Pop: Halluzinieren im Orchestergraben

Nr. 49 –

Klassische Musik ist ein beliebtes Beruhigungsmittel für die Gen Z. Die Streicher auf dem neuen Album von Rosalía fahren aber ganz anders ein.

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Rosalía im Video zu «Berghain»: sie sitzt auf einem Spitalbett und um sie herum spielt ein Orchester
Holt sie die Jungen zurück in die Orchestersäle? Rosalía im Video zu «Berghain». Still: Sony Music

Hier fehlt doch was. Wer «Lux», das neue Album von Rosalía, in einer Streaming-App hört, stösst bald auf Lücken: Drei Stücke fehlen, nur in den physischen Versionen ist das Album komplett. So muss man es sagen, denn die drei sind nicht etwa Bonustracks, sondern wirken durchaus integral. In «Novia Robot» besingt Rosalía etwa eine erleuchtete taoistische Priesterin aus dem Mittelalter sowie eine biblische Prophetin, auf Mandarin und Hebräisch. Dazu schlängeln sich anzügliche Streicher, begleitet von Flamencoklatschern, um einen elektronischen Beat. Doch dieses Vergnügen muss man sich in einem Fan-Upload auf Youtube suchen, oder dann eben auf Doppelvinyl.

Die Bevorteilung von LP und CD ist durchaus bewusst. Rosalía versteht ihr neues Album auch als Gegenprogramm zur dopamingetriebenen Hektik im Netz, wie sie der «New York Times» erklärte. Sie wolle Konzentration einfordern, dem Publikum etwas zumuten.

Mystik in dreizehn Sprachen

Das ist nicht zu überhören, dieser Pop ist formal komplex, stilistisch vielseitig, die Soundpalette eindrücklich. Es finden sich darauf zwar noch Spuren vom Cutting-Edge-Flamenco, der Rosalía berühmt gemacht hat, oder von den agitierten Latinbeats ihres letzten Albums, «Motomami» (2022), doch vor allem stellt «Lux» einen starken Bruch mit all dem dar. Am auffälligsten dabei: Klassische Orchestermusik prägt das Album, gespielt vom London Symphony Orchestra.

Es ist eine Art spirituell-feministisches Konzeptalbum, erzählt entlang von Mystikerinnen und weiblichen Heiligen aus verschiedenen Religionen und Epochen. Rosalía singt in dreizehn Sprachen, wobei Spanisch zentral bleibt. Und über epische Themen wie göttliche Erlösung oder die Spannung zwischen irdischen Freuden und Leiden (das Album beginnt mit einem Stück, das übersetzt «Sex, Gewalt und Reifen» heisst, Rosalía ist nämlich leidenschaftliche Motorradfahrerin).

Klingt erst mal furchtbar schwer, hört sich dann aber gar nicht so an: Wendig und mühelos klingen diese Songs, obwohl in ihnen so viele Ideen verdichtet sind, und oft zum Weinen schön. Manchmal auch lustig, einmal hört man Rosalía nach einem Anschwellen der Streicher giggeln, als wollte sie das Pathos brechen. Und in «Mio Cristo Piange Diamanti», einer auf Italienisch gesungenen Arie, kommentiert sie, nachdem das dramatische Finale abfällt: «That’s going to be the energy.»

Mit dem Fokus auf grosse Bögen und Versenkung statt auf einzelne, situativ gedachte Songs entzieht sie sich einigen mächtigen Tendenzen des Streamingzeitalters. Überraschende Wendungen und eine enorme Dynamik widersetzen sich dem, was als Spotifycore bekannt geworden ist: eine wohltemperierte, wolkig klingende Musik, die sich scheinbar beliebig einsetzen lässt. Bewusst gegen solche Tendenzen zu komponieren, ist natürlich auch wieder sehr zeitgemäss – insbesondere, so scheint es, wenn dabei ein klassisches Orchester zum Einsatz kommt.

Gibt es so etwas wie einen Klassiktrend? Auch wenn der Sound des Eurovision Song Contest seine Eigenwilligkeiten hat, ist es doch auffällig, dass die letzten beiden Ausgaben mit Nemos «The Code» und JJs «Wasted Love» jeweils Songs kürten, die sich emphatisch bei klassischer Musik und Operngesang bedienten. Und bei «Bridgerton», 2024 die populärste neue TV-Serie, wird die Kostümoptik mit einem Soundtrack aus bekannten Popsongs kombiniert, interpretiert von einem Streichquartett.

Gute Laune dank Vivaldi

Auf jeden Fall scheint Orchestermusik längst kein exklusives Vergnügen der Älteren und Bürgerlichen mehr zu sein. Eine vom Royal Philharmonic Orchestra aus London in Auftrag gegebene, «national repräsentative» Studie ergab: 65 Prozent der Befragten unter 35 hören regelmässig klassische Musik, Tendenz klar steigend, während dies bei den über 55-Jährigen nur noch 57 Prozent tun. Am häufigsten hören die Jüngeren klassische Musik bei Kochen, Arbeiten und Fitness (noch zehn Prozent geben an, sich beim Sex von einem Orchester begleiten zu lassen).

