Atomkraft: Pfusch am Sklavenreaktor

Nr. 8 –

In Finnland wird das erste neue Atomkraftwerk Europas hochgezogen. Gravierende Probleme führen zu Verzögerungen und immer höheren Kosten. Nun berichten polnische Arbeiter, wie es auf der Baustelle zugeht.


Es ist eine Baustelle von babylonischem Ausmass. Über 4000 Arbeiter aus sechzig Ländern sind in Olkiluoto an der finnischen Westküste damit beschäftigt, das erste neue Atomkraftwerk Europas hochzuziehen – den sogenannten Europäischen Druckwasserreaktor (EPR), den der französische Konzern Areva als Generalunternehmen errichtet. Es sollte ein Vorzeigeprojekt werden, entwickelte sich aber zunehmend zum Alptraum – auch für die Arbeiter.

Ein Grossteil der Beschäftigten stammt aus Polen. Andrzej Miciak zum Beispiel war dabei, als man den Betonbau hochzog. «Auch wenn wir sahen, dass es Mängel gab und zum Beispiel Verbindungsteile zwischen Stahlträgern fehlten, mussten wir weiter Beton hineingiessen», berichtet er. Manchmal hielten die Schweissnähte nicht. Das hätte man flicken müssen, sagt Miciak, doch dafür war keine Zeit. Es gab Inspektoren, die kontrollieren sollten, ob alles korrekt gemacht wird. Sie schauten aber nicht nur weg, sie ordneten sogar an, die fehlerhaften Stellen mit Beton zuzuschütten, sagt der polnische Arbeiter. Er habe das selber gesehen. Ein grober Fehler sei das gewesen, einer, der das Erdungssystem beeinträchtig habe – und das sei sicherheitsrelevant. Schliesslich baue man hier ein Atomkraftwerk, da sollte alles perfekt und sicher sein. Aber «die Baustelle ist zu gross, um alles richtig zu machen», sagt Miciak. Es herrsche Chaos.

Andrzej Miciak ist nicht der Einzige, der über Schlampereien berichtet. Greenpeace Finnland hat einen polnischen Journalisten beauftragt, der mit mehreren Arbeitern, die in Olkiluoto beschäftigt waren, Interviews führte. Zwei der Befragten gaben unter ihrem richtigen Namen Auskunft, vier weitere fürchteten jedoch die Öffentlichkeit und wollten lieber anonym bleiben. Greenpeace hat sämtliche Interviews aufgezeichnet, Abschriften dieser Gespräche liegen der WOZ vor – und die Statements sind beunruhigend.

Viel Stress, viele Mängel

Der Bau von Olkiluoto 3 (OL3) war 2006 begonnen worden. Das Atomkraftwerk sollte das modernste der Welt werden und 2009 den Betrieb aufnehmen. Die finnische Atomsicherheitsbehörde Stuk musste jedoch bereits 2007 intervenieren, weil gravierende Mängel aufgetaucht waren. Zum Beispiel hatte Areva für das Fundament den falschen Beton verwendet. Das führte zu einem mehrwöchigen Baustopp; das Fundament musste zum Teil wieder aufgebaggert werden, zum Teil wurde einfach festerer Beton draufgekippt. Auch das, so Arbeiter bei der Greenpeace-Befragung, wurde äusserst schludrig getan.

Laut Stuk wurden bis heute 3000 Baumängel registriert – Baumängel, die vermutlich zu einem grossen Teil auf Stress und Hektik zurückzuführen sind. Zbigniew Mulczynski war als Vorarbeiter in Olkiluoto. Wer nicht schnell genug arbeitete, bekam zu hören: «Entweder du bekommst das rechtzeitig hin, oder das ist das Ende für dich, und wir schicken dich heim», zitiert er die Chefs. Wenn unter solchem Druck gearbeitet werde, gebe es zwangsläufig Fehler – Fehler, die man hätte korrigieren können und müssen. Doch auch dazu fehlte die Zeit.

Zudem gab es anfangs keine genauen Pläne, weil Areva mit dem Bau begonnen hatte, bevor die Anlage fertig entworfen war. Es sei öfter vorgekommen, dass man mit einer Arbeit begonnen habe und wieder aufhören musste, erzählt Zbigniew Mulczynski, weil die Details nicht geklärt waren und die Pläne nicht übereinstimmten oder sich gar widersprachen.

