Polizeigewalt in Lausanne: «Es geht um unsere Körper, unsere Würde»
Rassistische Polizeichats und der Tod eines Jugendlichen erschüttern die Schwarze Community in der Westschweiz. Der Rassismusexperte Chancel Soki sagt, «die Antwort der Strasse» sei längst fällig gewesen.

an Marvin Shalon Manzila vom Samstag.
Am Ende herrscht am Marsch zum Gedenken an Marvin Shalon Manzila letzten Samstag die Stimmung einer Beerdigung. Eine Frau singt ein Lied in Lingala, einer Amtssprache der Demokratischen Republik Kongo, aus der seine Familie stammt. Freunde strecken weisse Rosen in die Luft, aus Boxen tönt der von Marvin geschriebene Song «Adieu». Davor sind rund tausend Menschen durch Lausanne marschiert, um dem Siebzehnjährigen, der vorletzte Woche bei einer Verfolgungsjagd mit der Polizei ums Leben kam, die letzte Ehre zu erweisen. Friedlich, würdevoll – wie es sich die Familie nach den Ausschreitungen wünschte. Politisch aber ist auch diese «Marche blanche»: Marvins Onkel ruft am Unfallort ins Mikrofon: «Das ist nicht natürlich, so etwas darf nicht mehr passieren.» Eine Freundin der Familie bricht am Mikrofon zusammen: «Ich kannte Marvin seit Geburt, wir müssen uns vereinen, das war das letzte Mal!»
WOZ: Chancel Soki, warum hat gerade Marvins Tod in Lausanne so viel Wut ausgelöst?
Chancel Soki: Marvin war ein Kind dieser Stadt, viele junge Menschen identifizieren sich mit ihm. Zudem verbreitete die Polizei nach dem Unfall Falschinformationen: Sie behauptete zuerst, Marvin sei aufgefallen, da er in gefährlicher Art in die falsche Richtung gefahren sei. Auch bei den Zeitangaben gab es Unstimmigkeiten. Das hat viele Jugendliche im Gefühl bestärkt, dass hier etwas nicht stimmt. Was man im grösseren Kontext auch verstehen muss: Alle diese Jugendlichen erleben Diskriminierung und Gewalt durch die Polizei. Seit Marvins Tod berichten uns viele von ihren Erfahrungen. In den sozialen Medien kursieren Videos von solcher Polizeigewalt. Für diese Jugendlichen ist klar: «Ich hätte an Marvins Stelle sein können.» Kommt dazu, dass vor zwei Monaten unter ähnlichen Umständen bereits eine Vierzehnjährige ums Leben gekommen ist, die viele ebenfalls gekannt haben.
Chancel Soki
Der Freiburger Chancel Soki (35) ist Berater für Soziales und Kultur und präsidiert das antirassistische Bündnis À qui le tour, einen Zusammenschluss junger Menschen afrikanischer Herkunft, der sich 2016 in Lausanne nach dem Tod des Kongolesen Hervé Mandundu bei einem Polizeieinsatz gegründet hat. Das Bündnis setzt sich gegen strukturellen Rassismus ein. Es fokussiert dabei auf antirassistische Bildungsarbeit und begleitet von Rassismus betroffene Menschen.

WOZ: Viele würden wohl einwenden: Sein Tod war einfach ein tragischer Unfall, zumal er ja auch einen Helm trug – und damit gar nicht als Schwarzer Jugendlicher zu erkennen gewesen sei.
Chancel Soki: Wir haben das letzte Video davon, wie Marvin an jenem Tag angezogen war. Er kleidete sich wie die Jugendlichen aus dem Viertel und war typischerweise mit dem Scooter unterwegs. Da sind Verbindungen schnell hergestellt. Für mich geht es im Fall von Marvin zentral um die Frage, wer für die Polizei verdächtig ist und wer nicht. Die Polizei hat rasch den gestohlenen Scooter ins Feld geführt, aber als die Beamten die Verfolgung aufnahmen, wussten sie noch nicht, dass der Scooter gestohlen war. Dann argumentiert die Polizei, man sei Marvin nur gefolgt, weil er geflohen sei – deshalb habe man ihn verdächtigt, in einen Raubüberfall verwickelt gewesen zu sein, über den die Polizisten zu dem Zeitpunkt informiert worden seien. Den Eltern hingegen teilte die Polizei unmittelbar nach dem Unfall mit, sie habe im Quartier Kontrollen gemacht und Marvin sei ihnen dabei verdächtig vorgekommen.
