Plattformwirtschaft: Rezepte für die Revolte

Nr. 25 –

In Deutschland kämpfen die Essenskurier:innen gegen die Ausbeutung in ihrer Branche. Die einen legen spontan die Arbeit nieder, andere rufen die Gewerkschaft – gemeinsam stellen sie das Geschäftsmodell der Lieferfirmen auf den Prüfstand.

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Seit Jahren kämpfen Essenskurier:innen in Deutschland zusammen mit der Gastrogewerkschaft NGG für bessere Bedingungen: einen Tarifvertrag mit fünfzehn Euro Stundenlohn, Zuschlägen und Mitbestimmung. Doch ausgerechnet Lieferando, der mit Abstand grösste Essenslieferdienst im Land, blockt ab. Stattdessen häufen sich vonseiten der Mutterfirma Just Eat Takeaway, einem internationalen Unternehmen mit Sitz in Amsterdam, derzeit die Alarmsignale.

In Österreich etwa hat Just Eat Takeaway kürzlich rund tausend fest angestellte Fahrer:innen entlassen und durch sogenannt Selbstständige ersetzt. Und in Berlin testet Lieferando aktuell die Zusammenarbeit mit Subunternehmen. Das sei «branchenüblich», behauptet das Unternehmen. Tatsächlich drohen mit dem Modell jedoch Errungenschaften wie Mindestlohn und betriebliche Mitbestimmung zu verschwinden.

Für Verunsicherung sorgt unter den Rider:innen, wie sich die Kurier:innen in Deutschland meist nennen, aktuell auch die geplante Übernahme von Just Eat Takeaway durch die ebenfalls in den Niederlanden ansässige Techbeteiligungsgesellschaft Prosus. Sie ist bereits Grossaktionärin beim Konkurrenten Delivery Hero, was symptomatisch ist für eine Branche wie diese, die sich gerade in einem Konsolidierungsprozess befindet. Was bedeutet das für die Rider:innen? Manche liefern nur gelegentlich Essen aus, viele tun es aber Tag für Tag – in den Grossstädten meist auf dem Fahrrad oder auf Scootern, in ländlichen Gebieten mit dem Auto. Bis zu 100 000 sollen es in Deutschland insgesamt sein.

Mitsprache im Betriebsrat

Seit Beginn der zehner Jahre haben Essenslieferdienste in Europa ein rasantes Wachstum hingelegt. Firmen wie Lieferando, Uber Eats oder Deliveroo vermitteln Bestellungen per App und verdienen an Gebühren und Restaurantprovisionen mit. Die Lieferarbeit übernehmen teils angestellte, oft aber auch selbstständigerwerbende Kurier:innen – mit geringen Fixkosten für die Firmen.

Wo es fairere Bedingungen gibt, mussten sie hart erkämpft werden. Das zeigt etwa die Geschichte von Orry Mittenmayer. Der heute 32-Jährige war in Köln bereits monatelang «verzweifelt auf Jobsuche» gewesen, als er durch Werbeplakate auf den Rider:innenjob aufmerksam wurde: Flexible Arbeitsbedingungen und die Aussicht auf körperliche Fitness hätten ihn angesprochen, sagt Mittenmayer. Und auch der schlanke Bewerbungsprozess, denn andernorts sei er aufgrund seiner Hautfarbe häufig mit Vorurteilen konfrontiert worden. Bei Foodora, wie Lieferando damals noch hiess, sei er dann auf eine «bunte Belegschaft» getroffen, erzählt er heute. Aber die Stimmung sei bald gekippt, als der Arbeitgeber den Lohn nicht gezahlt habe. «Wir fühlten uns gemeinsam für den Erfolg des Start-ups verantwortlich», sagt er. «Dann merkten wir, dass wir verarscht und nicht respektiert werden.»

In einem Verzweiflungsakt wollte er gemeinsam mit anderen Rider:innen im Winter 2017/18 kollektiv kündigen. Ein Kollege habe ihm und seiner Gruppe dann aber den Weg über die Gewerkschaft empfohlen. Die Rider:innen hätten zuerst skeptisch reagiert: «Ich wollte nichts mit Politik zu tun haben», sagt Mittenmayer. Trotzdem besuchte er das örtliche Gewerkschaftshaus – nicht zuletzt deshalb, weil er sich in jenem kalten Winter über einen kurzen Aufenthalt an der Wärme gefreut habe.

Drinnen hätten zwei NGG-Sekretäre seine Gruppe dann aber von der Idee eines Betriebsrats überzeugt, der in seinem Betrieb für bessere Arbeitsbedingungen und pünktliche Lohnzahlungen sorgen würde, sagt Mittenmayer. Betriebsräte haben in Deutschland ein gesetzlich garantiertes Mitspracherecht in Fragen zu Lohn, Arbeitszeit oder Kündigungen – deutlich verbindlicher, als es die freiwillige Mitsprache in schweizerischen Personalkommissionen vorsieht.