Es sei auch unmöglich gewesen, mit den Leuten von Areva zu reden: «Sie behandelten uns wie Bauern in einem Schachspiel oder noch schlechter.» Die meisten Areva-Kader seien aus Deutschland gekommen, und die hätten die Polen gehasst, sagt er: «Undenkbar, dass die mit uns gesprochen hätten.» Andere Arbeiter berichten, sie seien sich wie Sklaven oder wie Illegale vorgekommen.

Doppelt so teuer

OL3 wird eine Leistung von 1600 Megawatt erreichen; es ist damit fast doppelt so leistungsfähig wie das AKW Leibstadt. Gut möglich, dass auch in der Schweiz ein solcher Reaktortyp gebaut wird. Areva hat dem finnischen Energieunternehmen Teollisuuden Voima Oyj (TVO) die Anlage zu einem fixen Preis von drei Milliarden Euro verkauft. Aufgrund der zahlreichen Verzögerungen und der sicherheitstechnischen Anpassungen, die nötig waren, dürfte das AKW das Doppelte kosten. Es wird frühestens 2012, vermutlich aber später ans Netz gehen.

Areva baut aber nicht selber, sondern hat unzählige Subunternehmen verpflichtet; insgesamt sind über 1500 Firmen am Bau beteiligt. So waren die von Greenpeace befragten Arbeiter bei der Atlanco Rimec Group beschäftigt, die darauf spezialisiert ist, für die europäische Bauindustrie Zeitarbeiter zu organisieren. Sie rekrutiert ihr Personal vor allem in Portugal und Osteuropa. Ursprünglich war die Firma in Britannien domiziliert, inzwischen ist sie – vermutlich aus steuertechnischen Gründen – nach Zypern umzogen. Andrzej Miciak berichtet, normalerweise hätten sie zehn Stunden am Tag gearbeitet, manchmal aber auch zwölf oder vierzehn Stunden, oft an den Wochenenden. Überstunden erhalten die Beschäftigten nur selten ausbezahlt.

Wer krank ist, wird gefeuert

Miciak unterzeichnete seinen Arbeitsvertrag mit Rimec in Britannien. «Als ich dann vor Ort war, musste ich einen anderen Vertrag unterschreiben, der schlechter war und zum Beispiel keine bezahlten Ferien mehr enthielt.» Zbigniew Mulczynski erzählt dieselbe Geschichte. Auch sein Vertrag wurde abgeändert, auch er hatte keine bezahlten Ferien. Wenn Leute krank geworden seien, habe Rimec sie entlassen, obwohl das rechtswidrig sei. Die Firma hätte zwar die Beiträge für die Krankenversicherung entrichten müssen, tat dies aber offenbar nicht.

Einer der Arbeiter, der anonym bleiben wollte, erzählt im Detail, was ihm geschah, als er krank wurde: «Sie sagten mir, ich könne nach Polen zurückgehen, um mich auszukurieren – dort bekäme ich alles, was ich brauche.» Doch zurück in der Heimat stand er vor dem Nichts: «Ich war krankgeschrieben, also konnte ich keine Arbeit suchen. Arbeitslosengeld konnte ich auch nicht beantragen, da ich ja offiziell angestellt und krankgeschrieben war. Behandeln lassen konnte ich mich auch nicht, da ich keine Krankenversicherung hatte.»

Vom offiziellen Stundenlohn von 24 Euro bekommen die Arbeiter oft nur 8 Euro ausbezahlt; den Rest halten die Subunternehmen zurück – angeblich, um Krankenversicherung, Steuern, Sozialversicherungen oder Gewerkschaftsbeiträge zu zahlen. Doch Rimec habe – so erzählen die Polen – des Öftern die Gelder nicht weitergeleitet, was manche Arbeiter an den Rand des Ruins trieb: Liefert nämlich ein Unternehmen die Steuergelder nicht ab, greifen die Behörden direkt auf die Angestellten zurück. So kam es, dass etliche Olkiluoto-Arbeiter plötzlich mit Steuerforderungen in Höhe von 10 000 oder 20 000 Euro konfrontiert waren und lange mit den Subunternehmen ringen mussten, damit dieses doch noch die Gelder herausrückte.

Doch kein Schnäppchen

«Helsingin Sanomat», eine der grössten finnischen Tageszeitungen, konfrontierte TVO-Projektleiter Jouni Silvennoinen mit den Aussagen der polnischen Arbeiter. Zum Vorwurf der schlampigen Betonarbeit sagte Silvennoinen, er höre das zum ersten Mal, das klinge nach einer schweren Beschuldigung. Dann fügte er aber ausweichend hinzu, eigentlich seien die Kontrollen so organisiert gewesen, dass man die Mängel hätte bemerken müssen. Dass es Sprachprobleme gebe, streitet er nicht ab, doch seien diese übertrieben dargestellt: «Die Unternehmen können ja kein Interesse haben, jemanden anzustellen, der nicht versteht, was er zu tun hat.»

