Tocotronic: Im Zweifel für den Zweifel

Nr. 4 –

Mit «Schall und Wahn» schliesst die Band ihre Berliner Trilogie ab. Prägende Themen darin sind Macht und Selbstauflösung. Sänger Dirk von Lowtzow über die Musik und den neuen Geist des Kapitalismus.


«In Partylaune haben wir uns diese Narretei erlaubt», entschuldigt sich Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow. Mit ihrem gewohnten Hang zur grossen Geste hatte die Band angekündigt, das neue Album sei der Schlusspunkt einer Berliner Trilogie. Diese umfasst «Pure Vernunft darf niemals siegen» (2005), «Kapitulation» (2007) und eben «Schall und Wahn», die letzte Woche erschienen ist. Ein Scherz zu Ehren von David Bowie sei diese Behauptung, sagt von Lowtzow. Der Popstar hatte Ende der siebziger Jahre seine legendäre Trilogie in den Berliner Hansa-Tonstudios aufgenommen, in denen jetzt auch Tocotronic dreimal zugegen waren. «Aber sicher», sagt von Lowtzow, «hat die Behauptung auch einen wahren Kern.»

Ob die Zusammenhänge eingeplant wurden oder erst im Nachhinein ausgelegt werden, spielt keine Rolle. Schon auf ihren ersten Schrummelplatten mit scheinbar identitätsstiftenden Alltagsbetrachtungen waren Tocotronic eine Band von hoher Künstlichkeit und Witz. Ihr Werk, nach mittlerweile neun Alben kann man das Wort durchaus verwenden, ist ein Spiegellabyrinth: Die Sache von Tocotronic ist das Fährtenlegen wie das Spurenverwischen.

«Wir sind vier glühende Dilettanten ohne umfassende Bildung. Als Fans liegen wir auf der Lauer», sagt der Sänger, neben dem Jan Müller (Bass), Arne Zank (Schlagzeug) und Rick McPhail (Gitarre) zur Band gehören. Das zitathafte Arbeiten werde nur im deutschsprachigen Raum als aussergewöhnlich wahrgenommen, meint er – mit Verweis etwa auf The Go-Betweens, die schon im Bandnamen einen Romantitel tragen.

Die Stimme leihen

Die Zusammenhänge zwischen den drei Alben liegen zuerst in der Musik: 2004 wurde der gebürtige US-Amerikaner Rick McPhail in die Band aufgenommen, seither hat die Band zu einem geschmeidigen Gitarrenklang gefunden. Die Vorbilder sind unter anderen Mitte der achtziger Jahre zu suchen: bei Bands wie The Smiths, My Bloody Valentine oder Eleventh Dream Day. Und wie Rick McPhail den Glanz gebracht hat, so brachte Produzent Moses Schneider den Hall: Die Aufnahmen zu den drei Alben entstanden unter live-ähnlichen Bedingungen.

Eine «Soundmigration» verbinde sie, sagt von Lowtzow. Ausgehend von «Pure Vernunft darf niemals siegen» haben Tocotronic immer mehr Klangräume geöffnet. Auf «Schall und Wahn» treibt der Sog von dunklen, lärmigen Kammern hinauf in helle, lichte Säle. Kräftig, aber nie aufgeputscht. Dazu beigetragen haben, mit Streichern, der in Berlin lebende australische Neue-Musik-Komponist Thomas Meadcroft und, mit Bläsern, Ebba Durstewitz und Jakobus Siebels von der viel zu wenig bekannten Band JaKönigJa. Stark ist auch die thematische Verbindung der Platten: Sie sind geprägt von Wörtern wie Folter, Terror, Festung, Gift, Angst oder Harmonie. Es geht um Macht und Kontrolle, auch im privaten Bereich, bis in die Liebe. Als Ausweg scheinen die Zwischenstufen auf: Unvernunft, Kapitulation. Kurz, die Selbstauflösung hin zu mehreren, zu vielen Stimmen und Körpern.

