Rosalía: Eine Cantaora in Versace

Nr. 12 –

Reggaeton, der wie Kunstmusik klingt und dabei völlig wahrhaftig: «Motomami», das neue Album von Rosalía, schlägt Brücken, die man nicht für möglich gehalten hat.

Zwischen Herz und Ironie: Rosalía verbindet Pop und Flamenco wie keine andere. Foto: Gustavo Valiente, Getty

Keine Frage, «Saoko» ist ein Banger: ein Stück Pop, das schamlos auf den Körper spielt, einfach mal alle off the wall! Doch bei Rosalía klingt so ein Banger immer zugleich nach Kunstmusik – und die körperfixierte Dynamik wird dadurch nicht etwa ausgebremst, sondern noch gesteigert.

Der Motor des Tracks ist ein Reggaeton-Beat in klassischem Sound, der umso wuchtiger einfährt, weil er hier nur in der zweiten Reihe spielt; im Zentrum bannt eine derbe Bassline die Aufmerksamkeit. Mit ihrer samtenen Stimme speit Rosalía scharfe Raps, die dort am meisten einfahren, wo sie digital irritiert werden. Dann fährt ein Free-Jazz-Piano für ein paar Sekunden alles herunter, bevor der Bass wieder zubeisst: Ein ständiges Beschleunigen und Ablenken – das Adrenalin zirkuliert.

So beginnt Rosalía ihr neues Album «Motomami». Bloss etwas mehr als zwei Minuten dauert «Saoko», doch man bekommt dabei schon ein gutes Gefühl für die bestechende Balance, die Rosalía auf diesem Album erreicht: zwischen Tradition und Erneuerung, Verspieltheit und Präzision, Herz und Ironie, Strasse und Kunstschule.

Enger abgesteckt verfolgte Rosalía die Ambition der Erneuerung schon, als sie tatsächlich noch an der Musikhochschule von Barcelona eingeschrieben war. Dort reichte sie als Abschlussarbeit ihr zweites Album, «El mal querer», ein, das ihr 2018 mit einem Majorlabel im Rücken das Tor zur globalen Popwelt öffnete. Nicht selbstverständlich mit einem an einen Roman aus dem Mittelalter angelehnten Konzeptalbum über eine toxische Beziehung, das im Flamenco beheimatet ist.

Faszinierend an «El mal querer» war Rosalías umwerfender Gesang, aber auch die minimalistischen elektronischen Beats, die sie mit Produzent El Guincho ohne grosses Budget dazubaute. Die zirkulierenden Gitarrenfiguren und die scharfen Claps bekamen darin eine technoide Eleganz, die den Flamenco zwar weit von seinem gewohnten Folksetting wegholten, ihn aber deswegen nicht weniger eindringlich beschworen.

Kritik der Aneignung

Flamenco im Format einer global ausstrahlenden Popmusik, das hatte es so vor Rosalía noch nicht gegeben. «El mal querer» erhielt dadurch eine Aura des Singulären. In den folgenden Jahren begann Rosalía, in einzelnen Kollaborationen vielfältige stilistische Gebiete auszuloten. Sie veröffentlichte Tracks mit Reggaeton-Stars wie J Balvin, Ozuna und Bad Bunny, mit den Elektronik-Avantgardist:innen Oneohtrix Point Never und Arca, mit Popgrössen wie Billie Eilish und James Blake. Ideen daraus sind auch auf «Motomami» zu hören, wo sie plötzlich als Knotenpunkte ihres eigenen musikalischen Netzes erscheinen. Dieses Album wirkt nicht wie eine eklektische Zusammenführung populärer Stile, sondern wie der triumphale Streich einer Popautorin, die unterschiedlichste Strömungen und ihr prominentes Personal innerhalb ihres eigenen Sounds zu mobilisieren weiss.

Davon zeugt etwa der Auftritt von The Weeknd. Nachdem Rosalía in einem Remix von dessen Megahit «Blinding Lights» noch Englisch gesungen hatte, bleibt hier wenig übrig von The Weeknd, wie man ihn kennt. Rosalía lässt ihn nicht nur karibischen Bachata auf Spanisch singen, er lässt sich gar zu einem typischen Latin-Vibrato hinreissen.

