritik: Seit über zwei Jahren fahren KurierInnen für 22 bis 25 Franken pro Stunde, ohne Sozialleistungen, ohne Entschädigung für Fahrräder und ohne Unfallversicherung. Sie erhalten gemäss einer Mitteilung der Gewerkschaft Unia auch keine Ferienzulagen, keine Feiertagsentschädigungen und keinen Lohn bei Krankheit oder Unfall. Die KurierInnen fordern, dass Notime auf Verhandlungen über einen Gesamtarbeitsvertrag einsteigt, sowie rückwirkende Entschädigungen. Weil Notime ein Gespräch mit den Angestellten platzen liess, machten die KurierInnen gestern mit einer Protestaktion in Bern auf die Missachtung ihrer Rechte aufmerksam.