Die Antworten deuten auf eine gewisse Funktionalität hin. Sucht man bei Streamingdiensten, stösst man schnell auf Playlists wie «Beruhigende Klassik» oder «Klassische Musik zum Lernen oder Einschlafen». Schön eingefangen hat diesen Trend die Tiktokerin Tani Lior (@bytanilior) in einem viralen Video; während sie sich hinter dem Steuer sichtlich vergnügt zum «Frühling» aus Vivaldis «Vier Jahreszeiten» bewegt, steht da: «Hör Barockmusik statt Rap, um deine Laune zu heben.»

Ob die Gen Z auch in die Orchestersäle strömt? Vielleicht hilft Rosalía da mehr. Diesen Gedanken hatte wohl Kornelius Paede, Chefdramaturg für Musiktheater am Staatstheater Kassel, als er sich im Netz euphorisch über «Berghain» äusserte. Der dichte, dramatische Song, in dem Rosalía mit opernhaftem Gesang beeindruckt, bevor die Popikone Björk auftritt, war die erste Single aus «Lux». Darüber schrieb Paede etwas zugespitzt: «Der Song hat mehr für die Oper getan als jedes Spielzeitmotto in den letzten zehn Jahren.»

Interessieren könnte den Dramaturgen auch die Entwicklung von Charli XCX. Wie Rosalía scheint die Britin, die 2024 mit dem grellen Dancepop auf «Brat» und einem zugehörigen Style für Aufsehen sorgte, eine musikalische Kehrtwende zu vollziehen – mit mehr Klassik. Anfang Jahr erscheint ihr Soundtrack zum Film «Wuthering Heights» von Regisseurin Emerald Fennell («Saltburn»). Ein Trailer zeigt: Kostüme auch hier, aber das wird kein anständiger Historienstoff, sondern Verstörungskino.

Fennells Filmwelt, so erklärte Charli XCX, habe sie zu Musik inspiriert, die «unverkennbar roh, wild, sexuell, gruselig und britisch» klingen sollte, oder: «elegant und brutal». Die letzten zwei Begriffe hat sie sich bei John Cale geborgt, der damit einst die Musik der von ihm mitgegründeten Band The Velvet Underground beschrieb. Und in «House», einem von zwei bereits erschienenen Tracks des Soundtracks, spricht Cale nun über unheimlich brummende Streicher ein Gedicht. Bald kommen verzerrte Sounds hinzu, ein gleissender Drone, dann zu krachendem Industrial die schmerzhaft überdrehte Stimme von Charli XCX.

Wie einst Björk und Kate Bush

Es ist ein ungleich komplexerer Einsatz klassischer Orchesterinstrumente, als wenn diese nur dazu dienen sollen, historische Tableaus zu untermalen oder Emotionen zu regulieren. Tatsächlich gibt es eine Geschichte, die von solchen Trends aus der Gegenwart wegführt. Sie handelt von grossen Popkünstlerinnen, die auf herausragenden Alben auf klassische Instrumente zurückgegriffen haben. Stichwort «Wuthering Heights»: Aus der Perspektive der Protagonistin des gleichnamigen Romans von Emily Brontë von 1847 hat Kate Bush 1977 mit achtzehn Jahren ihren gleichnamigen Song geschrieben. Trotz seiner Komplexität wurde dieser zum ersten vollständig von einer Frau geschriebenen Nummer-eins-Hit.

Beim Onlinemagazin «Pitchfork» hat ein Kritiker auf diese Geschichte von Popautorinnen hingewiesen, die gerade bei ihren Heartbreak-Alben mit klassischer Instrumentierung arbeiten (auch durch «Lux» spukt eine Trennung): von Kate Bushs «Hounds of Love» (1985) über Joanna Newsoms «Ys» (2006) und Björks «Vulnicura» (2015) bis zu FKA Twigs’ «Magdalene» (2019). Rosalía nennt Bush und Björk als ihre grössten Vorbilder, hätten diese doch vorgeführt, was Pop alles sein könne.

Die Kunst von «Lux» zeigt sich auch darin, dass Streicher und Bläser nicht nur anreichern und dramatisieren, dem Pop also zudienen, sondern sich an manchen Stellen auch selber ein bisschen verwandeln. Zu hören etwa am Schluss von «Reliquia», wenn eine Streicherwand hinter einem zerhackten Beat zu flimmern beginnt. Oder in «Porcelana», wo die tiefen Bläser plötzlich klingen wie ein Basssynthesizer. Ein bisschen Halluzinieren tut der Klassik gut.

Album-Cover «Lux» von Rosalía
Rosalía: «Lux». Columbia / Sony Music. 2025.