Das AKW zu Babel

Nr. 49 –


Olkiluoto ist eine Insel und ein schlechter Platz für Protestaktionen. Rein zufällig kommt hier niemand vorbei. Ein Dutzend Elche lebt auf dem abgelegenen Eiland an der Westküste Finnlands. Ansonsten halten sich auf Olkiluoto vor allem Menschen auf, die an die Zukunft der Atomenergie glauben und daran arbeiten. Auf der äussersten Westspitze der Insel stehen zwei Atomkraftwerke, daneben erheben sich achtzehn Kräne, von denen der grösste mit Leichtigkeit einen Jumbojet heben könnte. Hier baut das französische Energieunternehmen Areva das erste neue AKW in Europa, Olkiluoto 3, unter ExpertInnen nur OL3 genannt.

Sechs Greenpeace-AktivistInnen sind an Pfingsten auf den grössten Kran geklettert und haben ein Transparent entrollt, auf dem steht: «French Nuclear Disaster». Andere AktivistInnen ketteten sich auf der einzigen Zufahrtsstrasse fest. Für ihren Protest gibt es zahlreiche Gründe. Das gigantische Projekt gleicht einem Turmbau zu Babel. Es herrscht ein Chaos, das bei einem Jahrhundertbau überrascht.

Angeblich sicherer

Käthe Sarparanta glaubt an den neuen Reaktor. Sarparanta ist Ingenieurin und arbeitet seit 25 Jahren bei TVO, dem finnischen Energieunternehmen, das die Atomkraftwerke auf Olkiluoto betreibt und den neuen Reaktor bauen lässt. Seit einem Jahr ist Sarparanta zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit. Sie entschuldigt sich, dass der Zutritt aufs Baugelände an diesem Tag Mitte Mai nicht möglich ist. Die Ingenieurin empfängt im neuen Besucherzentrum, einem eleganten Rundbau mit Blick auf eine malerische Bucht. Das Wetter ist fantastisch, das Zentrum leer. Sarparanta liefert geübt die Eckdaten. OL3 sei eine rein private Investition, sagt sie. Diese Feststellung ist ihr wichtig, auch wenn sie nicht ganz stimmt, sind doch die OL3-Investoren mehrheitlich im Besitz der öffentlichen Hand.

Man habe dieses AKW – das unter dem Namen Europäischer Druckwasserreaktor (EPR) vermarktet wird – zu einem fixen Preis von drei Milliarden Euro gekauft, sagt Sarparanta. Das französische Unternehmen Areva, das früher Framatom hiess, baut den nuklearen Teil, die deutsche Siemens den nichtnuklearen. Das AKW wird eine Leistung von 1600 Megawatt haben – die beiden bestehenden Olkiluoto-Reaktoren bringen es zusammen auf etwa gleich viel.

Sarparanta sagt, ohne OL3 könne Finnland das Kioto-Protokoll nicht einhalten. Auch das stimmt nicht ganz. Man hatte dem Parlament vorgerechnet, ein neues AKW käme das Land billiger, als wenn der CO2-Ausstoss mit Ener- giesparen und erneuerbaren Energien reduziert würde – weil das Angebot von Areva sehr günstig war. Ein eigentliches Schnäppchen, da Areva wie Siemens mit OL3 kein Geld verdienen, sondern Europa beweisen wollen, dass eine neue Atomzeit angebrochen ist. Sarparanta zählt die Vorteile des Reaktors auf. Ein neuer, angeblich viel sichererer Typ, der erste der sogenannten «dritten Generation». Er habe ein doppeltes Containment, sagt sie; damit ist die Hülle um den Reaktor gemeint, die radioaktive Stoffe zurückhalten soll, falls mal etwas passieren sollte. Ihr könne nicht mal ein grosses Verkehrsflugzeug etwas anhaben. Jedes Sicherheitssystem sei vierfach vorhanden, sagt Sarparanta, zudem verfüge das AKW über einen «core catcher», ein spezielles Becken, das bei einem Super-GAU den geschmolzenen Reaktorkern auffangen könnte.

Gehetzt und gepfuscht

Vor zwei Jahren wurde mit dem Bau begonnen. Heute arbeiten laut Käthe Sarparanta 1400 Personen auf der Baustelle. In der intensivsten Bauphase Anfang 2008 dürften es etwa doppelt so viele sein. 1580 Unternehmen seien direkt oder als Zulieferer beteiligt, darunter 14 oder 15 aus der Schweiz.

Und dann sagt Sarparanta: «Tausend Personen sind noch daran, die letzten Anpassungen zu machen.» Es ist nämlich nicht so – wie man gemeinhin annimmt –, dass Areva ein fertig durchdachtes und geplantes Atomkraftwerk angeboten hat. Vielmehr wird gebaut und gleichzeitig zu Ende gezeichnet und entworfen, was bereits zu zahlreichen Problemen geführt hat. So wurden zum Beispiel in der Stahlinnenhülle des Containments am falschen Ort Löcher gebohrt, weil die Zulieferfirma mit veralteten Plänen arbeitete.