So bildeten Mittenmayer und seine Kolleg:innen 2018 den ersten Betriebsrat in einem deutschen Lieferdienstunternehmen. Doch von Anfang an sei man mit Widerständen vonseiten der Firma konfrontiert gewesen, erzählt Mittenmayer: Diese habe mit der Ausstellung befristeter Verträge und einer Umstellung auf eine offizielle Selbstständigkeit der Rider:innen gezielt versucht, den Betriebsrat zu schwächen. Darauf reagierten Mittenmayer und seine Mitstreiter:innen mit einer Kampagne unter dem Titel «Liefern am Limit». Sie bot den Rider:innen fortan eine Plattform zum Austausch und verschaffte den Zuständen in der Branche ein grosses öffentliches Echo. «Mit der Kampagne haben wir aus gesichtslosen Fahrern Menschen gemacht», sagt Mittenmayer.

Es war der erste Arbeitskampf in der deutschen Lieferbranche. Mittlerweile hat Mittenmayer, der heute in Kassel Politikwissenschaften studiert, darüber ein Buch geschrieben: «Ausgeliefert» heisst es, im November ist es erschienen. Heute streiten die Rider:innen bei Lieferando für den ersten Tarifvertrag im Unternehmen, getragen von Betriebsräten an fast zwanzig Standorten im ganzen Land. Orry Mittenmayer ist überzeugt: «Unser Kampf hat nachhaltige Strukturen geschaffen.»

Wilder Streik

Die prekären Arbeitsbedingungen in der Branche kennt auch Ronnie, dessen Nachname nicht in der Zeitung stehen soll, aus eigener Erfahrung. 2021 war er Rider beim Berliner Lieferdienst Gorillas: Im Gegensatz zu den meisten anderen Diensten lieferte dieser kein Restaurantessen, sondern Supermarktartikel aus eigenen Lagern. Man solle sich keine Illusionen machen, der zwischenzeitliche Riesenerfolg von Gorillas bei Anleger:innen sei im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Rücken der Beschäftigten erwirtschaftet worden. «Seien wir ehrlich, wer macht denn die Drecksarbeit in Deutschland?», sagt Ronnie. Ein Grossteil der Gorillas-Rider:innen seien Migrant:innen gewesen, viele hätten kaum Deutsch gesprochen, geschweige denn etwas vom komplizierten deutschen Arbeitsrecht verstanden. Ihre Beschwerden über zurückgehaltene Löhne, unzureichende Arbeitsausstattung oder willkürliche Dienstpläne seien regelmässig ins Leere gelaufen.

Trotz des Leidensdrucks überwog unter den Fahrer:innen bei Gorillas aber die Skepsis gegenüber den etablierten Gewerkschaften. Sie hätten diese als zu bürokratisch erlebt, als zu schwerfällig und nicht wirklich an der konkreten Problemlage der Beschäftigten interessiert, erzählt Ronnie.

Also begannen die Beschäftigten damals, sich selbst zu organisieren (siehe WOZ Nr. 42/21). Über einen Whatsapp-Gruppenchat brachte das Gorillas Workers Collective Rider:innen in der deutschen Hauptstadt zusammen. Über Monate hinweg blockierten sie immer wieder Lagerhäuser des Lieferdiensts, bis im Oktober 2021 über einem Dutzend von ihnen fristlos gekündigt wurde – wegen der Teilnahme an einem «wilden Streik». Gemäss deutscher Rechtsprechung sind Streiks nur dann rechtmässig, wenn sie tarifvertraglich regelbare Inhalte zum Ziel haben.

Zu den Betroffenen gehörte auch Ronnie. Gemeinsam mit zwei Exkollegen klagte sich dieser fortan durch sämtliche Instanzen. Bislang bewerteten die Gerichte die wilden Streiks als erhebliche arbeitsrechtliche Pflichtverletzungen; mit einer Anfang dieses Jahres eingereichten Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg steht nun die letzte Etappe im Kampf der einstigen Gorillas-Rider:innen an.

Den Kläger:innen geht es um weit mehr als um ihre persönliche Schädigung: Es geht ihnen um Gerechtigkeit. Und genauso auch um die Würde migrantischer Beschäftigter. Was denkt er, wenn er heute die unzähligen Rider:innen sieht, die mit den farbigen Rucksäcken von Lieferdiensten wie Flink, Uber Eats oder Wolt durch die Strassen Berlins fahren oder vor Restaurants und Imbissbuden auf Bestellungen warten? «Niemand sollte diese Jobs machen müssen, sie zerstören einen einfach», sagt Ronnie.

