Literatur: Naserümpfen im Feuilleton

Nr. 35 –

Die Geschichte weitererzählen – oder gar von der anderen Seite: In Fanfiction-Texten lässt sich erträumen, was den Leser:innen in den Originaltexten fehlt.

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Harry Potter ist ein Mädchen. Sie hat das schon immer gewusst, aber keinen Ausdruck dafür gefunden. Bis sie sich an Hermine wendet. Hermine findet sofort Zaubersprüche, die Harry helfen könnten, sich als Mädchen zu präsentieren. Nur: Alle sind vom Zaubereiministerium zensiert.

So beginnt die Fanfiction «Transfigure Me Mommy», die ein:e User:in auf der Plattform archiveofourown.org publiziert hat, einem Internetforum für Fanfiction, wo Autor:innen unter Pseudonymen ihre Werke hochladen. Leser:innen kommentieren, rezensieren, geben Sterne. Das Phänomen ist riesig: Allein auf archiveofourown.org haben acht Millionen User:innen über fünfzehn Millionen Werke veröffentlicht, in über 70 000 Fandoms, also Fangemeinschaften, nach denen sich die Texte ordnen. Als Inspiration für solche Fandoms dienen beispielsweise Sherlock Holmes, Harry Potter, diverse Figuren aus Mangas oder dem Marvel-Universum oder auch reale Personen wie K-Pop-Stars.

Nabokov 2.0

Christine Lötscher, Professorin für Populäre Literaturen und Medien an der Universität Zürich, interessiert sich schon lange für Fanfiction – hin und wieder schreibt sie auch selbst welche, wenn sie etwas nicht loslässt. «Es ist ein anderer Modus des Lesens», findet sie, «ein spielerischer Zugang, eine andere ästhetische Erfahrung, die viel kollektiver und partizipativer ist.» Dieser Modus werde oft als zu emotional, zu «weiblich» und naiv abgetan. Lötscher stört diese Abwertung von Fanfiction, von Unterhaltungsliteratur generell. Wieso nicht auch Fanfiction zu Joan Didion schreiben, findet Lötscher. «Wichtig ist die Liebe zum Stoff, das Fansein. Dieses Gefühl haben auch Leute, die bildungsbürgerlich konsumieren – nur lesen die dann Aufsätze im ‹New Yorker›.»

«Dass viele neue Texte von alten inspiriert sind, wird im professionellen Literaturbetrieb kaum angesprochen», sagt Marion Regenscheit, Leiterin des Festivals Buch Basel, «dabei sind Schreiber:innen immer auch Leser:innen.» Die Vorstellung von Autor:innenschaft als individuelle schöpferische Tätigkeit eines «Genies» halte sich hartnäckig, obwohl diese erst in der Romantik entstanden sei. Vor einem Jahr hat Regenscheit gemeinsam mit dem Theaterautor Lucien Haug das Magazin «Danke» initiiert, ein Literaturmagazin, das Fanfiction in den etablierten Literaturbetrieb tragen soll. Man wolle professionelle Autor:innen ermutigen, «in einen fremden Text hineinzugehen und dort herumzuwohnen», formuliert es Haug.

Die Fanfiction-Geschichten in den Onlineforen drehen sich oft um Sexualität, Begehren und Fantasien. Sehr beliebt ist etwa die sogenannte Slash-Fiction mit gleichgeschlechtlichen Charakteren, die als Liebespaar imaginiert werden. «Fanfiction ist trashig. Das ist auch okay. Es ist ein Space, um Dinge auszuprobieren», sagt Simoné Goldschmidt-Lechner, Autor:in des diesen Frühling erschienenen Buches «Nerd Girl Magic», das sich aus queerer und nichtweisser Perspektive mit der Nerdkultur beschäftigt. In Fanfictions gehe es ums Ausspielen von Spannungen zwischen Figuren, auch ums Entdecken von eigenem Verlangen. Denn als Fan sei man nicht fern vom Text, sondern mittendrin.

