Durch den Monat mit Christine Goll (Teil 4): Warum wechselten Sie auf die parlamentarische Ebene?

Nr. 25 –

Der Vater gewerkschaftlich organisiert, die Mutter politisch ­interessiert: 
Da engagierte sich auch Christine Goll schon früh. Den Wechsel 
von den Neuen ­Sozialen Bewegungen ins Parlament hat sie durchaus als Ergänzung ­verschiedener Bewegungsformen empfunden.

Christine Goll: «Viele der heutigen sozialen und politischen Errungenschaften haben wir dem erheblichen Druck der Strasse zu verdanken, etwa die AHV oder das Frauenstimmrecht.»

WOZ: Frau Goll, dieses Jahr liessen sich am Frauenstreiktag vom 14. Juni viel weniger Frauen mobilisieren als noch vor zwanzig Jahren. Trotzdem sagten Sie danach, Sie seien mit der Beteiligung zufrieden. Woher diese Zufriedenheit?
Christine Goll: Es ist klar, dass man grosse historische Ereignisse nicht einfach eins zu eins wiederholen kann. Daher hatte ich eigentlich mit noch viel weniger Leuten gerechnet. Ich glaube, man darf aber auch nicht unterschätzen, was die Frauenbewegung für das Bewusstsein gebracht hat, dass der Kampf noch nicht vorbei ist und wir uns weiterhin für unsere Ziele einsetzen müssen.

Und die Mobilisierung für diesen Kampf kann sich nicht auf einzelne Tage wie den 14. Juni beschränken. Das muss im Alltag passieren. Deshalb muss dies weiterhin das tägliche Brot der gewerkschaftlichen Bewegung sein.

Wann haben Sie selbst begonnen, Ihren Alltag politisch zu hinterfragen?
Eigentlich hat es zum Familienalltag gehört, dass wir über politische Fragen sprachen. Mein Vater war Drucker und gewerkschaftlich organisiert. Meine Mutter war zwar nicht organisiert, aber an politischen Fragen sehr interessiert. Sie arbeitete als Putzfrau, bis sie siebzig wurde.

Die wirkliche Politisierung setzte bei mir dann in der Mittelschule ein. Die Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten während der Ausbildung trafen uns sehr. Und so wehrten wir uns beispielsweise gegen den Hauswirtschafts­unterricht, die «Rüebli-RS», die wir absolvieren mussten, während die Knaben in ein Industriepraktikum gehen konnten.

Es waren aber auch gewisse Lehrerinnen und Lehrer, die mich politisch prägten. Im Deutschunterricht konnten wir mit unserer Lehrerin Alice Schwarzers «Der kleine Unterschied und seine grossen Folgen» von 1975 lesen. Und im Geschichtsunterricht beschäftigten wir uns eingehend mit der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung. Das faszinierte mich.

Für mich war klar, dass ich mich gewerkschaftlich organisieren wollte. Am 1. Mai 1978 trat ich dann dem VPOD bei.

Obwohl die Gewerkschaften damals nicht gerade feministisch waren .
Genau. Ich war daher gleichzeitig auch in der Frauenbefreiungsbewegung aktiv, der FBB. Zusammen mit weiteren Frauen der FBB, die in verschiedenen Gewerkschaften organisiert waren, gründeten wir die Gewerkschafterinnengruppe Zürich. Wir richteten die gewerkschaftliche Kontakt- und Informationsstelle für Frauen ein mit dem Anspruch, die Gewerkschaften verstärkt zu verpflichten, eine frauengerechte Politik zu machen. Und gleichzeitig sollten mit diesem Beratungsangebot auch mehr Frauen für die Gewerkschaften gewonnen werden.

Nach einigen Jahren Gratisarbeit muss­ten wir das Projekt hinschmeissen, weil die Zürcher Gewerkschaftspatriarchen uns nicht finanziell unterstützen wollten.

Ihr politisches Engagement begann in den Neuen Sozialen Bewegungen. Anfang der neunziger Jahre kandidierten Sie zum ersten Mal für den Nationalrat auf der Liste der FraP! («Frauen macht Politik!»). Warum haben Sie damals auf die parlamentarische Ebene ge­wechselt?
Das lief nicht einfach so. Im Wyberrat, der aus der Volks-Uni entstanden war – beides politische Projekte, die ich mitbegründet habe – führten wir spannende und auch sehr kontroverse Diskussionen: Wo engagieren wir uns? Innerhalb oder ausserhalb der politischen Institutionen? Ich hatte immer für die Verknüpfung der beiden Wege plädiert. Aus diesen Diskussionen des Wyberrates entstand 1986 die FraP!, für die ich dann 1987 in den Kantonsrat gewählt wurde.

Mir ist aber auch heute noch klar, dass sich ohne die Verknüpfung der ausserparlamentarischen und der institutionelle Ebene in diesem Lande nichts bewegt. Viele der heutigen sozialen und politischen Errungenschaften haben wir dem erheblichen Druck der Strasse zu verdanken, zum Beispiel die AHV oder das Frauenstimmrecht. Und beides brauchte einen enorm langen Atem.

Sie waren vier Jahre im Kantonsrat und ganze zwanzig Jahre im Nationalrat. Was tun Sie danach?
Ich werde mich ganz bestimmt nicht aus der Politik verabschieden. Aber wie und wo ich mich weiterhin politisch engagieren werde, weiss ich noch nicht. Das ist auch gut so, ich will mich nicht gleich wieder mit neuen Projekten zuschütten. Aber völlig klar ist: Ich bleibe Basismitglied der Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei.

Sie pendeln jeden Tag zwischen Zürich und Bern. Was begleitet Sie auf den Zugreisen?
Bücher, Zeitungen oder Arbeit. Zur Entspannung lese ich am liebsten Kriminal­romane. Ich fahre beispielsweise völlig ab auf die Krimis von Hakan Nesser oder Henning Mankell. Oder die Marseille-Trilogie von Jean-Claude Izzo! Die habe ich in einem Schnurz verschlungen. Aber meistens ist es dann doch die Arbeit, die mich auch während der Zugfahrt be­schäftigt.

Christine Goll (54) war von November 2003 bis Dezember 2009 Präsidentin der Gewerkschaft VPOD und ist noch bis Herbst 2011 Zürcher SP-Nationalrätin.