WOZ: Hat er sich tatsächlich gar nicht verdächtig gemacht?
Chancel Soki: Als Schwarzer Mann bist du andauernd verdächtig, auch ich werde immer wieder kontrolliert, einfach so. Das ist auch die Parallele zwischen allen Fällen, bei denen in den letzten zehn Jahren in der Waadt Schwarze Männer von der Polizei getötet wurden: Sie waren verdächtig. Im Kanton starben seit 2016 bei Polizeikontrollen nur Schwarze Menschen, im Schnitt einer im Jahr. Bei Marvin stellt sich mir auch die Frage: Warum musste man die Verfolgungsjagd so weit treiben? Dazu kommt: Selbst wenn er sofort geflohen sein sollte, ist das in einem grösseren Kontext zu verstehen. Auch ich habe sofort Angst, wenn ich der Polizei begegne.
WOZ: Wenige Tage nach Marvins Tod kamen extrem rassistische und sexistische Chats der Lausanner Polizei an die Öffentlichkeit. Was hat das bei der Schwarzen Community ausgelöst?
Chancel Soki: Das hat uns nicht überrascht. Wir prangern schliesslich genau diesen Rassismus seit Jahren an. Es gibt zahlreiche Medienberichte, selbst ein Bericht der Uno hat sich mit dem Rassismus bei der Lausanner Polizei befasst. Und auch einige mutige Polizist:innen haben gekündigt und die Zustände kritisiert. Vielleicht erinnern Sie sich, dass beim Prozess gegen die Polizisten, die in den Fall Mike Ben Peter verwickelt waren [der Nigerianer Mike Ben Peter starb 2018 bei einer Polizeikontrolle in Lausanne, Anm. d. Red.], ein Polizist mit einem rechtsextremen Abzeichen erschien. Als Aktivist:innen darauf aufmerksam machten, hatte das keinerlei Folgen. Einer der Polizisten, die in den Fall verwickelt waren, war im Juni auch beim Einsatz dabei, der mit dem Tod der vierzehnjährigen Scooterfahrerin endete. Heute wissen wir, dass dieser Polizist auch in den rassistischen Chatgruppen aktiv war.
WOZ: Ihre Organisation begleitet in der Westschweiz Betroffene von rassistischen Polizeipraktiken. Was sind deren alltägliche Erfahrungen mit der Polizei in Lausanne?
Chancel Soki: Aktuell begleiten wir etwa einen 22-jährigen Mann, der grundlos von der Polizei kontrolliert wurde und schliesslich eine Kopfverletzung davontrug. Er hatte gerade seine Freundin nach Hause gebracht und seinen Ausweis nicht bei sich. Schliesslich wollte er ein Ausweisbild auf seinem Handy zeigen und fragte die Polizisten: «Warum kontrollieren Sie mich überhaupt?» Es gibt Videos davon, wie aggressiv die Polizisten darauf reagierten. Sie warfen ihn zu Boden, legten ihm Handschellen an, er schlug mit dem Kopf auf dem Boden auf, erlitt eine Platzwunde. Allein in den letzten drei Monaten haben wir insgesamt vier ähnlich gelagerte Fälle begleitet. Viele Jugendliche sagen uns: «Sie behandeln uns wie Scheisse, sprechen mit uns, als wären wir völlig wertlos.»
WOZ: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum die Brutalität der Polizei in Lausanne besonders gross zu sein scheint?