Ein utopischer Ort

Für die zweite Ausgabe des «Danke»-Magazins hat Goldschmidt-Lechner eine Fanfiction zu Erich Kästners «Fliegendem Klassenzimmer» geschrieben. Martin und Sebastian, in der Originalgeschichte Rivalen, treffen als Erwachsene wieder aufeinander, und zwischen ihnen entwickelt sich eine sexuelle Spannung. «Enemies to Lovers» ist ein typisches Fanfiction-Grundmuster – die Genres «Young Adult» oder «New Adult», die seit ein paar Jahren den Buchmarkt umkrempeln, bedienen es sehr erfolgreich. Monetarisieren lassen sich aber meist nur heterosexuelle Geschichten. Die Romantrilogie «Fifty Shades of Grey» etwa, die als «Twilight»-Fanfiction auf einem Onlineforum begann und deren erster Band im Selbstverlag erschien, machte deren Autorin E. L. James zeitweise zur bestverdienenden Schriftstellerin weltweit. Allein im Erscheinungsjahr des zweiten und dritten Bands – nun beim Traditionsverlag Vintage Books – verdiente James 95 Millionen Dollar.

Als Fanfiction-Fan steht Goldschmidt-Lechner der Monetarisierung dieses eigentlich von Kapital gänzlich unabhängigen Genres kritisch gegenüber. «Es geht im ursprünglichen Sinne der Fanfiction nicht um Monetarisierung. Es geht überhaupt nicht um irgendeine Form von Kapital. Selbst das soziale Kapital, das man sich erschreibt, ist nicht auf eine Person zurückzuführen, weil die Texte fast ausschliesslich unter Pseudonym erscheinen.» Für Goldschmidt-Lechner ist Fanfiction ein utopischer queerer Ort, wo erträumt werden kann, was in den Originaltexten fehlt.

Kritische Revisionen dieser Art finden auch im regulären Literaturbetrieb statt. Etwa in «Bye Bye Lolita» (2024) von Lea Ruckpaul, die hier Vladimir Nabokovs Roman «Lolita» um die Perspektive der Titelfigur erweitert. Bei Ruckpaul ist es nicht mehr Nabokovs Erzähler Humbert Humbert, der das Wort hat, sondern die erwachsene Dolores Haze, die von dem furchtbaren Missbrauch erzählt, den sie durch diesen erlebt hat, wobei der Roman gleichermassen feministische Kritik und Fanfiction ist. Auch Percival Everetts nimmt in «James» (2024) einen Perspektivenwechsel vor und erzählt «Die Abenteuer des Huckleberry Finn» aus Sicht des versklavten Jim. In beiden Fällen erhalten abgewertete Figuren eine eigene Stimme. Die Um- und Weiterschreibung wird so zu einem wichtigen Werkzeug in feministischer und antirassistischer Literatur, das aktuell viele Werke prägt. Als Fanfiction wird das jedoch selten bezeichnet.

Fanfiction als Widerstand

Auf archiveofourown.org finden sich über zehntausend Ergebnisse zu «trans Harry Potter» – eine Form des Widerstands gegenüber der britischen Autorin J. K. Rowling, die sich seit einigen Jahren transfeindlich positioniert und dafür ihr Vermögen und ihre Reichweite einsetzt. Auf Reddit suchen queere Fans nach Empfehlungen für die besten Werke. Viele von ihnen haben Harry Potter aus ihrem Leben verbannt, vermissen ihr Fansein aber. In Fanfiction sehen sie eine Möglichkeit, ihre Zugehörigkeit zu bewahren.

In den Foren entbrannte aber auch die Diskussion, ob Fanfiction ein legitimes Mittel des Widerstands sei. Bringt nicht jede Auseinandersetzung mit Harry Potter Rowling Aufmerksamkeit, die sich monetarisieren lässt? Oder kann das Fandom als vernetztes Kollektiv auch Macht gegenüber der Potter-Autorin entwickeln?

Kritik und Liebe: Diese «doppelte Emotion», wie Lucien Haug und Marion Regenscheit es formulieren, gehöre zur Fanfiction. Zwischen festgefahrenen Positionen könne sie ein produktiver Zwischenweg sein. Haug gefällt, dass die Kritik durch Literatur selbst geschieht: «Man ist nicht im Publikum und ruft irgendwas, sondern geht aufs Spielfeld und macht mit.»

Wie die User:in, die «Transfigure Me Mommy» geschrieben hat. Das Ende der Geschichte ist noch offen, denn es sind erst die ersten acht Kapitel geschrieben und publiziert. Klar ist aber: Hermine hat, wie immer, einen Plan. Sie bricht in die verbotene Abteilung der Bibliothek ein, um an die Zaubersprüche heranzukommen. Und so beginnt Harrys komplizierter – und erotischer – Weg durch die Transition.