Auffällig wandlungsfähig ist dabei von Lowtzows Gesang: Jede Silbe nimmt mit seiner Betonung ihre eigene Wendung, Freund und Feind leiht er die Stimme, um schliesslich in «Die Folter endet nie» wie der heilige Sebastian alle Pfeile auf sich zu ziehen: «Die Folter endet nie, wir werden dennoch siegen. Wir haben kein Gefühl mehr, wenn wir auf der Streckbank liegen. Eine Lanze für den Widerstand, ein Tanz für die Ästhetik. Eine Flanke gegen die Gegebenheiten, von heute an leben wir ewig.»

Der neue Geist des Kapitalismus

Was waren die Beobachtungen, die zu diesen Texten führten? Von Lowtzow spricht über den neuen Geist des Kapitalismus, wie ihn die SoziologInnen Luc Boltanski und Eve Chiapello in ihrem gleichnamigen Buch beschrieben haben: Die Transformation von emanzipatorischen Bewegungen zu Nutzen und Diensten der Wirtschaft. Bei einst positiven Wörtern wie «Teamwork», «Kreativität» oder «Flexibilität» packe einen heute das neoliberale Gruseln. «Die Umwandlung begann sicher früher, aber die Nullerjahre waren die Phase, wo sie alle zu spüren bekamen: den Appell zur ständigen Arbeit an sich selbst hin zur kreativen Selbstverwirklichung.»

Optimistischer Versuch

«Mach es nicht selbst», heisst der Song dazu: «Was du auch machst, mach es nicht selbst, auch wenn du dir den Weg verstellst. Was du auch machst, sei bitte schlau, meide die Marke Eigenbau.» Die Biederkeit des Heimwerkers wird mit jener der NetzwerkerInnen verglichen, im Videoclip zum Song fackeln sich Baumarkt-Maskottchen gegenseitig ab. Sie grinsen dazu freundlich-böse.

Bei der simplen Absage bleibt es aber nicht. «Es geht immer auch um die eigene Beschädigung, um die eigenen Verstrickungen», sagt von Lowtzow. Songs wie «Das Blut an meinen Händen» oder «Stürmt das Schloss» zur Festung Europa handeln davon. Künstlerisch interessiere ihn die Diagnose stärker als der Aufruf zum Widerstand, meint der Sänger. Die direkte Ausformulierung klinge schnell abgegriffen oder gar theologisch. Er erwähnt das Buch «Der kommende Aufstand» eines französischen AutorInnenkollektivs, das von der Polizei fälschlicherweise mit Anschlägen auf Zugstrecken in Verbindung gebracht wurde. Auch in diesem Buch überzeugte ihn die Analyse mehr als die Schlussfolgerungen. Trotzdem lassen es Tocotronic darauf ankommen: «Die Folter endet nie» gerät beinahe zum religiösen Kampflied. Ein gelungener, eindringlicher, optimistischer Versuch über eine mögliche Form künftiger Kritik.

Trotz aller Abgesänge werde hier, so schrieb Aram Lintzel in der deutschen Tageszeitung «taz», «Pop noch als ein Medium für Dissidenz» begriffen. Mit den jüngsten Platten der Goldenen Zitronen («Die Entstehung der Nacht»), von Ja, Panik («The Angst and The Money») und Fehlfarben («Glücksmaschinen») gibt es dafür wieder ein Umfeld.

Was eine Trilogie, auch eine ausgedachte, zwangsläufig mit sich bringt: dass einige Songs abfallen. «Gesang des Tyrannen» heisst so einer auf dem neuen Album, bei dem sich Tocotronic selbst nachahmen. Man merkt es leider. Und dann ist da umgekehrt «Im Zweifel für den Zweifel» diese Ballade, die alles zusammenfasst: «Im Zweifel für den Zweifel, das Zaudern und den Zorn. Im Zweifel fürs Zerreissen der eigenen Uniform. Im Zweifel für die Bitterkeit und meine heissen Tränen. Im Zweifel für Zerwürfnisse und für die Zwischenstufen.»

Auf dem Cover ist ein bunter Blumenstrauss, das Foto stammt von den niederländischen Künstlern Jeroen de Rijke und Willem de Rooij. Als hätte ihn jemand als Geschenk auf die Türschwelle gestellt: «Schall und Wahn» ist eine Bemächtigung, neuen Mut zu fassen.

Tocotronic spielen am 7. März in der Roten Fabrik Zürich.

Tocotronic: «Schall und Wahn». Universal.