Für den Rechtsanwalt Benedikt Hopmann, der Ronnie und seine Kollegen vor Gericht vertritt, geht es um Grundsätzliches. «Der Streik ist die Mutter der Demokratie in Deutschland», sagt er. Und verweist auf die Anfangsphase der Weimarer Republik, die 1920 nach dem Kapp-Putsch nur durch einen Generalstreik aufrechterhalten werden konnte. Allerdings sei die bis heute massgebliche Rechtsprechung wesentlich vom einstigen NS-Ideologen und späteren Bundesarbeitsrichter Hans Carl Nipperdey geprägt – und falle entsprechend restriktiv aus.

Ständig neue Schlupflöcher

Benedikt Hopmann setzt daher grosse Hoffnungen in die Klage vor dem EGMR. Er beruft sich auf die Europäische Sozialcharta des Europarats, die wesentlich geringere formale Anforderungen an die Gründung einer Gewerkschaft stelle, als es die deutschen Gerichte tun würden. Und schon vor über zwanzig Jahren hat das deutsche Bundesarbeitsgericht festgehalten, dass sich die hiesige Rechtsprechung stärker an der Europäischen Sozialcharta orientieren müsste. Für Hopmann ist deshalb klar: «Schon eine gemeinsame Whatsapp-Gruppe reicht, um eine Gewerkschaft zu gründen.»

Im Dezember 2022 wurde Gorillas von der Konkurrenzfirma Getir aufgekauft – und stellte im Mai letzten Jahres schliesslich den Betrieb ein. Der Aufstieg und Fall des Unternehmens steht sinnbildlich für die Marktbereinigung, die im Liefersektor seit einiger Zeit stattfindet – und auch dafür, wie instabil die Geschäftsmodelle in der Plattformökonomie tatsächlich sind. Prekäre Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne und fehlende Mitbestimmung bleiben zentrale Herausforderungen – während die Plattformen im harten Wettbewerb ständig nach neuen Schlupflöchern im System suchen.

Und in der Schweiz?: Auf der Strasse, vor Gericht, im Parlament

Auch in der Schweiz verdienen Kurier:innen bei Anbietern wie Smood, Uber Eats, Eat.ch oder Just Eat – wie Lieferando hier heisst – oft deutlich unter dem, was der Gastronomie-GAV eigentlich vorsieht. Bezahlt wird häufig bloss pro Lieferung, weshalb Wartezeiten unbezahlt bleiben. Viele der einigen Tausend Kurier:innen (genaue Zahlen sind nicht bekannt) müssen zudem für ihre eigenen Arbeitsgefährte aufkommen, Sozialversicherungen fehlen teils gänzlich.

Nach zahlreichen Beschwerden über falsche Abrechnungen kam es 2021 beim Anbieter Smood zum bisher längsten Streik in der Branche: Von Yverdon bis Genf forderten die Kurier:innen in elf Städten in der Romandie transparente Löhne, faire Spesen und die Bezahlung ihrer gesamten Arbeitszeit. Der Druck wuchs an – nicht nur auf Smood selbst, sondern auch auf die Migros, deren Genfer Genossenschaft damals einen Minderheitsanteil an Smood hielt; mittlerweile besitzt sie sogar die Aktienmehrheit. Smood einigte sich mit der Gewerkschaft Syndicom schliesslich auf Mindestlöhne, Zuschläge und Richtlinien bei den Einsatzzeiten, die in einem GAV festgehalten wurden.

Seither stieg auch der juristische Druck auf die Unternehmen: Das Bundesgericht entschied 2025, dass Uber Eats die Arbeitsverhältnisse mit seinen Fahrer:innen in Genf nicht länger auf Partnerfirmen auslagern darf – es handle sich bei diesem Vorgehen um Personalverleih, der klaren arbeitsrechtlichen Vorgaben unterliege. Und das Genfer Arbeitsgericht urteilte jüngst erstinstanzlich, dass Smood den Bestimmungen des landesweiten Gastro-GAV unterstehe – mit besserem Lohn, bezahlter Wartezeit und fünf Wochen Ferien für alle Fahrer:innen. Smood legte Berufung ein.

Anfang Juni erfuhr das Geschäftsmodell der Plattformfirmen auch einen politischen Dämpfer: Der Nationalrat lehnte einen Vorstoss von GLP-Präsident Jürg Grossen ab, der es Unternehmen erlaubt hätte, Scheinselbstständigkeit legal zu gestalten. Die Sozialkommission hatte ihn noch unterstützt – gegen breiten Widerstand von Gewerkschaften, Kantonen und Teilen der Wirtschaft.

Florian Kaufmann und Joel Schmidt