Chancel Soki: Polizeigewalt gibt es überall. Lausanne sticht vielleicht deshalb heraus, weil die Polizei hier in den letzten Jahren stark auf den Kampf gegen Strassendealer fokussiert hat. Das hat zu einer Zunahme von Gewalt gegenüber rassifizierten Personen geführt, die sich in prekären politischen Situationen mit illegalen Geschäften über Wasser halten müssen. Polizist:innen werden ausgebildet, um Jagd auf Schwarze Dealer zu machen. In ihrem Kopf werden alle Schwarzen zu Dealern und alle Dealer zu Schwarzen. Dabei weiss jeder, der wie ich in Lausanne studiert hat, dass der Dealer eben meist weiss ist und sich ungestört mit einer Tasche voller Drogen in der Metro bewegen kann.

WOZ: Ihre Organisation führt auch Antirassismustrainings mit Polizeieinheiten durch …
Chancel Soki: Nicht nur mit der Polizei. Wir geben auch Kurse für Sozialpädagog:innen, Schulen oder die öffentliche Verwaltung. Dabei stellen wir immer wieder fest, dass wir in einem Land leben, das nicht über die Analyseraster verfügt, um Rassismus zu verstehen – weil wir ihn nie ausreichend definiert haben. Bei der Polizei dreht sich im Grunde alles um kognitive Verzerrungen, die dazu führen können, dass man in der entscheidenden Sekunde falsch reagiert, weil man den Schwarzen Mann eben als Gefahr betrachtet.
WOZ: Wie offen zeigen sich die Polizeien für solche Kurse?
Chancel Soki: Wir haben in der Stadt Fribourg damit begonnen, wo der Kommandant sehr offen war. Später haben auch Genf und Lausanne mit uns kooperiert, immer auf Ebene der Weiterbildungsverantwortlichen. Wir konnten zwei, drei Mal im Jahr solche Kurse veranstalten. Das reicht natürlich nicht. Damit ändert man nicht jahrelange Polizeipraktiken. Bemerkenswert ist, dass genau Lausanne die Kooperation 2023 eingestellt hat. Es gab keine offizielle Erklärung dazu. Es lag wohl daran, dass wir die Polizei nach der Tötung von Mike Ben Peter laut kritisiert hatten. Ich sagte schon damals: «Tötet ihr uns weiter, wird die Strasse irgendwann reagieren.» Genau das ist jetzt passiert.
WOZ: Nach den jüngsten Enthüllungen wächst der politische Druck gegenüber der Stadtpolizei Lausanne. Was sind nun Ihre Forderungen?
Chancel Soki: In Lausanne braucht es eine komplette Neustrukturierung der Polizei, von oben bis unten. Alle Verantwortlichen müssen zurücktreten. Über Lausanne hinaus müssen wir die Ausbildung von Polizist:innen reformieren. Rassismus darf nicht nur in ein paar wenigen Kursen abgehandelt werden. Es braucht Supervisionen, Praxisstudien und dringend die Einführung einer externen juristischen Fachstelle für Fragen des Rassismus. Und Fälle von Polizeigewalt müssen künftig extern untersucht werden. Vor allem müssen die Behörden uns Rassismusexpert:innen endlich in die Debatte einbeziehen. Denn es geht um unsere Körper, unsere Würde. Wir haben wie alle anderen Bürger:innen das Recht, geschützt zu werden.
WOZ: Und die Unruhen in Lausanne: Gehen die weiter, wenn die Politik nicht ausreichend reagiert?
Chancel Soki: Viele Jugendliche sagen uns: «Man hat uns gehört, jetzt hören wir auf. Wir haben getan, was wir tun mussten, jetzt müsst ihr übernehmen.» In vielen Medien wurden diese Jugendlichen als kleinkriminelle Banlieuekids ohne Botschaft dargestellt. Dabei haben sie ihre Botschaft mit den einzigen Mitteln auf die Strasse getragen, die sie hatten. Sie sind nicht rücksichtslos vorgegangen. Sie haben keine Autos angezündet, keine Geschäfte oder Schulen zerstört. Und vor allem gab es keinen einzigen Verletzten.