Mehr Zeit für alle
Es war kurz vor Weihnachten, und wie schön es auch diesmal wieder war: Niemand wollte etwas von mir, keine E-Mails, keine Anrufe. Die letzten Nachrichten, die mich erreichten, waren fröhlicher und netter als die davor. Offenbar freuten sich alle auf die lang ersehnte Pause, und selbst der Arbeitskollegin, die ich nicht ausstehen kann, wünschte ich von Herzen schöne Feiertage. Und dann kam Weihnachten, und für eine Woche kehrte einfach Ruhe ein. Ich liebe diese Zeit, in der unsere Hyper-Leistungsgesellschaft einen Moment lang zum Stillstand kommt. Sei es auch nur für ein paar Tage. Jetzt ist es Mitte Januar, und spätestens seit dieser Woche sind die Menschen aus den Ferien zurück. Gut möglich, dass sie ein paar Kilo mehr auf den Rippen haben, dafür wirken sie glücklicher.
Als ich vor ein paar Tagen meine gut erholten Freunde treffe, diskutieren wir eine Idee: Ab nächstem Jahr machen wir einfach statt einer Woche drei Monate Pause. Wir hätten einfach nur Zeit, Mensch zu sein. Keine Leistung, keine Produktion. Mehr Zeit für uns selbst, für Selbstreflexion, mehr Zeit mit geliebten Menschen, für die Familie, für das Kollektive. Väter hätten Zeit für tiefgründige Gespräche mit ihren Kindern, und es gäbe dadurch weniger Traumata, verursacht durch emotional abwesende Väter. Die alleinerziehende Mutter, die Vollzeit arbeitet, hätte auch mal das Privileg, sich aufs Sofa zu legen und dabei nachmittags wegzudösen. Vielleicht würden sich Paare wieder einmal in die Augen schauen und die Person neu entdecken, in die sie sich vor langer Zeit verliebt haben. Oder aber weniger romantisch: Sie kämen endlich zum Entschluss, dass es besser ist, sich von ebendieser Person zu trennen.
Doch wir sind gefangen: Lohnarbeit lenkt ab von unseren echten Leben und hindert uns daran, die Entscheidungen zu treffen, die wir treffen müssten, um so etwas wie die Möglichkeit zu haben, glücklich zu sein. Unsere eigene Arbeitskraft auszubeuten, ist schon lange zur Norm geworden, und wir haben vergessen, dass es Alternativen zu unserer jetzigen Lebensweise gibt. Wenn wir mehr Zeit hätten, könnten wir diese auch mit sinnstiftender Arbeit verbringen, die uns selbst und der Gesellschaft dient. Zum Beispiel wenn wir mit Kindern spielen oder ein längeres Gespräch mit einer Freundin führen. Wenn wir endlich mehr Zeit hätten, würden viele von uns vielleicht der eigenen Kreativität nachgehen. Wir würden Arbeit neu definieren.
Allein schon der Gedanke an wochen- oder monatelange Pausen gleicht in der auf Fleiss getrimmten Schweiz einer Straftat. Hier besteht die grösste Tugend darin, um sechs Uhr aufzustehen und die erste Person im Büro zu sein. Es ist offensichtlich, dass uns zu viel Arbeit und ständige Erreichbarkeit komplett überfordern. Stress macht krank und auf lange Sicht unglücklich.
Wieso also nicht etwas daran ändern? Drei Monate Pause für alle. Mehr Zeit, weniger Lohnarbeit und weniger Stress. Mehr Liebe und mehr Leben.
An dieser Stelle lesen Sie immer freitags einen Text unserer Kolumnistin Migmar Dolma. Dolma ist Gewerkschafterin, im Vorstandsmitglied des postmigrantischen Thinktanks Institut Neue Schweiz und aktiv in der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung. Sie ist 32 Jahre alt und lebt in Olten.