TVO glaubte lange Zeit, mit dem Areva-Angebot ein Schnäppchen gemacht zu haben. Ein billiges Atomkraftwerk lässt sich aber nur mit billigen Arbeitskräften bauen. Wie kompetent und sprachkundig sie sind, ist da offenbar Nebensache.



Fehler im System

Neben den Fertigungsschwierigkeiten weist der neue Reaktortyp EPR ein Konstruktionsproblem auf, das noch viel gravierender ist. Das normale Betriebssystem des Reaktors und das Sicherheitssystem sind so stark miteinander vernetzt, dass es zur Katastrophe kommen könnte: Das Notfallsystem soll ja dann einspringen, wenn das normale Betriebssystem ausfällt. Doch so, wie der Reaktor konzipiert ist, ist es höchst unwahrscheinlich, dass das Notfallsystem das überhaupt kann.

Diesen Mangel kritisiert nicht etwa Greenpeace; die Kritik kommt von den Atomaufsichtsbehörden von Finnland, Frankreich und Britannien (in Frankreich ist ebenfalls ein EPR-Reaktor im Bau, die britische Regierung will gleich vier AKWs dieses Typs bauen lassen). Die Atomaufsichtsbehörden haben in einem gemeinsamen Schreiben die Beseitigung dieses Fehlers verlangt – sonst dürfe dieser Reaktortyp nicht ans Netz gehen.

Barack Obama setzt auf Atomstrom

18,5 Milliarden US-Dollar wollte der frühere US-amerikanische Präsident George Bush in die Atomindustrie stecken. Sein Nachfolger übertrifft ihn nun, obwohl er während des Wahlkampfs das Gegenteil versprochen hatte: Barack Obama will das Atomförderprogramm fast verdreifachen. Vor einer Woche hat Obama eine erste Unterstützung für den Bau von zwei neuen Meilern im Bundesstaat Georgia bekannt gegeben. Es wären die ersten neuen AKWs, die seit dem Unfall von Three Mile Island vor dreissig Jahren in Angriff genommen werden. Das Projekt soll einen staatlichen Kredit in Höhe von 8,3 Milliarden US-Dollar erhalten. Geplant sind zwei Reaktoren Westinghouse AP 1000. Die Atomaufsichtsbehörde Nuclear Regulatory Commission hatte diesem Reaktortyp bislang die Zulassung verweigert, weil er schwere Sicherheitsmängel aufweist.

Die Umweltorganisationen kritisieren Obamas Entscheid: Es dürfe nicht sein, dass die Atomindustrie günstige Kredite erhalte, für die die SteuerzahlerInnen auch dann noch bürgen müssen, wenn die Projekte floppen. Ansonsten aber stösst Obamas Beschluss auf wenig Opposition. Die «New York Times» begrüsste die Kreditzusage begeistert. Wenn die Banken nicht mitmachten, so das Blatt, müsse das halt der Staat tun.

Allerdings müssen sich die US-Behörden noch mit einem alten Problem herumschlagen: Sie wissen nicht, wohin mit dem Atommüll. Während Jahren hatte man auf Yucca Mountain gesetzt; man wollte den strahlenden Abfall im Berg vergraben, der auf dem früheren Atomtestgelände in der Wüste Nevadas liegt. Der Ort ist geologisch jedoch höchst ungeeignet, weshalb Obama Anfang Februar das Projekt definitiv abbrechen musste. Eine alternative Lösung gibt es nicht. Microsoft-Gründer Bill Gates glaubt allerdings, eine Antwort gefunden zu haben. Vor wenigen Tagen sagte er in einer Rede: Mehr noch als eine Impfung gegen Malaria oder Aids wünsche er sich billige, saubere Energie – und meinte damit den Atomstrom. Nach einem Bericht des Fernsehsenders CNN steckt Gates Millionen in das Projekt «Terra Power», dessen ExpertInnen an einem neuen Reaktortyp forschen, der mit nuklearem Abfall betrieben werden soll.

Dahinter steckt die altbekannte Idee eines atomaren Perpetuum mobiles: Frankreich wollte sie mit dem Schnellen Brüter Superphénix verwirklichen und ist grandios gescheitert. Der Brüter, der nicht weit von Genf steht, verschlang Unsummen, funktionierte aber nie richtig und war hochgefährlich. 1997 ging er endgültig vom Netz.