Selige Jahre der Züchtigung Unterschätzt (6): Die grösste lebende Regisseurin, von der Sie noch nie gehört haben? Lucile Hadžihalilović.

Irgendwo im tiefen Wald: ein Mädchenpensionat, wo jedes Kind, das neu in die Schule kommt, in einer schmucken Holzkiste angeliefert wird, wie in einem Sarg. Irgendwo auf einer kargen Insel im Meer: eine Gemeinschaft von Frauen, die medizinische Experimente und andere obskure Rituale an Knaben vollziehen. Und irgendwo in einem grossen, dunklen Haus: ein Mann mit dem Auftrag, sich um ein Mädchen zu kümmern, das ein künstliches Gebiss aus Eis trägt.
Willkommen in den wunderbar abseitigen, unendlich faszinierenden Welten von Lucile Hadžihalilović. Die 63-jährige Französin stand immer etwas im Schatten ihres berühmteren Mannes, dessen Filme direkter, extremer, weniger geheimnisvoll sind. Sie selber hat erst drei lange Filme realisiert, zwischen dem ersten und dem dritten liegen siebzehn Jahre; aber in jedem dieser drei Filme entwirft sie einen so entrückten, jeweils radikal hermetischen Kosmos, wie das im Kino seinesgleichen sucht.
Märchen? Irgendwie schon, nur dass in diesen Filmen nichts von dem vor sich geht, was man sonst von einem Märchen erwartet: kein Gut und kein Böse, schon gar keine Moral. In ihrem mittellangen Film «La bouche de Jean-Pierre» (1996) spielte Hadžihalilović noch mit dem Motiv des Wolfs in Verbindung mit einem pädophilen Übergriff. Doch im schwach beleuchteten Wald von «Innocence» (2004), ihrem ersten langen Film, lauert dann kein Ungeheuer, auch keine Hexe oder sonst eine Prüfung. Die berauschenden Unterwasserszenen von «Évolution» (2015) kommen ohne Meerjungfrau aus, da ist nur ein ominöser Seestern, der blutrot leuchtet. Und der gepeinigte Sonderling in «Earwig» (2021) will dem Mädchen in seiner Obhut nichts Böses. Was die drei Filme von Lucile Hadžihalilović aber eint: Immer geht es um Kinder, die in sozialer Isolation einem mehr oder weniger undurchsichtigen Regime unterworfen sind.
Im Garten der Kindheit
Wie eben in «Innocence». Kein grosses Drama hier in diesem Erziehungsheim: Die Mädchen lernen Ballett, sie spielen im Wald und baden im See, eingebunden in eine strenge Ordnung, zugleich aber losgelöst von jedem Zeitgefühl. Alles noch offen in diesem fast utopischen Garten der Kindheit, alles in der Schwebe in diesem eingezäunten Paradies zwischen Unschuld und Kontrolle. Wir teilen das Glück dieser Mädchen, aber unterschwellig ist stets auch diese vage Angst, die in der Ungewissheit lauert: Worauf werden sie hier doch auch getrimmt? Was erwartet sie draussen, wo die Gesellschaft ihre festgeschriebenen Bedeutungen bereithält?
Und wie sind wir, ganz am Anfang des Films, überhaupt hereingekommen in diesen abgeschirmten Raum? Durch ein Tunnelsystem, das offenbar unter diesem Internat verläuft. Auch die Mädchen müssen dann von Zeit zu Zeit hinuntersteigen, durch einen Korridor, der sich hinter der Pendeluhr verbirgt. Durch unterirdische Gänge werden sie zu einem Theater geleitet, wo sie die gelernten Tanzschritte aufführen, vor einem schemenhaften Publikum, das sie im dunklen Saal nur erahnen können.
«Innocence» beruht auf einer Novelle von Frank Wedekind, doch könnte man dem Film getrost auch den Titel eines Romans von Fleur Jaeggy anhängen, der hier passt wie die Schleife ins Haar: «Die seligen Jahre der Züchtigung». Es ist ein Reigen über die Fetischisierung von Reinheit und Gehorsam, über Erziehung als sublimierte Perversion.