In guter Popironie handelt «La fama», das Rosalía anständig Streams beschert, vom Ruhm als schlechter Liebhaber. Auch in «Bulerías», einem der wenigen klaren Flamenco-Momente des Albums, behauptet sie ihre Autonomie als Künstlerin: Eine richtige Cantaora, eine Flamencosängerin, sei sie, singt Rosalía, nur eben eine im Trainingsanzug von Versace. Sie steckt ein paar Einflüsse zwischen der Cantaora Niña Pastori und der Rapperin M. I. A. ab, bevor der Autotune-Effekt ihre Stimme zerfranst.

Kulturelle Wurzeln, das ist ein Thema bei Rosalía. Als weisse Europäerin, die mit Reggaeton gross rauskommt, trifft sie potenziell auch die Kritik der Aneignung: Im Zuge des riesigen Erfolgs würden die afrokaribischen und afropanamaischen Ursprünge des Reggaeton überschrieben, sagen manche, es wiederhole sich gar die rassistische Repression gegen diese einst widerständige Strassenmusik, jetzt einfach mit ökonomisch-kulturellen Mitteln. Rosalía denkt die Geschichte und die Ränder des Reggaeton auf «Motomami» mit. «Saoko» etwa ist eine eindeutige Hommage an «Saoco» (2004), einen Klassiker von Daddy Yankee und Wisin. Auf «Motomami» tritt auch die dominikanische Rapperin Tokischa auf, deren schonungslose, sexualisierte Texte in ihrem Heimatland auch schon zensiert wurden.

Auf strahlendem Sockel

Schwer zu entscheiden, ob dieser Auftritt nun als Ehrerbietung an die Schwarze Rapperin zu sehen ist oder sich Rosalía vielmehr mit dem verruchten feministischen Image von Tokischa schmückt. Jedenfalls ist Rosalía weit entfernt vom jüngsten musikalischen Tiefpunkt des weissen Kolumbianers J Balvin, gegen den der Aneignungsvorwurf wiederholt gerichtet wurde. Sein Song mit dem US-DJ Skrillex lässt Reggaeton klingen wie stumpfen EDM und heisst zudem noch «In da Getto». Im Vergleich dazu ist der situative und auf den Klang fokussierte Umgang mit Reggaeton, den man auf «Motomami» hört, von einem ganz anderen Geist.

Was Reggaeton nämlich ausmacht, ist neben einem bestimmten Rhythmus genauso eine Palette von Sounds, in vielen Fällen sogar eine Handvoll Drumloops, die DJs in Panama und Puerto Rico in den neunziger Jahren in Umlauf brachten. Der Beat in «Saoko» klingt wie einer dieser Loops, ebenso derjenige im zauberhaften «Candy». Die zarte Stimme von Rosalía ist dicht ans Ohr gemischt, als würde sie einem zuflüstern – dahinter öffnet sich, unter anderem durch ein Sample des britischen Produzenten Burial, eine beseelte Tiefe rund um diesen Beat, als würde dieser auf einen strahlenden Sockel gehoben.

Ein ähnlicher Effekt stellt sich in «Diablo» ein, mitgeschrieben und -gesungen von James Blake. Die Drumsounds sind nur während einer Minute des Songs zu hören und werden im Zusammenspiel mit Rosalías Stimme stufenweise moduliert. In diesen Momenten wird das, was Reggaeton ausmacht, nicht nur verwendet und angezapft, sondern richtiggehend inszeniert.

Als Tokischa kurz vor dem Schluss des Albums auftritt, geschieht etwas anderes als bei The Weeknd: Rosalía lässt sich ein. Der Beat von «La combi Versace» ist aus dem Dembow entlehnt, einem in der Dominikanischen Republik populären, mit Reggaeton verwandten Genre. Dembow ist meist schneller und härter als Reggaeton, die Raps sind monoton und hypnotisch.

Während «Linda», der erste gemeinsame Song von Rosalía und Tokischa von letztem Jahr, ganz nach Dembow klang, legt Rosalía in «La combi Versace» ihren melodiös hingehauchten Autotune-Gesang über diesen Beat, bevor die beiden sich gegenseitig die Zeilen zuwerfen. Tokischa herrlich schnoddrig, Rosalía weich und flink – am Schluss gehts einfach um Attitude.

Rosalía: Motomami. Columbia. 2022