Vor einem Jahr publizierte die finnische Atomaufsichtsbehörde Stuk einen Bericht, der scharfe Kritik an den Bauherren enthält. Unter vielen anderen diese Punkte:

Areva arbeite mit Firmen zusammen, die überhaupt keine Erfahrung im AKW-Bau hätten.

Die Sicherheitskultur werde vernachlässigt: Den Zulieferfirmen werde nicht klargemacht, dass beim Bau eines Atomkraftwerkes besondere Sicherheitsanforderungen gälten; Mängel würden nicht weitergemeldet; die Kommunikationswege seien verworren.

Sprachprobleme auf der Baustelle führten zu Missverständnissen und Fehlern.

Wegen des fixen Preises stehe Areva unter enormem Kostendruck und wähle deshalb die günstigsten und nicht die besten Zulieferer.

Es werde mit veralteten Methoden gearbeitet. So wurden zum Beispiel wichtige, grosse Stahlteile von Hand zusammengeschweisst, was heute nicht mehr üblich ist.

Schon beim Betonfundament traten die ersten gravierenden Probleme auf. Das Betongemisch enthielt zu viel Wasser, was seine Festigkeit beeinflusst. Die Anlage soll sechzig Jahre in Betrieb sein, muss enormen Belastungen und aggressiven Chemikalien standhalten. Als die TVO festgestellt habe, dass mit dem Beton etwas nicht stimme, wurden die Arbeiten sofort für zwei Monate unterbrochen, sagt Sarparanta. Sie könne versichern, dass die TVO grossen Wert auf die Sicherheit lege, fügt sie hinzu. Zu den anderen Vorwürfen der Stuk will sie nichts sagen. Der Bau ist bereits achtzehn Monate in Verzug, was enorme Mehrkosten verursacht und den Zeitdruck erhöht.

Kein AKW wird besser sein

Lauri Myllyvirta, Atomkampagnenleiter von Greenpeace in Helsinki, sagt, viel sei versprochen worden, um das Par- lament von diesem neuen AKW zu überzeugen, doch kaum etwas habe man eingehalten. Die finnischen SteuerzahlerInnen müssten jetzt schon 300 Millionen Euro mehr ausgeben als geplant. Damit hätte man Kioto auch ohne OL3 einhalten können, sagt Myllyvirta. Auch habe Areva ein hochmodernes, sicheres AKW versprochen, doch nun erhalte Finnland ein Kraftwerk, das nicht einmal die Sicherheitsstandards der heutigen AKW einhalte. Was er damit meint, ist in einem Bericht des AKW-Experten Helmut Hirsch nachzulesen.

Hirsch arbeitet oft für die österreichische Regierung, schreibt für sie Gutachten über AKW im benachbarten Ausland und hat sich auch schon mit dem geplanten Schweizer Endlager für Atommüll beschäftigt. Soeben hat er im Auftrag von Greenpeace einen Report über Olkiluoto publiziert. Er schreibt darin, der Bruch der Hauptkühlwasserleitung gelte für die AKW, die in Finnland bereits am Netz sind, als «Auslegungsstörfall». Das heisst, dass die AKW einen solchen Unfall mit entsprechenden Sicherheitsmargen meistern können müssen, denn ohne Kühlwasser könnte es zu einer Kernschmelze kommen. Der neue Reaktor in Olkiluoto ist dafür nicht ausgelegt. Bei den Sicherheitsberechnungen geht man deshalb einfach davon aus, dass ein solch gravierender Unfall nicht passieren wird.

Hirsch kritisiert auch die Atomsicherheitsbehörde Stuk, die zwar auf zahlreiche Baumängel hinwies, am Ende aber immer wieder zulässt, dass die Sicherheitsanforderungen nicht erfüllt werden. Das beeinflusse die gesamte Sicherheitskultur: Wird einmal akzeptiert, dass die Richtlinien nicht eingehalten würden, sei es sehr schwierig, beim nächsten Problem auf ihnen zu beharren, konstatiert Hirsch.

Am Schluss warnt Hirsch vor der Annahme, bei den Problemen beim Bau von OL3 handle es sich quasi um Kinderkrankheiten, weil es «das erste seiner Art» sei. Fast ein Dutzend Firmen möchte zurzeit einen Reaktor der dritten Generation bauen. Aufgrund dieses Wettbewerbs würden pro Typ nur wenige Anlagen gebaut. «Jeder neue Reaktor, der in den nächsten Jahren gebaut wird, dürfte deshalb ‹der erste seiner Art› und mit denselben Problemen konfrontiert sein», schreibt Hirsch. Auch werde jedes neue AKW mit dem gleichen gewaltigen Kosten- und Zeitdruck zu kämpfen haben.

Die AKW-Verkäufer stecken in einem Dilemma. Hirsch drückt es gegenüber der WOZ so aus: «Vermutlich wäre es für Areva besser gewesen, dieses neue Vorzeige-AKW nicht zu einem fixen Preis zu verkaufen – das hätte den Kosten- wie den Zeitdruck weggenommen. Doch dann hätten die Finnen dieses neue AKW vermutlich nie gekauft.»