Lucile Hadžihalilović ist in Marokko aufgewachsen, als Tochter eines aus Jugoslawien ausgewanderten Arztes und einer Französin, die dort ebenfalls als Ärztin arbeitete. Sie zog dann nach Paris, um Kunstgeschichte und später Film zu studieren. Bei der Arbeit an einem Kurzfilm lernte sie ihren künftigen Mann kennen, einen etwas jüngeren Studenten von einer anderen Filmschule, der sich bald einen Ruf als schillernder Provokateur erarbeiten sollte mit Werken, die obsessiv um Gewalt, Lust und Rausch kreisen. Sein Name: Gaspar Noé, bekannt geworden mit «Irréversible» (2002).
Auch wenn man den Hang zum Exzess und die oft etwas grossspurige Drastik bei Gaspar Noé auf den ersten Blick kaum mit den enigmatischen Tableaus bei Lucile Hadžihalilović verbindet: Was die Filme der beiden eint, ist ihre Skepsis gegenüber einem naturalistischen Blick, ihre Lust an extremer Stilisierung. «Ich mag Filme, bei denen ich nicht alles verstehe, weil diese dann länger nachhallen», sagt Hadžihalilović in einer Einführung auf der DVD von «Innocence». Und sie sagt auch, was sie nicht mag: «Filme, die zu viel erklären, die immer alles genau abstecken, weil sie nicht wollen, dass sich der Zuschauer verliert.» Das Publikum solle seine eigenen Wege durch ihren Film finden.
Knaben unter dem Messer
In einer Branche, die jedes Projekt möglichst in einem einzigen Satz verkaufsträchtig auf den Punkt gebracht haben will, hat es jemand wie Hadžihalilović umso schwerer, ihre Filme finanziert zu bekommen. Elf Jahre sollten also nach «Innocence» verstreichen bis «Évolution», und wie schon ihr Erstling geht auch dieser Film auf einen autobiografischen Kern zurück, wie die Regisseurin in einem Interview in «Film Comment» erzählt: das Unbehagen, als sie als Kind erstmals ins Spital musste, für eine Blinddarmoperation. Lauter Erwachsene um sie herum, die ihren Körper anfassten, um dann ihren Bauch zu öffnen: «Alles ganz normal, aber es kam mir auf urtümliche Weise auch irgendwie sexuell vor.»
Und da sind wir nun, auf dieser scheinbar unfruchtbaren Insel in «Évolution», wo die Frauen sich wie eine Sekte von Aliens gebärden. Sie waschen ihre Knaben mit Meerwasser und geben ihnen einen grünlichen Matsch zu essen. Später werden die Buben in ein modriges Spital geführt, wo die Frauen sie unters Messer legen, um ihnen – ja, was eigentlich? Diese Knaben, sind das überhaupt ihre Söhne? Und die Frauen, sind das auf Grund gelaufene Wasserwesen, die das Rätsel einer landtauglichen Fortpflanzung zu ergründen suchen? Auch hier: Wer Anleitungen zu den unwirklichen Szenerien braucht, die sich da entfalten, wartet vergeblich; den Weg durch den Film muss man schon selber finden.
Erst recht sperrig war dann «Earwig», das Kammerspiel über das Mädchen mit den schmelzenden Zähnen. Doch die Wartezeit wird jedes Mal kürzer, der neuste Film von Lucile Hadžihalilović ist bereits abgedreht – diesmal inspiriert von einem klassischen Märchen: «La tour de glace» soll eine freie Version der «Schneekönigin» von Hans Christian Andersen sein, mit Marion Cotillard in der Hauptrolle.
Unterschätzt
In dieser Rubrik würdigen wir Filme, die zu Unrecht vergessen gingen oder nicht die Aufmerksamkeit erhielten, die sie verdienen. Bisher erschienen: «Das Höllentor von Zürich» von Cyrill Oberholzer und Lara Stoll («wobei» 1/20), «Showgirls» von Paul Verhoeven («wobei» 1/21), die tschechische TV-Serie «Die Besucher» von Ota Hofman und Jindřich Polák («wobei» 1/22), «The Fountain» von Darren Aronofsky («wobei» 1/23) und «Something Wild» von Jack Garfein («wobei» 1/24).